Auge um Auge, Zahn um Zahn: Texte aus der Bergpredigt auf dem jüdischen Hintergrund unter die Lupe genommen
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Über dieses E-Book
Susanne Schmid-Grether
Studium der Theologie in Basel und Zürich. Abschluss mit dem Lizenziat. Weiterbildung am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung an der Universität Luzern. Nachdiplomstudium in Neuropsychologie. Seit 1993 bei SCHORESCH tätig.
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Buchvorschau
Auge um Auge, Zahn um Zahn - Susanne Schmid-Grether
Zum Titelbild
Blick vom Berg der Seligpreisungen auf den See Genezareth und die Golan-Höhen.
Inhalt
Vorwort
Lernen und Lehren
1. Warum die Bergpredigt keine Predigt ist
Lernen und Lehren
Das Lehrgespräch in der Synagoge
Die Halachah
Die Haggadah
Das Lehrgespräch auf dem Berg
Jüdische Lehrgespräche
2. Eine Auswahl an Thesen und die dazugehörigen Lehrgespräche
2.1 Ein Lehrgespräch - drei Thesen, Matth. 3 , 3-5 Zusammenfassung
2.2 Die 4. These: Hunger und Durst nach Gerechtigkeit,
Matth. 5 , 7
Hunger und Durst
Essen und Sattwerden
Essen und Trinken
Gerechtigkeit
Zusammenfassung
2.3 Ein reines Herz?! - die 6. These
Rein und unrein - heilig und profan
Das reine Herz
Die Aufgabe von Lehrern und Schülern
3. Salz und Licht
Salzloses Salz?
Licht für die Welt
Gesetz und Evangelium?
4. Die schriftliche Torah
Torah und Propheten
Die Torah aufheben oder erfüllen?
Grosse und kleine Gebote?
Die bessere Gerechtigkeit
Halachah
5. Die mündliche Torah
Ich aber sage euch... - die bessere Gerechtigkeit
5.1 Vom Umgang der Schüler miteinander
Matth. 5 , 21-26
Der Zorn
Der Hohlkopf
Der Narr
Eine neue Halachah
Und heute - Mobbing statt Bannen?
Die praktische Umsetzung
5.2 Vom Umgang mit den Frauen, Matth. 5 , 27-32
Die Frau - Grund allen Übels?
Ein ernstes Wort an die Männer
Wer sich von seiner Frau scheidet...
Die Praxis der Ehescheidung
Scheidung und Ehebruch
Der eine Scheidungsgrund
Und heute?
5.3 Vom Umgang mit den Mitmenschen, Matth. 5 , 33-36
5.4 Vom Umgang mit Konflikten, Matth. 5 , 38-41
Von Ohrfeigen und Faustschlägen
Ein paar praktische Tipps
5.5 Vom Umgang mit anderen Frömmigkeitsstilen
Matth. 5 , 43-48
Das Gebet- Haltung und Handlung
6. Das Unser Vater - ein jüdisches Gebet
6.1 Unser Vater im Himmel, Matth. 6 , 9
Gott als Vater
Mein Vater, euer Vater
Der Rufname Gottes
Vater - das Wesen Gottes
6.2 Geheiligt werde dein Name, Matth. 6.9
6.3 Dein Reich komme, Matth. 6.10
Das Himmelreich bricht sich Bahn
Vom Sinai bis Bethlehem oder das wirklich Neue im Neuen Testament
Das Himmelreich auf dem Vormarsch
Alejnu leschabeach (Schlussgebet)
Das Himmelreich ist da
Kaddisch
6.4 Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden, Matth. 6 , 10
6.5 Das tägliche Brot
Das Tischgebet
Danken - Bestandteil des Lebens
6.6 Vergib uns unsere Schuld
6.7 Führe uns nicht in Versuchung
6.8 Kernsätze zu den einzelnen Bitten
Anhang
Stichwortverzeichnis
Bibelstellennachweis
Rabbinische Literatur
Worterklärungen
Verzeichnis der Zitate an den Kapitelanfängen
Literaturverzeichnis
Vorwort
"Aus den alten jüdischen Schriften könnte man ganz einfach ein ganzes Evangelium zusammenstellen, ohne auch nur ein einziges Wort von Jesus zu brauchen. Das allerdings kann nur getan werden, weil wir die Evangelien besitzen."
David Flusser
Auf den ersten Blick ein provokatives Zitat von David Flusser. Viele Christen sind zunächst schockiert, wenn sie damit konfrontiert werden, dass im Neuen Testament nichts wesentlich Neues steht. Manchmal kommt es mir so vor, als ob wir unser christliches Selbstverständnis darauf aufgebaut hätten, dass Jesus etwas ganz Neues und anderes als das Judentum gelehrt habe. Umso wichtiger scheint es mir, nach den jüdischen Wurzeln zu fragen, um den christlichen Glauben überhaupt erst definieren zu können. Nur auf dem Boden der jüdischen Überlieferung kann das wirklich Neue im Neuen Testamententdeckt werden.
Dass Jesus ein Jude war, wird heute kaum mehr bestritten. Seine Theologie jedoch, die vom jüdischen Hintergrund der damaligen Zeit geprägt ist, wird gehandhabt, als wäre Jesus ein Christ gewesen. Wenn wir das Neue Testament aus der jüdischen Tradition zur Zeit des zweiten Tempels herausnehmen, führt das unweigerlich dazu, dass viele Aussagen Jesu missverstanden werden.
Die christliche Theologie kennt verschiedenste Zugänge zur Bibel. Systematische Theologie, natürliche Theologie, historische Theologie, feministische Theologie ebenso wie Befreiungstheologie, um nur einige der Zugänge zu nennen, diese lassen aber allesamt die jüdische Theologie Jesu völlig ausser Acht. Dem rabbinischen Denken und der rabbinischen Schriftauslegung wurde bisher in der christlichen Theologie kaum Beachtung geschenkt.
Die christliche Auffassung von der Torah (meist übersetzt mit Gesetz
) macht es manchmal erst recht schwierig, die Aussagen Jesu zu verstehen. Die Torah hat in der christlichen Kirche keinen Stellenwert mehr. Durch die verhängnisvolle Annahme, dass Jesus etwas völlig Neues gelehrt habe und das Judentum damit überholt sei, hat die Kirche das jüdische Erbe verloren. Dadurch ist uns nicht nur ein grosser Schatz verloren gegangen, sondern auch Jesus, der strenggläubige Jude. Als solcher hat er die Bibel und die Überlieferung seiner Zeit gelernt und gelehrt. Jünger oder Schüler Jesu zu sein bedeutete damals und auch heute noch Lernen und Lehren. Deshalb kommt kein ernsthafter Schüler Jesu um eine intensive Auseinandersetzung mit der Bibel und der jüdischen Überlieferung der damaligen Zeit herum. Jesus sagt selber, dass er nicht gekommen sei, die Torah aufzuheben, sondern zu erfüllen. Er hat mit seiner Auslegung die Torah aufgerichtet, d.h. ihr Leben und Kraft vermittelt. Das was in der Bibel mit Jüngerschaft und Nachfolge gemeint ist, ist in der Kirche durch den blossen Glaube an Jesus ersetzt worden. Jüngerschaft bedeutet aber eigentlich intensives Studium der ganzen Bibel und ihrer Überlieferung.
Dieses Buch möchte einen Beitrag dazu leisten, die Bergpredigt im Licht der damaligen jüdischen Überlieferung zu verstehen. Die Bergpredigt wird oft als ethische Norm für Christen bezeichnet. Es ist daher auch schon vieles darüber geschrieben worden. Doch wurde dem damaligen Weltverständnis bisher kaum Beachtung geschenkt. Man geht in der Regel davon aus, dass die Bergpredigt allgemein gültige Normen enthält, die jedermann klar und verständlich sind. Doch sind sie das wirklich? Müssen wir nicht zuerst nach dem Bibel- und Weltverständnis der damaligen Zeit fragen, um die Bergpredigt überhaupt verstehen zu können? Manchmal gleicht die christliche Auslegungsmethode dem Versuch, mit einem Löffel ein Stück Brot abzuschneiden. Das Ergebnis ist entsprechend unbefriedigend. Man braucht zum Brotschneiden ein Messer.
Ebenso braucht man zum Verständnis der neutestamentlichen Texte das richtige Werkzeug. Das Fragen nach den Hörervoraussetzungen, d.i. das, was die damaligen Hörer als Wissen über die Welt mitgebracht haben, ist absolut notwendig. Ebenso unerlässlich ist es, nach dem damaligen Bibelverständnis zu fragen. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Ältere Testament einige Jahrhunderte älter ist als das Neue Testament. Um zu verstehen, was Jesus mit seinen Aussagen wirklich gemeint hat, müssen wir nach den damaligen religiösen Auseinandersetzungen und Schwerpunkten fragen. Auf diesem Hintergrund ist es äusserst spannend, das von Jesus wirklich Gemeinte zu eruieren und sich davon ganz neu ansprechen zu lassen.
- - ein gutes Lernen!
Zürich, im Oktober 2018
Susanne Grether
Lernen und Lehren
"Unter allen Geboten gibt es keines, welches das Torahlernen aufwiegt, umgekehrt aber wiegt das Torahlernen alle anderen Gebote auf. Denn das Lernen führt zur Tat, darum geht allerorten das Lernen dem Tun vor.... Dereinst muss der Mensch zuerst über das Lernen Rechenschaft ablegen, dann über seine übrigen Werke. Darum sagten die Weisen: 'Immerdar beschäftige sich der Mensch mit der Torah, sei es um ihrer selbst willen oder nicht, denn wenn es auch zunächst nicht um ihrer selbst willen ist, so kommt er doch dahin, es um ihrer selbst willen zu tun.'
Wen sein Herz drängt, dieses Gebot gehörig zu erfüllen und mit der Krone der Torah gekrönt zu werden, der wende seinen Sinn nicht anderen Dingen zu, auch hege er nicht den Gedanken, Torah, Reichtum und Ehre zugleich erwerben zu können Sprich nicht: Wenn ich mir Geld zusammengelegt haben werde, dann werde ich wieder lernen, wenn ich mir das, was ich brauche, erworben habe und von meinen Geschäften frei sein werde, dann werde ich wieder lernen! Wenn dir ein solcher Gedanke kommt, so wirst du der Krone der Torah niemals würdig sein. Lege vielmehr dein Lernen fest und tu deine Arbeit nebenher. Sage nicht: Wenn ich frei sein werde, dann werde ich studieren, vielleicht wirst du nie frei sein."
Moshe Ben Maimon
1. Warum die Bergpredigt keine Predigt ist
Lernen und Lehren
Um die Bergpredigt in ihrer eigentlichen Bedeutung zu erfassen, ist es unabdingbar, das Judentum zur Zeit Jesu miteinzubeziehen. Wir Christen lesen das Neue Testament meist ohne Kenntnis der jüdischen Tradition und der hebräischen Sprache. Im Kontext des jüdischen Gedankenguts erhält jedoch so mancher Text eine ganz neue Ausrichtung. Dieses Buch will die Person Jesu sowie seine Aussagen in der Bergpredigt in den Kontext seines Volkes und seiner Zeit stellen und somit helfen, diese Texte als Zeitgenossen Jesu zu hören und zu verstehen.
Die Bergpredigt hat jedoch ihre Vorgeschichte. Diese ist sehr aufschlussreich und liefert uns wichtige Informationen zu den Voraussetzungen der sog. Bergpredigt. Matth. 4, 17 weist darauf hin, dass Jesus seine Lehrtätigkeit schon aufgenommen hatte:
Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen: Tut Busse, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!
Bald darauf erfolgte die Berufung der Jünger. Dies weist uns auf eine wichtige Tatsache hin. Nicht jedermann konnte damals Jünger resp. Schüler¹ berufen. Wer Schüler hatte, musste entsprechend als Lehrer ausgebildet sein. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung zu wissen, dass es bereits im 2. Jh. vor Chr. in Israel ein richtiges Schulsystem gab. In jeder Gemeinde gab es eine Schule, in der die Schüler ab dem sechsten Altersjahr unterrichtet wurden.
Alsdann trat R. Jehoschua b. Gamla auf und ordnete an, dass man Kinderlehrer in jeder Provinz und in jeder Stadt anstelle, denen man (die Kinder im Alter) von sechs oder sieben Jahre zuführe.
²
Sogar die Klassengrösse war festgelegt³:
Ferner sagte Raba: Die Anzahl der Kinder bei einem Lehrer beträgt fünfundzwanzig, sind es fünfzig, so stelle man zwei an; sind es vierzig, so stelle man einen Gehilfen an, und man gewähre ihm eine Unterstützung von städtischen Mitteln.
Die Kinder lernten in der Schule anhand der Bibel und der aramäischen Übersetzungen (Targum⁴) lesen und schreiben⁵. Man unterschied damals in Israel bereits verschiedene Schulstufen:
Der Unterrichtsstoff bestand im Wesentlichen aus der Bibel und ihrer Auslegung:
"Er (Jehuda ben Tema) pflegte zu sagen: Fünf Jahre alt zu Mikra (Bibel von hebr. qara - - lesen, gemeint ist das Alter, um die Bibel lesen zu lernen), zehn Jahre alt zu Mischnah (d.h. Lernen der Gebotsauslegungen), dreizehn Jahre alt zu Gebotsübungen (d.h. Verpflichtung auf die Erfüllung der Torah), fünfzehn Jahre alt zum Talmud(d.h. der Erklärung der Mischnah)..."⁶
Als Schulhaus diente in der Regel die Synagoge oder ein Nebenraum. Das Schulzimmer war mit einer Matte am Boden ausgelegt. Der Lehrer sass in der Mitte mit Bibel und Targum, die Schüler im Kreis um ihn herum. Von diesem Schulsystem profitierte eine breite Öffentlichkeit. Etwas, das im Altertum einzigartig war.
- paschut - einfach). Weil die Bibel das einzige Buch in Israel war und damit auch das einzige Lehrmittel in der Schule, kannten fast alle Leute den hebräischen und den aramäischen Text der ganzen Bibel auswendig!
Zur Zeit des Neuen Testamentsbestand dieses Schulsystem bereits seit längerer Zeit. Daraus kann man schliessen, dass Jesus diese Schulen absolviert hatte. Wie jeder jüdische Knabe ging auch er in die Grundschule. Die Tatsache, dass er Schüler berufen hat, zeigt, dass er nach der Grundschule auch die Oberschule und die Hochschule besucht hat. Nur wer die entsprechende Ausbildung hatte, wurde Rabbi genannt und konnte Schüler berufen, die er wiederum zu Gelehrten ausbildete. Jesus war weit davon entfernt, ein ungebildeter, einfacher Handwerker zu sein. Er war in der Bibel und in der mündlichen Überlieferung, der Mischnah, sehr gut bewandert, was im Neuen Testament immer wieder sichtbar wird. Jesu jüdische Ausbildung war um einiges besser als die von Paulus⁷.
Das Lehrgespräch in der Synagoge
In Matth. 4 , 23-25 wird überliefert, dass Jesus zuerst in Galiläa in den Synagogen lehrte, predigte und Kranke heilte. Dadurch wurde er schnell bekannt und es kamen viele Leute, die ihn hören wollten. Ein Lehrgespräch in der Synagoge fand wie der Unterricht in der Schule sitzend statt: Der Lehrer sass in der Mitte, seine Schüler um ihn herum. Jesus hat mit den Schriftgelehrten und Pharisäern seiner Zeit oft Gelehrtendiskussionen geführt und in den Synagogen Lehrvorträge gehalten. In solchen Gelehrtendiskussionen ging es manchmal recht hitzig zu. Man wollte gemeinsam die Geheimnisse der Torah⁸ erforschen. So besprach man die
einzelnen Gebote der Torah, verglich sie miteinander, grenzte sie gegeneinander ab und versuchte sie nach ihrem Inhalt zu deuten. Es ging in erster Linie darum, die Torah zu aktualisieren und den sich wandelnden Lebensbedingungen anzupassen. Diese Aktualisierung der Torah ist die sog. mündliche Torah, die Mischnah⁹. Sie wurde, wie ihr Name sagt, mündlich weitergegeben. Das hatte seinen Grund darin, dass die Bibel das einzige Buch in Israel war. Ausser der Bibel durfte nichts geschrieben werden. Die ganze Bibelauslegung wurde auswendiggelernt und