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Gemini Rebellion
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eBook491 Seiten6 Stunden

Gemini Rebellion

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Über dieses E-Book

„Machen Sie sich keine Sorgen, Sir. Wenn Sie eine Kasko haben, zahlt das sogar die Versicherung. In Ohio zählt das, glaub ich, wie ein Wildunfall.“ Russel sah den Cop entgeistert an. Die Gestalt am Straßenrand lag leblos unter der Folie, die in Wind und Regen flatterte.
Zum ersten Mal spürte er, was es wirklich bedeutete, eine legale ID zu besitzen. War das gerecht?
Plötzlich erschien ihm alles, was er herausgefunden hatte, in einem völlig anderen Licht. War ein unbedeutender Reporter wie er wirklich in der Lage die Menschheit vor sich selbst zu retten?

*

Wenn die Welt überbevölkert ist, Lebensmittel aus sterilen Farmen kommen und man zum Leben eine legale ID besitzen muss – welche Perspektiven bieten sich den Menschen dann noch?
In einer Zukunft, in der Städte zu Megaplexen zusammengewachsen sind, spielen Moral oder das Leben eines Einzelnen kaum noch eine Rolle, erst Recht nicht, wenn es darum geht, etwas viel Größeres zu verbergen. Der Reporter Russel Brand stößt auf ein finsteres Geheimnis und muss erkennen, dass auch sein Leben in Gefahr ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberTalawah Verlag
Erscheinungsdatum15. Aug. 2019
ISBN9783947550340

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    Buchvorschau

    Gemini Rebellion - Ingo Eikens

    Das altehrwürdige Steingebäude mit seinen gotischen Fenstern und Schnitzereien erinnerte Russel an die Feudalzeit. An Herrscher und Beherrschte, an große Fürsten und reiche Kaufleute. Und doch war es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Erinnerung an die alten britischen Gerichtsgebäude entworfen worden. Einem Sinnbild für Recht und Gerechtigkeit.

    Für das heutige Interview bot es eine spektakuläre Kulisse. Im begrünten Innenhof warfen die seitlichen Gebäude noch lange Schatten, aber das Hauptmotiv erstrahlte bereits in der aufgehenden Sonne. Etwas nervös nahm er das Mikrofon zur Hand, fuhr sich noch einmal durch die kurzen, braunen Haare und wartete gespannt auf die Geste des Kameramanns. Da war sie. Er wandte sich an seinen Interviewpartner.

    „Guten Morgen, mein Name ist Russel Brand von United American Networks. Ich stehe heute vor dem Sterling Law Building der renommierten Yale-Law School in New Haven zusammen mit dem Senator des Staates Connecticut, Mister Theodore Myers. Guten Morgen, Sir."

    „Guten Morgen, Russel. Ich freue mich, dass wir heute vor einem der bekanntesten Wahrzeichen unseres Staates miteinander sprechen können."

    „Vielen Dank für ihre Bereitschaft zu diesem Interview. Stimmt es, dass sie selbst hier studiert haben?"

    „Ja, das ist richtig." Der Senator zeigte im Blitzlichtgewitter sein werbewirksamstes Zahnpastalächeln. Jetzt nur keine Zeit verlieren, dachte er. Um den Politiker in aller Öffentlichkeit zu konfrontieren blieben ihm vielleicht nur wenige Sekunden, aber er hoffte, dass der Sender sensationsgeil genug war. Immerhin waren sie live.

    „Mister Myers. Die laufenden Verhandlungen über eine Legalisierung der neuesten Nahrungsmittelerzeugnisse aus genetisch verändertem Biomaterial schlagen derzeit große Wellen. Es wurde schon früher in vielen Reportagen auf die Risiken hingewiesen. Umso schlimmer empfinden Kritiker nun die erneuten Verhandlungen über eine Zulassung. Ist es nicht korrekt, dass sie als Befürworter von Gen-Food bereits mehrfach in der Vergangenheit mit ernsthaften Bedenken konfrontiert worden sind?"

    „Wissen Sie, Russel, die Debatte um Gen-Food zieht sich nun schon über Jahrzehnte hin. Innerhalb des letzten Jahrhunderts hat man immer wieder gegen die genetische Veränderung von Pflanzen gewettert, ohne sich auf die Vorteile einer derartigen Manipulation einzulassen. Wir sind heute der einhelligen Meinung, dass die genetische Mutation nicht mehr ist als eine Beschleunigung der natürlichen Evolution."

    „Und dennoch hat es heute wie damals immer wieder Hinweise gegeben, dass Gen-Food auch Risiken birgt. Insbesondere in der Form, wie wir es in den letzten zehn Jahren verstärkt gesehen haben. Sogar hier an der Yale Universität", unterbrach Russel und beobachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. Er deutete ein Lächeln an.

    Der Senator straffte sich und schwieg.

    „Der ausgeprägte Lobbyismus hat zu einer sinkenden Transparenz der Herstellungsverfahren für die Verbraucher geführt, was letztlich den Konzernen freie Hand bei der Generierung der Lebensmittel lässt. Mangelnde staatliche Sicherheitskontrollen führen uns in eine Situation, die den Normalbürger einer möglichen Gesundheitsgefahr aussetzt", fuhr Russel ungerührt fort.

    Myers schüttelte vehement den Kopf und schwenkte abwehrend die Hände. „So können Sie das nun auch nicht darstellen, die staatlichen Kontrollen für diese Produkte sind …"

    „Dann sind sie also nicht darüber informiert, dass es in der jüngeren Vergangenheit Krankheitsfälle gegeben hat, die sich unmittelbar mit Erzeugnissen der neuesten Gen-Food-Generation in Zusammenhang bringen lassen? Bedenkt man die weitreichenden Folgen, zöge das ernsthafte Konsequenzen für den Gen-Food-Sektor nach sich. Stimmen Sie dem zu?" Seine Frage durchschnitt den Einwand des Senators wie ein heißes Messer weiche Butter.

    Die Blitzlichter setzten für einen Moment aus. Myers begann sichtlich zu schwitzen. Russel war sich sicher, dass jetzt niemand mehr abbrechen würde. Das war es, was die Leute sehen wollten, die Chance, auf die er gewartet hatte – die Story, die ihn berühmt machen würde.

    Dutzende Mikrofone reckten sich den beiden entgegen. Myers Gesicht nahm eine rötliche Färbung an. Er räusperte sich und versuchte, eine Erklärung anzubringen.

    „Die Frage … die Frage zielt auf, äh … Einzelfälle genetischer Mutationen ab. Hierbei ist nicht erwiesen, dass Gen-Food für diese Vorfälle verantwortlich gemacht werden kann. Was genau soll …"

    „Dann bestreiten Sie, dass es Fälle gegeben hat, die zu Unfruchtbarkeit geführt haben?" Russel schoss die Frage ab wie ein Scharfschütze, der in der Deckung seines Gegners nach Schwachstellen sucht. Nicht argumentieren lassen – treib ihn weiter. „Oder ist es nicht so, dass die Risiken, die sich hinter der letzten Gen-Food-Generation verbergen vor dem Hintergrund dieser neuesten Erkenntnisse eine immense Gesundheitsgefahr darstellen? Es gibt sogar Stimmen, die vermuten, sie könnten die Veränderung des menschlichen Genoms bewusst in Kauf genommen haben."

    Die Reporter zwischen den Kameraleuten drängten sich nach vorn. Entweder redete sich Russel gerade um Kopf und Kragen, oder sie wurden soeben Zeugen der größten Story des Jahrhunderts. Myers schien nicht gewillt zu sein, weiter auf ihn einzugehen, und feuerte zurück.

    „Ihre Frage ist sensationsheischend und unprofessionell, Mister Brand. Man hat mir versichert, dass wir ein sachliches Interview zum Thema führen. Wenn Sie also sachliche Fragen aufbringen können bin ich gerne bereit, …"

    Der Panzer des Mannes bröckelte, und die Haie lechzten nach einer Story. Er spürte, dass er kurz davor stand, den Typen zu knacken. Er durfte Myers jetzt auf keinen Fall von der Angel lassen.

    „Ich glaube, unsere Zuschauer sind nicht der Meinung, dass die Gefährdung künftiger Generationen unsachlich ist. Sie sind also nicht bereit, vor der Öffentlichkeit die potentielle Gefährlichkeit des Gen-Foods der letzten Generation einzuräumen? Ist es nicht so, dass eben diese Haltung die Vermutung nahelegt, diese genetischen Mutationen seien einkalkuliert?"

    Erschrockenes Einatmen aus der Menge war zu hören. Die erneute Unterstellung war gewagt und schlicht ungeheuerlich. Er wusste es, sah aber keine andere Möglichkeit, den Politiker in der Defensive zu halten. Zu allem Übel fehlten Russel für diese Behauptung stichhaltige Beweise. Trotzdem wollte er den Senator irgendwie aus der Reserve locken. Das war Sensationsjournalismus, wie er ihn normalerweise verabscheute, aber eine zweite derartige Gelegenheit würde Russel so schnell nicht wieder bekommen.

    Myers schien sichtlich angeschlagen. Die Stille währte fast zwei Herzschläge. War er zu weit gegangen?

    „Ich … was?" Der Senator sah sich hilfesuchend nach jemandem außerhalb des Bildes um. Russel nahm sein Zögern als Ermutigung und setzte sofort nach.

    „Stimmen Sie mir zu, dass die Regierung sich hier mitschuldig an einer Gefährdung der Weltgemeinschaft macht, indem sie die Unfruchtbarkeit nachfolgender Generationen billigend in Kauf nimmt?"

    „Blödsinn …"

    „Dann wissen Sie also nichts von Fällen genetischer Veränderungen entlang der gesamten Ostküste, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf besagtes Gen-Food zurückführen lassen? Insbesondere bei Kindern und jungen Erwachsenen?"

    Fassungslosigkeit gepaart mit hilfesuchenden Blicken gaben Russel recht. Er hatte Oberwasser. Doch bevor er noch einmal nachsetzen konnte, hob jemand außerhalb des Bildes ein Schild hoch, und Myers atmete beinahe hörbar auf. Russel versuchte, mit einem Seitenblick zu entziffern, was darauf stand, doch da war das Schild bereits wieder verschwunden. So unsicher er eben noch gewirkt hatte, so plötzlich veränderte sich die Haltung des Politikers, und er strahlte beinahe wieder die gewohnte Stabilität aus. Mit ernster und wütender Miene nahm er ihn ins Visier.

    „Mister Brand, ihre Theorie entbehrt jeder Grundlage und ist obendrein schlecht recherchiert. Die Vorfälle an den Schulen haben erwiesenermaßen nichts mit der Gen-Food-Debatte zu tun, sondern werden von sensationsheischenden Reportern, wie Ihnen, nur als willkommenes Vorschubsargument benutzt. Renommierte Institute haben die Vorfälle gründlich untersucht und einhellig erklärt, dass das Gen-Food der letzten Generation keinerlei Einfluss auf den Gesundheitszustand der Menschen hat. Die vorliegenden Expertisen belegen das."

    Russel versuchte, eine Frage anzubringen, doch diesmal ließ ihn der Senator nicht zu Wort kommen. „Unser Senat hat sich monatelang mit dem Thema beschäftigt und die Ergebnisse aller Institute ausgewertet. Der Sonderausschuss, der über die Freigabe von genetisch veränderten Lebensmitteln berät, stand in Kontakt mit führenden Wissenschaftlern auf der ganzen Welt. Warum denken Sie also, hat sich dieses Gremium letztlich für eine Zulassung der neuesten Gen-Food-Generation entschieden?"

    Russel erstarrte. Für einen kurzen Moment setzte sein Herzschlag vor Wut aus.

    Weil sie alle gekauft sind.

    Das überlegene Lächeln im Gesicht seines Gegenübers überzeugte ihn davon, dass der Politiker dieses Mal ganz sicher nicht log.

    „Ganz recht, Mister Brand. Soeben ist die Entscheidung bekanntgegeben worden. Denken Sie nicht, dass angesichts einer Gefährdung, wie Sie sie beschreiben, dieses Gremium Abstand davon genommen hätte, die letzte Generation von Gen-Food in Umlauf zu bringen? Er wandte sich wieder an die Kameras. „Ladies und Gentlemen, die einzige Möglichkeit, die weltweite Nahrungsknappheit zu bekämpfen, besteht in der Sorge um die Menschen und der Versorgung mit Nahrungsmitteln aus sicheren Quellen. Die neuartigen Produktionsmethoden stellen eben dies sicher. Zu Russel gedreht fügte er hinzu: „Ich sehe in haltlosen Verschwörungstheorien, wie Sie sie propagieren, eine viel größere Gefährdung des Allgemeinwohls. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, meine Damen und Herren."

    Das folgende Blitzlichtgewitter und die aufgeregten Rufe der anderen Reporter, die dem Senator nachströmten und ihn mit Fragen bestürmten, verschwanden mit dem Politiker auf dem Campusgelände.

    Lewis bedeutete Russel mit einer Geste, dass sie raus waren, und er ließ geschockt das Mikro sinken.

    „Fuck …"

    Der Kameramann war mit drei schnellen Schritten bei ihm und gab ihm einen Schluck Ersatzkaffee. Die Brühe war kalt und schmeckte ekelhaft. Russel spuckte den Mist in die Blumen.

    „Trinkst du immer noch diese Soja-Ersatzscheiße? Mann, hört mir eigentlich keiner zu?"

    Lewis sah ihn unschuldig an und zuckte mit den Schultern. „Du hast ihn doch gehört – die Gen-Food-Debatte ist gelaufen. Außerdem kann ich mir bei meinem Gehalt keinen echten Kaffee leisten."

    Sie gingen zusammen zurück zum Ü-Wagen, und Lewis verstaute die Ausrüstung. Russel saß auf dem Beifahrersitz und ließ die Beine aus der offenen Tür baumeln. Sein mobiler Kommunikator klingelte pausenlos, doch er starrte nur abwesend auf die Stelle, an der der Senator ihn stehen gelassen hatte.

    „Ich dachte echt, ich hätte ihn soweit. Mann, hast du gesehen, wie er ins Schwitzen gekommen ist? Ich hatte ihn, verdammt."

    Lewis´ Kopf kam neben der Schiebetür zum Vorschein. „Klar hab ich´s gesehen. Ich war der Typ hinter der Kamera, falls du das vergessen hast. Übrigens, willst du nicht rangehen?" Er deutete auf das tanzende Gerät.

    Russel zuckte die Schultern. „Wozu? Das ist sicher Liz, die mir sagen wird, dass ich die ganze Story abblasen soll."

    „Dann bring es lieber gleich hinter dich – Liz ist ziemlich unangenehm, wenn man sie warten lässt. Du kennst sie doch."

    Der Aufschrei aus dem kleinen Lautsprecher war sogar noch für Lewis zu hören, der gute zwei Meter entfernt stand. „BRAAAAAND! Sind Sie jetzt vollkommen irre geworden?"

    Er behielt Nerven und antwortete freundlich und unverbindlich. „Hallo Melissa! Ich freue mich auch, Sie zu sprechen."

    Der Tonfall seiner Chefin erinnerte Russel an den einer Kreissäge, die sich in dünnes Metallblech fraß.

    „Die Scheiße können Sie sich gleich sparen. Ich glaube, Sie haben heute Morgen ihre Tabletten nicht genommen, oder was?"

    Russel erwiderte unschuldig: „Was genau meinen Sie? Ich hatte ihn fast so weit. Hören Sie, Liz, die Untersuchungen der Institute sind doch getürkt. Oder nehmen Sie ihm die Geschichte mit der Zulassung etwa ab? Ich glaube, das haben die ihm zugespielt, damit er aus der Nummer rauskam. Ich bin sicher, wenn wir ihn …"

    Melissa schäumte. Sie hatte die Bildübertragung abgeschaltet, damit es für ihn schlimmer war, sich vorzustellen, wie sauer sie wirklich war. Er konnte ihre Schritte durch die Leitung hören. Sie tigerte anscheinend in ihrem Büro auf und ab. „Myers ist vielleicht ein Vollidiot, aber er hat Sie auflaufen lassen, Russel. Auflaufen! Verstehen Sie?"

    Bevor sie weiter wettern konnte, unterbrach Russel seine Chefin und gestikulierte heftig mit der freien Hand, ungeachtet der Tatsache, dass sie ihn nicht sah.

    „Melissa. Melissa! Jetzt kommen Sie doch mal runter, verdammt. Die Story ist heiß, sag ich Ihnen. Ich hatte ihn fast so weit, dass er sich verplappert. Die Sache ist hier ziemlich hochgekocht. Ich habe Eltern, die mit …"

    „Russel. Einen verdammten Scheiß haben Sie! Die paar Kinder mit Hodenkrebs, die sie da rausgekehrt haben, sind mir verflucht nochmal egal. Sie haben soeben einem Senator offen ans Bein gepisst, der einer Lobby von einflussreichen Industriellen und Politikern angehört. Diese Leute sind wahrscheinlich schon morgen auf allen Kanälen und lassen die biblische Speisung der Hungernden durch Jesus aussehen wie ein Sonntagspicknick! Mir liegen ein halbes Dutzend Meldungen über Flugzeuge voll mit Genfutter von Pan Tech vor. Ziel Afrika. Von den landesweiten, öffentlichen Verteilungen an ID-Lose anlässlich der globalen Zulassung ganz zu schweigen."

    „Das ist es, was ich meine. Sehen sie nicht, dass dahinter nur eine groß angelegte Publicityaktion steht? Genau das wollen die doch. Die Öffentlichkeit soll sich über diese Scheiße auch noch freuen! Liz, ich sage Ihnen, da steckt etwas dahinter – etwas Übles." Er schlug mit der Faust auf die Konsole des Ü-Wagens. Wollte Melissa nicht einsehen, dass das die Chance war, eine echte Verschwörung aufzudecken?

    „Alles, was ich sehe, sind ihre Halluzinationen, Brand. Sie bringen unseren Sender in Verruf. Ich habe in den letzten Minuten zwei Anrufe bekommen. Einen vom Justizministerium und einen vom Büro des Senators. Die Unterlassungsklage ist schon vorbereitet, und man hat mir mitgeteilt, dass ich dafür sorgen soll, dass Sie sich an der Ostküste nicht mehr im Holo blicken lassen."

    „Was soll das heißen? Wo soll ich denn hin?" Russels Magen revoltierte.

    „Das ist mir doch scheißegal. Wenn sie Glück haben, finden Sie ihre Sachen noch in einer Kiste. Holen Sie sich ihre Unterlagen in der Personalabteilung, aber kommen Sie mir ja nicht mehr unter die Augen, fauchte sie. „Lewis soll sich bei Taylor melden, er ist an der Sache mit dem Öllager in Cincinnati dran. Sein Ticket liegt am Flughafen.

    Das klang verflucht endgültig für seinen Geschmack. Russel spürte, wie er den Boden unter den Füßen verlor.

    „Sie schmeißen mich raus? Melissa, das können Sie nicht machen, die Story …"

    „Was denn für eine Story?" Melissas Tonfall war gedehnt und troff vor Spott. „Die Leute wollen Weltgeschehen oder Glamour – mehr interessiert diesen sensationsgeilen Mob da draußen nicht. Und ich will Einschaltquoten und Leser.

    Vorgestern hat ein Typ in Philly zwölf Menschen geköpft und dabei Frauenkleider getragen. Sowas verkauft sich bis nach Japan. Kapieren Sie´s doch, Russel. Sie sind nicht nur unglaubwürdig, sondern auch nicht mehr tragbar. Ihr Bedenklichkeitsscheiß kostet mich ein Vermögen. Die Klagen von Myers und Pan Tech noch gar nicht mitgerechnet."

    „Aber …"

    Die Verbindung wurde abrupt unterbrochen. Für Melissa war das Thema beendet.

    „Fuck!"

    Hey Larry, gib mir ein Bier, ja?"

    Sie musste schreien, um gegen die dröhnende Musik und das Stimmengewirr anzukommen. Das rundliche Gesicht des Barkeepers schob sich durch den Tabakqualm wie durch dichte Nebelschwaden auf sie zu. Das Glas kratzte über die alte Edelstahloberfläche des Tresens, der Inhalt schwappte leicht über den Rand.

    „Hey Susi! Geht aufs Haus. Tut mir leid, das mit deiner Mutter."

    Sie sah in die von vielen Runzeln und Fältchen umrahmten Augen, in denen sie sein Mitgefühl deutlich erkennen konnte. Müde winkte sie ab und nippte an ihrem Getränk. Ihr stand nicht der Sinn nach Familiengeschichten. Eine kurze Trauerfeier in der Charity Church, Händeschütteln, traurige Gesichter und eine lustlose Predigt eines resignierten Geistlichen. Das war alles, was ihre Mum zum Abschied von dieser Welt bekommen hatte. Irgendwann hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Sie hatte weggemusst, und das Billbow´s Inn war nur eine von zahlreichen Anlaufstellen im Squatter, um den Schmerz zu betäuben. Larry war ein alter Freund, hatte stets ein offenes Ohr und bedrängte sie nie. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt zum Reden.

    In dem Sumpf aus Tabakqualm, lauten Bässen und den Ausdünstungen der Tänzer nahm sie sich aus wie eine Statue. Unentwegt starrte sie auf das halbleere Glas und bemerkte nur nebenbei die Gruppe junger Männer, die mit großem Aufruhr die Bar betraten. Ein Junggesellenabschied, wie es schien. Laut singend und mit Sweatshirts bekleidet, auf denen irgendein dämlicher Spruch über den Abschied aus der Freiheit stand.

    Freiheit – pah! Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, sich abzulenken. Das Glas. Das Bier. Der Tresen. Ihre Mutter. Freiheit. Leben. Die Junggesellen. Verdammt!

    Diese verdammten Arschlöcher. Toll. Da hatte wieder einer ausreichend Geld gespart, um sich eine legale Ehe und vielleicht sogar ein Kind leisten zu können. Klar war das ein Grund zum Feiern. Aber warum hier? Warum jetzt?

    Sie erinnerte sich an ihre Mutter. An ihr trauriges Lächeln. An ihre Opferbereitschaft. An Jahre voller Arbeit für das Leben ihres Kindes.

    Für sie.

    Wie Streiflichter tauchten die Momente ihres Lebens und die Bilder ihrer Kindheit aus der Erinnerung auf. Schulaufgaben an der schmutzig weißen Kunststofftheke. Der Geruch von Nudeln und gekochtem Gemüse. Hühnerfleischsurrogat aus der Kühlung des Wagens. Und der kleine Verschlag dahinter mit der armseligen Matratze. Hier schliefen sie zu dritt, eingekuschelt in die Arme ihrer Mutter, wenn sie sich nachts zu ihnen schlich, noch immer mit den Kochgerüchen in den Kleidern.

    Kochgerüche. Gerüche. Tabakqualm. Die Realität holte sie zurück, und sie erschrak. Neben ihr ließ sich plötzlich eine schlanke Frau rücklings auf den Barhocker fallen. Die Arme weit auf dem Tresen ausgestreckt, lachte sie laut auf und stieß einen aufdringlichen Feiernden mit dem Fuß weg. Sie seufzte und grinste breit.

    Von der Kleidung abgesehen war es, als blicke Susanne in einen Spiegel. Das schmale, hübsche Gesicht der Frau war auffällig geschminkt, mit Smokey Eyes, betonten Wimpern und vollen Lippen in ausdrucksstarkem Rot. Die blasse Haut wirkte beinahe vornehm – ein Eindruck, den sie beide durch die freche Kurzhaarfrisur wettmachten. Die rechte Kopfhälfte war bis über das Ohr ausrasiert – die übrigen Haare im kecken Schwung auf die linke Seite gekämmt. Nicht nur äußerlich hatten sie viel gemeinsam. Seit ihrer Kindheit teilten sie ihr armseliges Leben – denn nur eine von ihnen hatte eine Chance auf eine normale Existenz mit einer ID und einer verschissenen Steuernummer.

    „Hey Susi! Nein, verdammt nochmal, verpiss dich endlich." Ihr Spiegelbild lachte und stieß ihren Verehrer ein weiteres Mal weg. Er zwinkerte ihr lüstern zu und trollte sich grinsend.

    „Susi. Kleines. Alles klar?"

    Sie fuhr herum und funkelte ihre Zwillingsschwester zornig an.

    „Was?" Trotzig schob die das Kinn vor und winkte Larry nach einem Drink.

    „Wo, verdammt noch mal, warst du die letzten zwei Monate? Ich hab dich gesucht, zischte Susi. „Aber du treibst dich ja lieber mit irgendeiner Gang im Sprawl rum, anstatt dich mal wieder zu Hause blicken zu lassen.

    Schon früh war klar gewesen, dass ihrer Schwester das Leben auf der anderen Seite der Gesellschaft leichter fiel. Sicher hatte es ihre Mum nur gut gemeint, aber Zwillinge ohne die teure Sondergenehmigung zu gebären … weiß Hades, was sie dem schmierigen Beamten alles gegeben haben musste, damit er den Mund hielt.

    „Ach, komm schon – jetzt mach hier nicht einen auf besorgte Schwester. Als ob es Dich kümmern würde, wo ich mich rumtreibe. Oder hat Mum wieder mal s…"

    „Mum ist tot", platzte Susi heraus.

    Das Grinsen auf dem Gesicht ihrer Schwester erstarb und wich schockierter Fassungslosigkeit.

    „Wir haben sie heute Mittag in der Charity Central verbrannt."

    Erschüttert wich ihre Schwester zurück. Susanne streckte den Arm aus, um sie aufzuhalten, doch ehe sie sie greifen konnte, hatte die sich auf dem Stiefelabsatz umgedreht und stürmte ohne ein weiteres Wort aus der Bar.

    „Claire …"

    Das hatte sie nicht gewollt, aber die Wut und Enttäuschung über Claires ewig lockere Art waren einfach zu viel gewesen. Trotzig funkelte sie ihr nach. Sollte sie ruhig auch einmal einen Eindruck davon bekommen, wie sie sich fühlte.

    Susi sah ihrer Schwester frustriert nach und verwarf den Gedanken daran, ihr nachzulaufen. Claire war in dieser Stimmung sowieso unberechenbar – was das anging, waren sie sich zu ähnlich.

    Sie stürzte das Bier in einem Zug hinunter und zog Claires Glas zu sich heran. Der ölig schwarze Inhalt roch stark und zog breite Schlieren an den Rändern des Glases. Susi rümpfte die Nase, nippte an der Flüssigkeit und verzog das Gesicht. Es schmeckte herb, nach Kräutern, gleichzeitig scharf und feurig mit einer süßen Note. Eigentlich gar nicht so schlecht, dachte sie, und nippte ein zweites Mal. Langsam verstand sie Claires Vorliebe für Kräuterschnaps. Das Zeug war ein echter Seelentröster, und Susi nahm einen größeren Schluck.

    Der Drink breitete eine wohlige Wärme in ihrem Inneren aus, vertrieb ein wenig die abgrundtiefe Trauer und den Schmerz.

    Vielleicht war Claires Wahl nicht die Schlechteste? Sie lebte einfach von einem Tag zum anderen, machte sich keine Gedanken um die Zukunft, Steuern und Einkünfte, oder den schmalen Grat zwischen Behörden und örtlicher Gang, wenn es darum ging, einen sicheren Standplatz für die Garküche zu finden.

    Susi kippte den Rest des Drinks hinunter und winkte Larry mit dem leeren Glas. Der alte Mann schlurfte zu ihr hinüber, wischte gewohnheitsmäßig mit dem fleckigen Lappen über die Theke und setzte sein mahnendes Gesicht auf.

    „Bist du sicher, dass du noch einen willst, Kleines? Das Zeug ist nicht ohne, und du hast nicht die Leber deiner Schwester." Er nahm ihr das Glas aus der Hand und holte langsam unter der Theke eine angebrochene Flasche ohne Label hervor.

    „Schenk verdammt nochmal nach, Larry. Ich brauch heute echt keine Predigten mehr."

    Sein Gesicht nahm einen seltsam schwammigen Ausdruck an, und Susi schüttelte sich. Der Schnaps begann erschreckend schnell, ihre Sinne zu benebeln.

    „Schon gut, ich bin ja nicht dein Beichtvater, aber du solltest mit dem Zeug aufpassen, wenn du es nicht gewöhnt bist."

    Ungeduldig winkte sie ab, entriss ihm die Flasche, goss sich selbst eine großzügig bemessene Menge nach und kippte das Zeug runter.

    Sie beobachtete eine Weile, wie die Luftfeuchtigkeit am eiskalten Glas der Flasche zu großen Tropfen kondensierte, sich sammelte und schließlich in kleinen Rinnsalen auf die Theke zu rinnen begann. Larry wollte die Flasche wegräumen, doch sie hielt sich daran fest wie eine Ertrinkende. Trübselig fuhr sie mit Finger die Wasserspuren nach.

    Was genau tat sie da? Das war doch sonst nicht ihre Art. Larry war immer freundlich zu ihr gewesen, sie hatte keinen Grund, ihn anzufahren. Dieses Zeug machte einen anderen Menschen aus ihr. Etwas wackelig schob sie den Flaschenhals wieder über den Rand des Glases und sah zu, wie die schwarze Flüssigkeit hinein gluckerte. Larry sah sie besorgt an, nahm ihr die Flasche ab, bevor sie die Theke überfluten konnte, und griff nach dem Glas.

    Trotzig zog sie den randvollen Tumbler näher heran, und ein Teil des Alkohols schwappte über den Rand.

    „Da siehst du …, lallte sie mit schwerer Zunge. „Das ist nur deine Schuld.

    Larry schüttelte nur schweigend den Kopf, verkorkte die Flasche wieder sorgfältig und ließ sie außerhalb ihrer Reichweite und außer Sicht verschwinden.

    Susi blinzelte und versuchte, seinen Bewegungen zu folgen, aber er war einfach zu schnell. Sie hatte bemerkt, dass sie undeutlich sprach, und es fiel ihr immer schwerer, den Blick zu fokussieren. Der Alte hatte nicht gelogen, was den Drink betraf, oder sie vertrug ihn schlichtweg nicht. Ein lustiges Prickeln überzog ihr Gesicht. Mehr und mehr entglitt ihr die Kontrolle über ihren Körper, und die Bar begann, sich zu bewegen.

    „Da ist ja unser Mäuschen …", lallte jemand hinter ihr, und Claires Verehrer tauchte mit alkoholschwangerem Atem neben ihr auf. Er schwankte genauso wie der Rest der Bar und musste sich mit einer Hand am Tresen festhalten. Susi lachte ihn aus – als ob das etwas bringen würde, wo die Theke doch selbst langsam anfing zu schwanken.

    Der Typ nahm ihr Lachen als Aufmunterung. „Willst du dich nicht ssssu uns setzen, Schätzchen?"

    Susi blinzelte, drehte sich schwerfällig zum Tisch der Junggesellen um und beäugte die Feiernden. Was brachte es denn, sich in Selbstmitleid zu vergraben, wo sie es Claire doch nachtun und sich einfach vom Schmerz ablenken könnte? Der Alkohol löste auf angenehme Weise ihre Hemmungen, und sie beschloss, dass es Zeit war, ihr verfluchtes Spießbürgerdenken zum Hades zu schicken. Sie trank einen großen Schluck, um unterwegs nicht noch mehr des kostbaren Gesöffs zu verlieren, und legte den freien Arm um die Schultern des Mannes. Der Weg zum Tisch fühlte sich an wie ein Marathon. Susi hörte sich kichern, als die Hemmungen und der Frust mit einem weiteren Schluck in ihrem Magen landeten.

    Als sie wieder zu sich kam, war es dunkel und etwas Schweres lag über ihren Beinen. Sie rieb sich die Augen und versuchte, den Kopf frei zu kriegen. Dass sie nur Schemen erkannte, war gut, denn die wenigen unklaren Bilder des Raumes schwankten wie auf einem wildgewordenen Schiff und drehten sich. Sie kniff die Augen zusammen, stieß das Ding auf ihren Schenkeln von sich herunter und hörte jemanden stöhnen.

    Sie befand sich in einem Hotelzimmer, einem der schäbigen Sorte, die alle gleich aussahen und sich in Schnitt und Größe kaum voneinander unterschieden. Susi krabbelte zur Bettkante. Mit unsicheren Schritten wankte sie ins Bad, rutschte vor der Toilette auf den Boden und kotzte ihr Elend in die Schüssel. Nach zweimalig erfolgter Mageninventur zog sie sich am Rand des breiten Waschtisches hoch und spülte sich den Mund mit Wasser aus.

    Der latente Chlorgeschmack der nachgereinigten Brühe, die gemeinhin gerade noch den Namen Wasser verdiente, sich aber ganz sicher nicht mehr über die chemische Formel H2O definierte, wusch die letzten Geschmacksspuren der Galle und Magensäure von ihrer Zunge.

    Ihr Spiegelbild sah genauso verlaufen aus wie der Mascara unter ihren Wimpern. Der verschmierte Lippenstift verlieh ihrem Mund einen surrealistischen Touch. Ihre Haare standen in wirren, schwarzen Strähnen ab. Insgesamt wirkte sie wie die Verschmelzung der Muse von Salvador Dalí und einem Kunstwerk von Picasso. Genauso fühlte sie sich auch.

    Sie stützte den Unterarm am Türrahmen und den Kopf in die Hand, sah an sich hinunter und stellte schockiert fest, dass sie außer ihrem kurzen Unterhemd nichts trug. Sie bewegte die Zehen ihrer nackten Füße auf dem schmutzigen Boden, beobachtete, wie sie auf und ab wanderten, und versuchte verzweifelt, wieder klar zu werden.

    Sie stand in irgendeiner Absteige und hatte sich verkauft wie eine billige Nutte – nein, schlimmer noch, sie hatte nicht einmal Geld von dem Scheißkerl genommen. Oder?

    Schwankend hielt sie sich am Türrahmen fest und unterdrückte den Brechreiz. So schnell es ging, raffte sie in dem dunklen Zimmer ihre Sachen zusammen und begann, sich anzuziehen. Der Mann auf dem Bett rührte sich noch immer nicht. Sie sah nur seinen Rücken und ein Büschel braunen Haars. Die Kopfschmerzen hämmerten wie wild gegen ihre Schläfen, als ob eine volltrunkene Marschkapelle in ihren Hirnwindungen Gleichschritt übte.

    Während sie mühsam den zweiten Stiefel anzog und den Reißverschluss schloss, fiel ihr Blick auf seine Brieftasche. Sie lag vor dem Bett auf dem Boden zwischen Zigarettenkippen und einer leeren Flasche Syntho.

    Susi zögerte, warf dem Schlafenden noch einen kurzen Blick zu und hob dann mit einer schnellen Bewegung die teuer aussehende Brieftasche auf und steckte sie ein. Jetzt war sie wirklich zu Claire geworden. Beim Hochkommen kam sie gegen einen Stapel Kleidung und sein Shirt rutschte vom Sessel. Sie nahm es hoch und betrachtete es. „Ein letzter Tag in Freiheit" stand darauf und darüber ein Bild von einem Paar Handschellen.

    Der Bräutigam.

    Arschloch.

    Susi schniefte und sah noch einmal zum Bett. Er rührte sich nicht – vielleicht auch besser so, denn wenn seine Angetraute erführe, was heute Nacht passiert war …

    Sie schlüpfte durch die Tür, mied den Aufzug und hastete stattdessen den Gang entlang und das enge Treppenhaus hinunter, in dem sich über die Jahre etliche, mäßig talentierte Graffiti-Künstler ausgetobt hatten. Die Uhr über der baufälligen Rezeption zeigte halb fünf. Der fette Rezeptionist mit schwarzem Schnauzer, Backenbart und Afrolocken in der schmierigen Uniform hinter der zerkratzten Plexiglasscheibe schnarchte lautstark vor sich hin.

    Draußen empfingen sie Regen und das übliche Grau des beginnenden Tages. Ein paar Meter die Straße hinauf machte sich eine Gruppe Biker einen Spaß daraus, den Elektroschlitten eines feinen Pinkels zu zertrümmern. Also wählte Susi die andere Richtung. Als sie um die Straßenecke bog, ging das Vehikel gerade unter dem wilden Gegröle der Gang in Flammen auf. Eine Straße weiter zog sie die Brieftasche hervor und blätterte durch die Karten und virtuellen Ausweise. Sportclub, Waffenbesitzkarte, Country Club, Parkausweis.

    Ah, die Kreditkarten.

    Unwillkürlich wurde sie langsamer, als die Lichter der grellen Neonreklame die schwarzen und goldenen Oberflächen beleuchteten. Mehrere nicht gekennzeichnete Cred-Karten, deren Hologramme unterschiedliche Restwerte auswiesen, steckten im dafür vorgesehenen Fach und auch einige Scheine Bargeld. Geldkarten oder Geldstäbe, die elektronischen Wertspeicher ihrer Zeit, hatten es immer noch nicht geschafft, das gute alte Bargeld zu ersetzen, boten aber eine exzellente Möglichkeit, auch größere Summen mit sich zu führen. Der angenehme Vorteil gegenüber althergebrachter bargeldloser Bezahlung war, dass sich die Credkarten und -stäbe normalerweise nicht nachverfolgen ließen.

    Susi blieb stehen, überflog die Zahlenwerte der ersten zwei Karten und blätterte durch die Banknoten. Allein der Bargeldbestand dieser Geldbörse überstieg ihr monatliches Einkommen um ein Vielfaches.

    Sie suchte weiter und fand persönliche Bilder, ein laminiertes Foto, das den Typen mit seiner vermutlich zukünftigen Ehefrau zeigte, und das Pass-Holo einer älteren Frau, die sie von irgendwoher zu kennen glaubte. Ein Reiseschnappschuss von irgendeiner Luxusreise. Dieses Arschloch – aber immerhin hatte er genug Geld für alle notwendigen Genehmigungen.

    Aus einem Impuls heraus steckte sie das Foto mit dem Bargeld und den Cred-Karten ein und warf die Brieftasche in einen Hauseingang. Der integrierte Sender würde die Polizei nur auf ihre Spur bringen. Erpressen ließ sich der Typ ganz sicher nicht, und das war auch nicht ihr Stil.

    Die frische Luft vertrieb die Kopfschmerzen, und es ging ihr allmählich etwas besser. Irgendwie hoffte sie, dass es seine Karre gewesen war, die die Punks von eben in einen Tischgrill verwandelt hatten.

    Das Billbow´s Inn lag nur einige Querstraßen entfernt in Englewood, in der Nähe des alten St. Bernhard-Krankenhauses. Susi überlegte, ob sie Larry noch auf einen Kaffee besuchen sollte. Schließlich entschied sie sich dagegen und machte sich auf den Heimweg – was im Wesentlichen hieß, sie hoffte, die kleine Garküche noch unversehrt auf ihrem letzten Stellplatz vorzufinden.

    Du weißt ganz genau, dass sie es irgendwann herausfinden wird. Ist Dir eigentlich klar, was für ein Skandal das ist?"

    Mutter strich ihr perfekt sitzendes Kostüm glatt und sah in den Dunst der Barrington Hills unterhalb des Penthouses. Der Wolkenkratzer der Familie ragte aus dem Konglomerat der kleineren Gebäude wie ein Mahnmal. Einhundertzweiundzwanzig Stockwerke hoch – höher als das einstige Wahrzeichen der Stadt Chicago – und dennoch heute nicht mehr als einer von Vielen. Sie ließ den Blick schweifen und hielt ihm den Rücken zugewandt, ihre faltigen Hände demonstrativ hinter sich verschränkt. Sie gab einen theatralischen Seufzer von sich, dann drehte sie sich endlich zu ihm um.

    „Was dachtest du dir nur dabei?"

    Eine Pause entstand, in der sie offensichtlich eine Antwort erwartete, aber Piter war außerstande, ihr zu antworten. Er schwieg und kämpfte mit der Übelkeit. Schuld und Scham wechselten sich mit den körperlichen Beschwerden seines Katers ab.

    „Was soll ich denn jetzt Gabriel sagen? Diese Ehe war seit Monaten vorbereitet, und ich habe mir alle Mühe gegeben, dich zu unterstützen. Aber deine blinde Vernarrtheit war wohl doch wieder nur ein Strohfeuer – wie immer. Jetzt müssen wir Schadensbegrenzung betreiben." Sie nestelte übertrieben an der kleinen Brille auf ihrer Nase herum, die sie nur trug, weil ihr das Accessoire einen einzigartigen Auftritt verlieh. Es sollte ihre Gesprächspartner einschüchtern, wenn sie sie bedrohlich auf ihrem Nasenrücken hin und her schob.

    Piter massierte seine Schläfen.

    „Wieder einmal. Piter, ich weiß nicht, was ich noch mit dir machen soll. Zuerst wehrst du dich, dann willst du sie unbedingt, und nun das …"

    Er schob sich die gespreizten Finger in die Haare und stützte den Ellbogen auf dem Knie ab. Er konnte die Ringe unter seinen Augen beinahe fühlen und kratzte sich sein unrasiertes Kinn. Er räusperte sich mehrfach und versuchte zu antworten, aber es klang immer noch, als hätte er mit rostigen Nägeln gegurgelt. Endlich brachte er etwas heraus.

    „Mutter … ich …"

    Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. In einer einstudierten Geste hob sie die Hand zum Schlag, und er duckte sich instinktiv.

    „Fang ja nicht an, mir deine Entschuldigungen vorzutragen!, schrie sie. „Ich habe weiß Gott genug ertragen. Du und dein Vater – ihr seid beide gleich. Euer Egoismus, eure verdammte Selbstsucht … Nicht eine Sekunde hast du auch nur daran gedacht, in welche Lage mich dein Handeln bringt. Ich hatte gehofft, du bist endlich erwachsen geworden, aber nein, du schlägst immer wieder über die Stränge. Wie oft noch?

    „Ich …" Er hob verzweifelt eine Hand.

    „Ich, ich, ich, das einzige Wort, das ihr kennt, heißt ich", schrie sie.

    Die Worte trafen ihn wie Peitschenhiebe, und er zuckte unter jedem zusammen wie ein geprügelter Hund. Er war kurz davor, in Tränen auszubrechen.

    Seine Mutter drehte sich wieder weg und beobachtete den Horizont. Dreißig Meilen östlich blinkten die Hochhäuser von Downtown Chicago.

    „Wir werden die Sache erstmal unter Verschluss halten, aber ich kann nicht versprechen, dass Alma es nicht erfahren wird. Du warst nie ein guter Lügner. Sehr zu meinem Leidwesen, muss ich sagen, aber ich habe die Hoffnung ohnehin aufgegeben, dass du einmal in meine Fußstapfen treten wirst. Ich muss dir wohl nicht sagen, dass du mich wieder einmal zutiefst enttäuscht hast." Ihre Stimme war nun wieder ruhig und gefasst.

    Piter erwiderte nichts. Er beschränkte sich darauf, die Flammen im Kamin zu beobachten. Er fühlte, wie sich eine einzelne Träne in seinem linken Auge sammelte und sich beharrlich weigerte, sich ihren Weg die Wange hinunter zu bahnen.

    Mutter drehte sich zu ihm um und hielt die Hände wie eine Schaukel verschränkt vor sich. Es war die einstudierte Pose der enttäuschten Lehrerin, und sie verfehlte ihre Wirkung nicht.

    Piter ließ sich noch tiefer in seinen Sitz sinken. Er wollte vor Scham am liebsten im Erdboden versinken.

    Mit einem vorwurfsvollen Blick sah sie ihn über den Rand der kleinen Brille hinweg an.

    „Falls Alma nach diesem Fiasko noch an eurer Verbindung

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