Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Bediuzzaman Said Nursi: Lehrmeister der koranischen Aufklärung
Bediuzzaman Said Nursi: Lehrmeister der koranischen Aufklärung
Bediuzzaman Said Nursi: Lehrmeister der koranischen Aufklärung
eBook311 Seiten3 Stunden

Bediuzzaman Said Nursi: Lehrmeister der koranischen Aufklärung

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Bediuzzaman Said Nursi (1876–1960), Autor des Risale-i Nur (Botschaft des Lichts), musste eine schwere Last schultern. Anfang des 20. Jahrhunderts waren alte Denkweisen von einem neuen Leben hinweggefegt worden. Die Vergangenheit würde nie mehr wiederkehren, und die Zukunft würde sich völlig von ihr unterscheiden. Der Glaube musste künftig in einer ganz neuen Sprache vermittelt werden.

Bediuzzamans Leben lässt sich in drei Phasen unterteilen. In jeder dieser Phasen setzte er sich mit aller Kraft für den Glauben ein. Er wurde Zeitzeuge des größten Wandels, der die islamische Welt jemals erfasst hat, und erlebte ihre freimütige Imitation einer fremden Zivilisation ebenso mit wie ihre Bemühungen um eine Erneuerung der Religion. Mit seinem Leben hinterließ er ein Vorbild, an dem sich die Menschen fortan orientieren konnten, und er zeigte ihnen einen Weg aus jener Krise.

Bediuzzamans Biographie ist ohne jeden Zweifel eine genauere Betrachtung wert. Mit dem Risale-i Nur, der Frucht seines Lebenswerks, legte er den Grundstein für eine koranische Aufklärung im Zeitalter der Moderne.
SpracheDeutsch
HerausgeberDefine Verlag
Erscheinungsdatum1. Apr. 2016
ISBN9783946871057
Bediuzzaman Said Nursi: Lehrmeister der koranischen Aufklärung

Ähnlich wie Bediuzzaman Said Nursi

Ähnliche E-Books

Biografien – Religion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Bediuzzaman Said Nursi

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Bediuzzaman Said Nursi - Alexander Imker

    agi@bluedomepress.com

    Einleitung

    Bediuzzaman Said Nursi – ein Mensch sui generis

    Vielleicht ergeht es ja jedem so, der einleitende Worte zu einem Werk schreiben möchte, dessen Verfasser eine Persönlichkeit war, die ihre eigene Lebenszeit weit überstrahlt hat. Ich persönlich jedenfalls empfinde diese Aufgabe als eine sehr schwierige Herausforderung. Über die Person, das Leben und die Visionen von Bediuzzaman Said Nursi wurden bereits mehrere dicke Bände verfasst. Da diese aber bisher nur zu einem geringen Teil in unsere Sprache übertragen wurden und das vorliegende Werk definitiv einer Einleitung würdig ist, möchte ich im Folgenden zumindest einige wenige Gedanken zur Person und zum Werk dieses Lehrmeisters zu Papier zu bringen.

    Said Nursi war ein Universalgelehrter, der in den 83 Jahren seines Lebens viele ganz unterschiedliche Rollen einnahm und sich in keine Schublade stecken ließ. Er war ein ungewöhnlicher, einzigartiger Mensch, weshalb ihm seine verblüfften Lehrer schon im Alter von 14 Jahren aufgrund seines Genies und seines starken Gedächtnisses den Beinamen Bediuzzaman (der Einzigartige des Zeitalters) verliehen. Bediuzzaman war eine Persönlichkeit sui generis im klassischen Sinne, höchst facettenreich und kaum zu kategorisieren. Um Ihnen in dieser kurzen Einleitung dennoch einen ersten Eindruck von seinem Wirken zu vermitteln, möchte ich mich ihm auf zwei Ebenen nähern: in seiner Eigenschaft als Mensch und in seiner Eigenschaft als Verfasser und Autor des Werkes Risale-i Nur. Zwangsläufig überlappen sich diese beiden Ebenen in vielen Punkten, trotzdem werde ich den Versuch unternehmen, ein wenig zu differenzieren.

    Der Mensch Said Nursi

    Bediuzzaman Said Nursi wurde im Jahr 1876 oder 1877 in dem kleinen Dorf Nurs in der Provinz Bitlis geboren, einer Kurdenregion des Osmanischen Reichs, und er starb 1960 in der türkischen Stadt Urfa. Fast jede Szene seines Lebens spiegelt den Sinngehalt seines Beinamens Bediuzzaman wider. Diese Einzigartigkeit, die ihn von der Kindheit bis zum Tod auszeichnete, bot genügend Substanz für einen Roman von fünf Bänden, und verfilmt wurde sein Leben mittlerweile auch bereits mehrfach. Wer die frühen Werke des Alten Said studiert (Alter Said nannte er selbst die erste Phase seines Wirkens), wird feststellen, dass er sich zunächst als ziviler Bürger unermüdlich engagierte. Er beschäftigte sich intensiv mit Politik und Gesellschaft des Osmanischen Reichs sowie auch beispielsweise mit den Medien. Und gerade aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, wie differenziert und aufrichtig er mit den Turbulenzen seiner Zeit umzugehen pflegte. Kein Zorn ließ ihn den Verstand verlieren, keine Grausamkeit verleitete ihn zu unmenschlichem Handeln. Nursis aufopferungsvoller Einsatz bei der Rettung armenischer Kinder und seine freimütige Kritik an den politischen Umständen weisen ihn als zutiefst ehrlichen, uneigennützigen Menschen aus.

    Die Literaten unseres Lichterlandes Europa sind zumeist geneigt, die historischen Personen politisch zu kategorisieren. Daher gehört es dazu, einige Zeilen über die politische Haltung des Lehrmeisters zu diskutieren.

    Schon lange bevor das Osmanische Reich zusammenbrach, wurde Said Nursi mehrmals aufgrund seines Eintretens für eine parlamentarische Monarchie bzw. später wegen seines Republikanismus verhaftet. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass er den Sozialismus als weniger schädlich für Glauben und Religion befand als den Kapitalismus, der mit seinen Ungerechtigkeiten und seiner Konsumorientiertheit die Menschen davon abhalte, über den Sinn ihres Lebens nachzudenken und ihren religiösen Pflichten nachzukommen. Über 50 Jahre lang stand er immer ausdrücklich auf Seiten der Demokraten in der Türkei, was ihn nicht daran hinderte, wenn nötig auch Stellung gegen explizit islamische Parteien zu beziehen. Er übte scharfe Kritik an all jenen, die den Islam zu propagandistischen, parteipolitischen Zwecken missbrauchen, wofür er von zeitgenössischen Gelehrten wie Seyyid Qutb oder Scheych ul-Islam Mustafa Sabri Efendi scharf kritisiert wurde. Seine Prinzipientreue bewahrte ihn immer wieder davor, sich von bestimmten Gruppen vereinnahmen und ausnutzen zu lassen. Folglich verbietet es sich auch, ihn als ausschließlich konservativ-liberal oder sozialistisch-konservativ zu definieren.

    Der Autor und sein Werk, das Risale-i Nur

    Das Risale-i Nur (Botschaft des Lichtes) liegt uns deshalb so am Herzen, weil es die islamischen Wissens- und Glaubensinhalte so einfach und gleichzeitig so tiefgründig und originell auf den Punkt bringt, wie kein anderes Werk in der islamischen Literatur es je vermocht hat. Die Glaubensinhalte des Islams finden heute sowohl in der Minderheits- als auch in der Mehrheitsgesellschaft kaum mehr Beachtung, da sich Medien und Öffentlichkeit auf Debatten um Terror, Kopftuch oder Schwimmunterricht fokussieren. Es ist verwunderlich, dass selbst in unserem Land, dessen Abend doch von Renaissance und Aufklärung erhellt wurde, fast ausschließlich über die sichtbaren Ausdrucksformen oder die geographischen Erscheinungsformen dieser Religion und der Religion allgemein diskutiert wird.

    Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand der Kerngehalt der Religionen, Weltanschauungen und Credos ganz oben auf der Agenda. Die großen Theorien beherrschten die Gedankenwelt, sie trugen zur Eskalation der politischen Debatte bei und entfesselten schreckliche Kriege. Angespornt von den Ausführungen dialektischer Materialisten wie Karl Marx und Friedrich Engels gewann das Proletariat in einigen Ländern die Oberhand über die Kapitalbesitzer, und damit verbunden streckte sich eine aggressiv-atheistische Ideologie nach der Weltherrschaft. Zwar können die Kriege jener Zeit nicht als Konfessionskriege bezeichnet werden, aber der Kerngehalt des Glaubens stand aufgrund des aggressiven Atheismus stets auf der Agenda. Glaube und Religion wurden vom Materialismus kategorisch abgelehnt. Und alle Glaubensrichtungen – Judentum und Christentum ebenso wie Buddhismus oder Islam – waren von dieser Bedrohung betroffen.

    Auf der politischen Ebene brachen große Monarchien wie das Kaiserreich, die K.-u.-k.-Monarchie und das Osmanische Reich zusammen, und während in Europa die Nationalstaaten auf der politischen Landkarte auftauchten, waren es auf der Landkarte des ehemaligen Osmanischen Reichs eher ‚fiktive‘ Nationen. Und Letztere sollten noch lange unter dem Joch des kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Kolonialismus ächzen. Eine bipolare Welt zwischen Kapitalismus und Kommunismus war entstanden.

    Parallel zu dieser Entwicklung beschäftigte sich Said Nursi in seinem Opus magnum Risale-i Nur intensiv mit den Kerninhalten des Glaubens, dem Sinn des Lebens, der Quelle der Ethik und einer Erneuerung des Islams. Ganz im Gegensatz übrigens zu den zeitgenössischen Islamgelehrten, deren ganze Konzentration nach der Abschaffung des osmanischen Kalifats den politischen Auseinandersetzungen und Verwicklungen galt.

    Eine Erwähnung wert ist außerdem, dass Said Nursi prinzipiell jede Art von Extremismus mied und fast immer den Mittelweg, den Weg der Vernunft lehrte. Zudem verzichtete er generell auf Pauschalisierungen und differenzierte überall dort, wo es ihm geboten schien; in Bezug auf Europa zwischen dem Europa der Aufklärung und der christlichen Werte und dem Europa des Kolonialismus, des Atheismus und der Weltkriege.

    Daneben fördert er mit seinem Lebenswerk, dem Risale-i Nur bei seinen Leserinnen und Lesern einen dialogischen Ansatz, indem er sie dazu ermuntert, in vielen Bereichen des Lebens zusammenzukommen und miteinander zu reden. Said Nursi selbst scheute nie davor zurück, selbst die provozierendsten Fragen geduldig zu diskutieren. Das sollte auch jungen Musliminnen und Muslimen den Mut geben, aufgeschlossen für andere Standpunkte zu bleiben.

    Maximilian Friedler

    Berlin, 13.03.2017

    Teil 1

    Der Alte Said (1877–1925)

    Das Leben Said Nursis vor seiner Wandlung zum Neuen Said

    Familiärer Hintergrund

    Said Nursi wurde in eine Zeit hineingeboren, in der sich allerorten, insbesondere aber in der islamischen Welt, große Veränderungen ankündigten. Er kam in Ostanatolien zur Welt, in dem Dorf Nurs, unweit der historischen Stadt Bitlis, stammt jedoch nicht aus einer der alteingesessenen Familien des Dorfes. Überlieferungen, die sich in das Umland dieser Orte zurückverfolgen lassen, besagen, dass einige Zeit vor seiner Geburt in der nahe gelegenen Stadt Cizre ein berühmter Mann lebte, der zwei bedeutende Gelehrte entsandte, um die Menschen in Nurs und Bitlis zu unterweisen und auszubilden. Die beiden Brüder bauten in dem Dorf eine Moschee und eine Medresse [religiöse Schule], in der sie die Kinder und Jugendlichen der Region unterrichteten. So hielten damals Wissen und Weisheit Einzug in Nurs. Mit diesen beiden Gelehrten war Said angeblich durch eine gemeinsame Abstammungslinie – Mirza Reşan, Mirza Halid, Hızır, Ali und Sofi Mirza Said – verbunden.

    Saids Großvater hatte fünf Kinder: Hacı, Mahme, Kulis, Fatma und Mirza.¹ Die genauen Geburts- und Todesdaten von Saids Eltern sind unbekannt. Seine Mutter Nuriye Hanım, die Nure genannt wurde, war die Tochter von Molla Tahir aus dem Dorf Bilkan, etwa drei Stunden nördlich von Nurs gelegen. Sie starb in den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs. Über ihre Familie liegen sonst keine Informationen vor. Saids Vater Sofi Mirza starb 1920. Er wurde Sofi Mirzo oder Sofi Mirze genannt, so steht es auch auf seinem Grabstein.² Den beiden wurde im Jahr 1877 Said geboren.

    Kindheit

    Said verbrachte seine Kindheit bei seiner Familie. Schon damals begann die Saat seines gewaltigen Potenzials aufzugehen, und schon bald war es nicht mehr zu übersehen.

    Saids Vater Sofi Mirza war Anhänger von Sıbgatullah Efendi, der in Bitlis als Ghawth (spiritueller Erretter) von Hizan bekannt war. Eines Tages machte sich Sofi Mirza auf, den Meister zu besuchen. Dort angekommen, wollte man ihn zunächst nicht zu dem Ghawth vorlassen, weil dieser gerade in eine Diskussion mit seinen Studenten vertieft war. Sofi Mirza ließ sich jedoch nicht abwimmeln und durfte schließlich eintreten. Der Ghawth behandelte seinen unangemeldeten Gast so ehrerbietig, dass die Studenten überrascht waren. Nachdem sich Sofi Mirza wieder verabschiedet hatte, fragten sie ihren Meister, warum er einem gewöhnlichen Menschen derart großen Respekt erwiesen hatte. Da antwortete ihnen der Ghawth: „Aus der Abstammungslinie dieses Mannes wird ein so bedeutender Mann hervorgehen, dass hundert Gottesfreunde seinen spirituellen Rang nicht aufwiegen können!"

    Einer zweiten Überlieferung zum gleichen Thema zufolge lebte in der Stadt Isparta in der Westtürkei, die Said Nursi ca. 48 Jahre später besuchen sollte, ein hoch angesehener Gelehrter namens Osman Halidi aus Beskaza. Kurz vor seinem Tod – in demselben Jahr, in dem Said geboren wurde – sprach dieser Mann zu seinen Kindern und zu allen, die damals bei ihm waren:

    „Ein Mudscheddid (Erneuerer des Glaubens) wird kommen. Er wurde in diesem Jahr geboren. Dann fügte er hinzu: „Einer meiner vier Söhne wird diesen künftigen Meister treffen und ihm die Hand küssen (als Zeichen des Respekts). Es vergingen viele Jahre, und als Bediuzzaman schließlich nach Isparta kam, traf Osman Halidis letzter noch lebender Sohn Ahmet, mit ihm zusammen, erzählte ihm von der Prophezeiung seines Vaters und küsste ihm respektvoll die Hand. Osman Halidis frohe Kunde, sein Vermächtnis an seine Kinder, war schriftlich festgehalten worden; daher wussten viele Menschen in Isparta, was dies zu bedeuten hatte.³

    Said Nursi kommentierte dies so:

    Was meinen Geburtsort Nurs betrifft, so wissen sowohl meine älteren Studenten als auch die Bewohner von Nurs, dass unser Dorf gern prahlte; weil es nach außen hin mutig und besonders erscheinen wollte, führte es sich auf wie ein Held, der eine große Stadt erobert hat. Andererseits ist es ja aber tatsächlich so, dass diese einfallsreichen Leute nun mit dem strahlend hellen Licht des Risale-i Nur (Die Botschaft des Lichts) beehrt werden; und um das Dorf Nurs, das ja in einer gänzlich unbekannten Gemeinde in einer gänzlich unbekannten Provinz liegt, als einen Ort von Bedeutung bekannt zu machen (um ihm zu Berühmtheit zu verhelfen), erkannten sie diese Gunst Gottes, noch bevor das Risale-i-Nur verfasst wurde, und brachten so auf ihre ureigene lobenswerte, großherzige Weise ihre Dankbarkeit zum Ausdruck.

    Der einwandfreie Charakter des jungen Said und seiner Geschwister blieb nicht lange unbemerkt. Scheich Seyyid Hüseyin Arvasi, den die Eltern des Jungen sehr schätzten, fragte Saids Mutter Nuriye einmal: „Was zeichnet Ihre Erziehung und Bildung aus, dass aus Ihren Kindern so gescheite Menschen werden?" Die ehrenwerte Frau antwortete ihm: „Mein ganzes Leben lang habe ich, mit Ausnahme der Zeiten (im Monat), wenn Frauen entschuldigt sind, nie meine Teheddschud-Gebete (freiwilligen Nachtgebete) versäumt, und nie habe ich meine Kinder gestillt, ohne zuvor die Waschungen verrichtet zu haben."

    Said Nursi selbst versicherte, während der gesamten 80 Jahre seines Lebens von der Unterweisung durch seine Mutter profitiert zu haben:

    Die erste kompetente Lehrerin und Einflussperson des Menschen ist seine Mutter. Dass dies absolut wahr ist, habe ich in meinem eigenen Leben immer gespürt, und ich möchte es hier noch einmal wiederholen:

    In den 80 Jahren meines Lebens habe ich unter 80.000 Gelehrten studiert, aber ich bin mir ganz sicher: Die grundlegendsten und beständigsten Lektionen – diejenigen, die immer wieder frisch zu mir zurückkehren – waren die ebenso praktischen wie inspirierenden Lektionen, die ich von meiner Mutter gelernt habe. Diese Lektionen wurden mir zu jener Zeit, als sie meine Autorität schlechthin war, wie Samenkörner eingepflanzt, und sie sind mir zu einem Teil meines Wesens, ja in gewisser Weise sogar zu einem Teil meines physischen Körpers geworden. Genauso sicher bin ich mir, dass sie das Fundament waren, auf dem meine ganze weitere Ausbildung aufbaute. Ohne den Schatten eines Zweifels darf ich behaupten, dass ich von den vier Ecksteinen meines Werdegangs und meiner Berufung den wichtigsten, nämlich das Mitgefühl - das Empfinden von Mitleid und Bedauern (schefqat), wie es in der bedeutendsten Wahrheit des Risale-i-Nur formuliert ist, dem mitfühlenden Handeln, Vorbild und Unterricht meiner Mutter verdanke.

    Schon in jungen Jahren begann Said Gefühle zu entwickeln, die ihn von seiner Familie und seinem Umfeld unterschieden:

    Als ich acht oder neun Jahre alt war, riefen sie in ihren Bittgebeten, wie es Brauch war, das Oberhaupt des Naqschibendi-Ordens unserer Region an, einen Mann, der als Ghawth von Hizan bekannt und für sein Fasten berühmt war. Entgegen allen Erwartungen meiner Verwandten bat ich jedoch nicht den Ghawth von Hizan um Hilfe, sondern den großen Ghawth, Abdulqādir el-Dschīlānī. Aufgrund meiner kindlichen Naivität wandte ich mich an ihn, selbst wenn es nur eine Walnuss war, die ich verloren hatte: „O Scheich! Ich schenke deiner Seele eine Fātiha (Eröffnungssure des Korans), veranlasse es, dass ich finde, was ich verloren habe." Es mag absonderlich klingen, aber ich könnte darauf schwören, dass mir die seelische Unterstützung (himmet) und die Bittgebete (du‘ā) des ehrwürdigen Scheichs tausendmal zu Hilfe gekommen sind.

    Ausbildungsjahre

    a) Die erste Schulbildung

    In den Jahren, in denen Said zu Hause bei seinen Eltern lebte, ging sein älterer Bruder Molla Abdullah bereits zur Schule. Dem jungen Said entging nicht, wie positiv sich sein Bruder dadurch entwickelte. Deshalb fasste er den Beschluss, ebenfalls eine Schule zu besuchen, und seine Wahl fiel auf die des Gelehrten Molla Mehmet Emin in dem Dorf Tağ, in der Nähe von Isparit in Bitlis. Allerdings verließ er diese Schule recht bald wieder und kehrte in sein Dorf Nurs zurück, weil er es nicht ertragen konnte, wenn jemand im Befehlston irgendetwas zu ihm sagte. Verärgert darüber, dass er in Nurs keine andere Schule finden konnte, ließ er sich von seinem älteren Bruder unterrichten, der einmal in der Woche nach Hause kam. Einige Zeit später brach er auf in die Region Pirmis, zum Hochplateau von Scheich Hizan. Aber auch dort machte ihm seine strikte Weigerung, Unrecht zu tolerieren, das Leben schwer. Vier Mitschüler legten sich mit ihm an und verbündeten sich gegen ihn, um ihm eine Tracht Prügel zu verabreichen. Daraufhin wandte er sich an Scheich Seyyid Nur Muhammed. Um nicht in seinen Augen als Schwächling dazustehen, vermied er es, sich direkt über sie zu beklagen, indem er sagte:

    „Mein Scheich, bitte richten Sie ihnen aus, dass ich gern gegen zwei von ihnen kämpfe, es aber nicht mit allen vier auf einmal aufnehmen kann."

    Seyyid Nur Muhammed zeigte sich erfreut über die Tapferkeit des jungen Said und entgegnete: „Du bist mein Schüler, ich werde niemandem gestatten, dir etwas zuleide zu tun."

    Danach gab man ihm dort den Beinamen ‚Schüler des Scheichs‘. Er blieb eine Weile, bis er seinem Bruder Molla Abdullah in das Dorf Nurşin folgte.

    Schulen in Ostanatolien wurden damals folgendermaßen gegründet: Ein Gelehrter, der seine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hatte, ging in ein Dorf und eröffnete dort, um Gott zu erfreuen, eine Schule. Wenn die Schüler bedürftig waren, kamen entweder der Gelehrte selbst oder die Bewohner des Ortes für ihre Erfordernisse auf, und der Gelehrte unterrichtete sie, ohne Geld von ihnen dafür zu nehmen. Said aber lehnte es schon zu seinen Schulzeiten ab, sich finanziell unterstützen zu lassen. Er weigerte sich, Almosen, Stipendien, Geschenke oder Ähnliches anzunehmen. Als seine Mitschüler-Freunde einmal loszogen, um Geld zu sammeln, blieb er in der Schule. Die Dorfbewohner waren von seiner Genügsamkeit beeindruckt und beschlossen, ihm trotzdem etwas Geld zukommen zu lassen. Als sie es ihm überreichen wollten, wies Said es mit Worten der Dankbarkeit zurück. Da wandten sich die Dorfbewohner an seinen Bruder Abdullah und bedrängten ihn, er solle Said dazu überreden, das Geld anzunehmen. Er gab sich alle Mühe, und dabei kam es zu folgendem scherzhaften Disput. Said sagte: „Bruder, kauf mir mit dem Geld ein Gewehr! Abdullah antwortete: „Mit Sicherheit nicht. „Dann kauf mir eine Pistole! „Auf keinen Fall. Nun lächelte Said und bat: „Dann kauf mir eben ein Messer. Der ältere Bruder erwiderte sein Lächeln: „Nein, aber ich werde dir ein paar Trauben kaufen, damit wir das Thema zu einem süßen Abschluss bringen können.

    Nachdem er eine Zeitlang in Nurşin gelebt hatte, ließ Said den Schulalltag hinter sich und kehrte an die Seite seines Vaters zurück. Er verbrachte die Zeit bis zum Frühling zu Hause, und während dieser Zeit hatte er einen Traum:

    Der Jüngste Tag war angebrochen, und alle Geschöpfe des Universums waren wiederauferweckt worden. Said fragte sich, wie er wohl den Propheten Muhammed, Friede und Segen seien mit ihm, finden könnte. Da fiel ihm die Brücke Sirat ein.⁸ Er wusste, dass jeder Mensch diese Brücke überqueren musste, und so stellte er sich davor und wartete. All die großen Propheten schritten, einer nach dem anderen, an ihm vorüber. Und als schließlich der Prophet Muhammed kam, bat Said ihn, er möge ihn mit Wissen segnen. Der Gesandte Gottes überbrachte Said die frohe Kunde, dass ihm die Weisheit des Korans gewährt werde, jedoch unter einer Bedingung: Er dürfe der muslimischen Gemeinschaft (Umma) keine Fragen stellen. An dieser Stelle erwachte Said völlig aufgewühlt aus dem Schlaf.

    Vom Glücksgefühl dieses Traums beseelt, entwickelte der junge Said einen unbändigen Wissensdrang. Mit der Erlaubnis seines Vaters reiste er nach Arvas in Van, um seine Ausbildung dort bei dem berühmten Lehrmeister Molla Mehmet Emin fortzusetzen. Dieser nahm sich selbst jedoch ein wenig zu ernst und hielt es nicht für nötig, seine Studenten

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1