Metamorphosen der Macht: Soziologische Erkundungen des Alltags
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Über dieses E-Book
Dietmar J. Wetzel
Dietmar J. Wetzel ist habilitierter Soziologe und ein stets neugieriger Experte in Sachen Macht. In seinen Publikationen, Lehrveranstaltungen und Interviews beschäftigt er sich immer wieder mit theoretischen und empirischen Fragen der Macht, der Herrschaft und der Subjektwerdung. Mit dem vorliegenden Buch legt er seine gesammelten Erfahrungen aus über zwanzig Jahren dar. Er lebt und arbeitet in Bern (meistens) und Lissabon (bislang nur zeitweise, leider). Weitere Informationen unter: www.dietmarwetzel.com
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Buchvorschau
Metamorphosen der Macht - Dietmar J. Wetzel
Vorwort
Seit ich dazu in der Lage bin, mir (Selbst-)Bewusstsein in einem eigenständigen Sinne angeeignet habe, denke ich über das faszinierende Phänomen Macht nach. Mein Weg in die Soziologie, ins Leben generell, wurde ganz wesentlich über Erfahrungen mit Macht und Unterordnung geprägt und befördert. Unsere Begegnungen mit den ‚Metamorphosen der Macht‘ führen zu Transformationen in uns selbst. Gewiss bin ich mit dieser Erfahrung nicht alleine. Die Passion für und die Gespräche über Macht haben mich nie mehr losgelassen. Sie haben mich verwandelt. Entschiedener denn je bin ich ein Verfechter des dialogischen Prinzips, wie wir es aus der Philosophie und der Geistesgeschichte insgesamt kennen. Im Gespräch und im konkreten Austausch mit anderen lernen wir viel über uns, über andere und über die Welt insgesamt. Alleine wären wir dazu nicht im gleichen Masse fähig. Wenn es uns gelingt, mit uns wichtigen Menschen Gespräche auf Dauer zu stellen, gewinnen wir ungemein viel an gemeinschaftlicher Lebensqualität und geteilter Intensität. Vielleicht werden wir sogar mit einer gelingenderen Lebensführung belohnt. Dass ich in dieser Hinsicht reich beschenkt worden bin und werde, verdanke ich vor allem Esther Bernhard, der ich die ‚Metamorphosen der Macht‘ im Sinne der dargelegten soziologischen Erkundungen des Alltags aus diesem Grund (und vielen anderen) widme.
Bern, im Dezember 2018
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Affizierungsmacht
Aktivierungsmacht
Artikulationsmacht
Aufklärungsmacht
Befreiungsmacht
Berechnungs- und Zukunftsmacht
Bewertungsmacht
Bildermacht
Demütige Macht
Deutungsmacht
Distinktionsmacht
Disziplinierungs- und Kontrollmacht
Entscheidungsmacht
Erfahrungsmacht
Exklusionsmacht
Fertigkeitsmacht
Gefühlsmacht
Gemeinschafts- und Gruppenmacht
Gendermacht
Gewohnheitsmacht
Ignorierungsmacht
Imaginierte/ zugeschriebene Macht
Interaktionsmacht, leibliche
Interventionsmacht
Kommunikationsmacht
Konkurrenzmacht
Konsummacht
Körpermacht
Korrumpierende Macht
Kosten-Nutzen-Logik-Macht
Leistungsmacht
Moralisierungsmacht
Normierungsmacht
Objektivitätsmacht
Ohn-Macht
Reaktionsmacht, ethische
Reflexionsmacht
(Selbst-)Behauptungsmacht
(Selbst-)Traumatisierungsmacht
Sozialisationsmacht
Stimmungsmacht
Strategische Macht
Übersetzungsmacht
Unverbindlichkeitsmacht
Vereindeutigungsmacht
Verführungsmacht
Verletzungsmacht
Vermittlungsmacht
Verschleierungsmacht
Verzeihungsmacht
Autor*innenmacht und Dank
Literatur
„Solange jemand nicht selbst etwas tut, wird sein Leben durch die Menschen und
Dinge bestimmt, die darin auftreten."
Cees Nooteboom, Rituale, S.74
„Zur Macht gehört eine ungleiche Verteilung des Durchschauens. Der Mächtige
durchschaut, aber er läßt sich nicht durchschauen. Am verschwiegensten muß er
selber sein. Seine Gesinnung wie seine Ansichten darf keiner kennen."
Elias Canetti, Masse und Macht, S.326
Einleitung
Wenn der grandiose niederländische Autor und Weltenbummler Cees Nooteboom von den „Menschen und Dingen spricht, die uns wesentlich in unserem Handeln und Denken bestimmen, solange wir nicht selber handeln und auch Widerstand aufbringen, sind wir schon mitten im Thema Macht gelandet. Der Romancier und Machtanalytiker Elias Canetti spricht in dem angeführten Zitat von der „ungleichen Verteilung des Durchschauens
, und er hat Recht, wenn er auf diese Asymmetrie hinweist. Ein zentrales Anliegen des vorliegenden Buches ist es, dieses Durchschauen nicht nur dem Überlegenen, sondern dem weniger Mächtigen oder sogar dem Ohnmächtigen anheimzustellen, so dass möglichst viele Menschen besser mit der Macht und ihren Metamorphosen zurechtkommen, denn: Macht ist überall, wer will diese Tatsache leugnen? Ob im persönlichen Dialog, in dem Austausch mit der Chefin, beim Bewerbungsgespräch, an der Kasse im Supermarkt, in der Beratungssituation auf der Bank. Die genannte Liste ließe sich problemlos erweitern. Denken wir, expliziter: Denken Sie einen Augenblick darüber nach, wo Ihnen Macht im Alltag, sei es im Beruf oder in der Privatsphäre begegnet ist. Wo haben Sie sich in der Position des Überlegenen wiedergefunden, und wo fühlten Sie sich auf der anderen Seite, in derjenigen des Unterlegenen, gar des Ohnmächtigen? Obwohl Macht omnipräsent ist, wenngleich wir dies nicht immer bewusst wahrnehmen, sprechen wir nicht gerne über die Phänomene und die Alltagsszenarien der Macht, da diese meistens als Negatives, häufig als etwas Böses interpretiert werden. Wir könnten in puncto Macht von einem veritablen Tabuthema sprechen, was eben damit zusammenhängt, dass Macht fast immer mit etwas Negativem verbunden wird – und dementsprechend auch abgelehnt.
Meine Motivation und Absicht, die den folgenden Überlegungen zugrunde liegen, lassen sich prägnant auf den Punkt bringen: Ich ziele auf Aufklärung in unserem Umgang mit Macht. Als professioneller Soziologe und Alltagsbeobachter beschäftige ich mich seit zwanzig Jahren mit den Erscheinungsweisen der Macht. Die dabei vollzogenen Erfahrungen habe ich in diesem Buch reflektiert und systematisiert, so dass Sie mit Sicherheit in der einen oder anderen Weise davon profitieren werden. Am Ausgangspunkt meiner Betrachtungen zu den ‚Metamorphosen der Macht‘ steht ein ebenso banaler wie manchmal beunruhigender Befund: Es gibt nicht die Macht, sondern viele unterschiedliche Gesichter und „Spuren der Macht" (Röttgers 1990). Es erscheint mir im vorliegenden Kontext insofern nicht zweckmäßig, genau eine soziologische, philosophische oder ökonomische Theorie der Macht zu entwickeln. Mein Zugriff zeichnet sich dadurch aus, dass Einzelfälle im Fokus stehen, hinter denen strukturell wiederkehrende Muster stecken. Von Interesse sind daher nicht nur die unübersehbaren Formen und Erscheinungsweisen der Macht, vielmehr lege ich mein Augenmerk auf die unscheinbaren, indirekten Phänomene, die unseren Alltag durchziehen und die einer Entschlüsselung und Aufklärung durch Analyse bedürfen. Macht hat in meiner Lesart – im Unterschied zu geronnenen Herrschaftsverhältnissen – etwas Flüssiges, oft nicht Greifbares und flottiert zwischen sozialen Beziehungen hin und her. Was ist damit gemeint?
Der Mächtige, der stürzt, wird im nächsten Moment zum Ohnmächtigen und dies gilt auch umgekehrt: Die scheinbar mit wenig Macht ausgestattete Person nutzt die berühmte Gunst der Stunde und bringt Machtverhältnisse ins Wanken, etwa dann, wenn Frauen ihren Chefs nicht nur sexuelle Übergriffigkeit vorwerfen, sondern diese unter der Zuhilfenahme von Zeugen nachzuweisen vermögen. Das Faszinierende an der Macht ist, dass sie soziale Ordnung aufbaut und erhält, ebenso gut aber an der Zerstörung dieser Ordnung mitwirkt (Simmel 1992 [1908]). Der ambivalente Charakter jeglicher Machtbeziehungen durchzieht mal mehr, mal weniger die folgenden soziologischen Erkundungen des Alltags, die sich allesamt den ‚Metamorphosen der Macht‘ verschrieben haben. Ich spreche von Metamorphosen, weil ich das Verwandeln und die dadurch bedingten vielfältigen Erscheinungsformen von Macht in den Blick nehme.
Was ist genau der Gegenstand meiner Betrachtungen? Im Fokus stehen szenische Begebenheiten und Praktiken des beruflichen Alltags, der privaten und der öffentlichen Sphäre, die ich beobachtet habe, denen ich nachgegangen bin, und die bei der Analyse verschiedener Machtformen als empirische Grundlage dienen. Menschen finden sich zeit ihres Lebens in unterschiedlichen Konstellationen wieder und dabei erfahren sie sich vielfältigen sozialen Beziehungen ausgesetzt. Auch Dinge, Artefakte und Ereignisse üben Macht auf ihre Nutzer*innen aus, wie uns beispielsweise das Smartphone oder das Internet deutlich vor Augen führen. Meine Überzeugung lautet: Sobald wir mit anderen Menschen, aber auch mit Tieren oder mit Dingen in Kontakt treten (und das geschieht ja ständig), spielt Macht eine Rolle.
Im Sinne der Einsicht, der zufolge nichts praktischer ist als eine gute Theorie, lege ich nachfolgend einige zentrale theoretische Einsichten dar, die uns mit Grundzügen der Macht vertraut werden lassen. Dies geschieht konkret anhand der Sichtung wichtiger Aussagen von Machttheoretiker*innen aus dem sozialwissenschaftlich-philosophischen Fachgebiet. Dass es die eine Macht(-Form) nicht gibt, ist die grundlegendste Überzeugung, von der diese Essays Zeugnis ablegen. Es existieren aber noch weitere Einsichten, theoretische Differenzierungen und Grundpositionen, auf die ich zumindest in aller Kürze aufmerksam mache:
Die grundsätzliche Bedeutsamkeit und Verschränktheit von Über- und Unterordnungsphänomenen: Allen voran hat der soziologische Klassiker Georg Simmel auf die Phänomene der Über- und Unterordnung hingewiesen: „Der Mensch hat ein inneres Doppelverhältnis zum Prinzip der Unterordnung: er will zwar einerseits beherrscht sein, die Mehrzahl der Menschen kann nicht nur ohne Führung nicht existieren, sondern sie fühlen das auch, sie suchen die höhere Gewalt, die ihnen die Selbstverantwortlichkeit abnimmt, und eine einschränkende, regulierende Strenge, die sie nicht nur gegen außen, sondern auch gegen sich selbst schützt. Nicht weniger aber brauchen sie die Opposition gegen diese führende Macht, sie bekommt so erst, gleichsam durch Zug und Gegenzug, die richtige Stelle im inneren Lebenssystem der Gehorchenden (1992 [1908]: 171). Genau aus diesem „Doppelverhältnis
entzündet sich der ambivalente Charakter von Macht, denn Widerstand und Unterordnung sind nur zwei Seiten, die sich wechselseitig bedingen und in Machtbeziehungen changieren können. Unabhängig davon führt Überordnung, worauf auch immer diese beruhen mag, in vielen Fällen zur Ausbildung einer Positionsmacht, wie sie wohl am eindrücklichsten von Heinrich Popitz in seinen „Phänomenen der Macht (1992) beschrieben worden ist. Macht wird hier qua Stellung in der Hierarchie erlangt, insofern handelt es sich um „positionelle Verfestigungen
(Ebd., 255).
Ökonomische, politische, soziale und symbolische Macht: Die Arbeiten von Pierre Bourdieu (1992) liefern immer wieder Einsichten in grundsätzliche Machtformen, die uns in unserem Alltag begleiten. Ökonomische Macht in der Form von Besitz und (Geld-)Vermögen, politische Macht im Sinne von Mandat und Einfluss, soziale Macht als Netzwerkressourcen und Verbindungen sowie symbolische Macht, mit der wir Anerkennung, Ehre und Prestige einzusetzen vermögen, bilden gleichsam den Nährboden für meine differenziertere Beschreibung der vorgestellten Machtformen.
Macht sollte nicht-normativ und nicht primär aus moralischer Perspektive gedacht werden: Macht ist per se weder gut noch böse. Vielmehr kommt es darauf an, welche Bündnisse sie einzugehen versteht. Dementsprechend beachsichtige ich nicht eine Einteilung der vorgestellten Phänomene und Alltagsszenarien in gute und schlechte Macht. Eine subjektive und damit einhergehend moralische Bewertung lässt sich zwar nicht immer vermeiden, diese wird daher als solche gekennzeichnet und soll nicht die angestrebte und im Vordergrund stehende ‚Analytik der Macht‘ behindern. Hier unterscheidet sich mein soziologischer Zugriff auf Macht von einem normativen, den wir häufig in philosophischen oder theologischen Schriften finden.
Macht ist ein relationaler Begriff: Es wurde verschiedentlich von Theoretiker*innen der Macht festgestellt (allen voran von Weber und Foucault), dass sich Macht und Gegenmacht bedingen. Wird Macht einseitig, dann ‚gerinnt‘ sie zur Herrschaft, die, gefestigter als (fluide) Machtverhältnisse, für klare Verhältnisse unter den Beteiligten sorgt. Weiterführend bestimmt Kurt Röttgers Macht sogar als eine „modale Relation" (1990: 492). Macht steht nicht nur mit der Gegenmacht in einer relationalen Beziehung, sondern darüber hinaus in Beziehung mit anderen Phänomenen und verändert sich je nach Ausgestaltung dieser Beziehungsformen mit. Dadurch eignet Macht eine gewisse Flexibilität.
Die Unberechenbarkeit der Macht: Obwohl es häufig klar zu sein scheint, wer warum über wie viel Macht verfügt, ist Macht wesentlich durch ihre Unberechenbarkeit gekennzeichnet. Ein Argument, eine Geste, eine Unvorsichtigkeit, ein Blick können die Machtverhältnisse vielleicht nicht jederzeit umkehren, aber ins Wanken bringen. Dadurch entsteht eine unbestreitbare Vorläufigkeit aller Macht. Sie kann sich ihrer Wirksamkeit und Geltung, im Unterschied zur Herrschaft, weniger sicher sein. Ihr eignet eine gewisse Prekarität und Fragilität. Zu bedenken wäre in diesem Zusammenhang: Auch Herrschaftsverhältnisse lassen sich ändern, jedoch kommen bei Umstürzen und Revolutionen nicht selten Gewalt zum Einsatz, was die (schwierige) Frage deren Legitimität aufwirft (Snyder 2017).
Der Ermöglichungscharakter von Macht: „Macht ist Möglichkeit" (lat. potestas), heisst es bei Röttgers (Ebd., 492). Inwiefern Macht Dinge ermöglicht, ist Gegenstand mehrerer Essays. Nur so viel sei an dieser Stelle vorweggenommen: Der oder die Mächtige verfügen überwiegend nicht nur über eine, sagen wir ökonomische Machtposition, sondern (und sich ergänzend) über kulturelle, soziale und symbolische Macht (vgl. Bourdieu 1992). Mit anderen Worten: Macht potenziert und konzentriert sich gerne in den Händen von Mächtigen. Diese profitieren vom sogenannten ‚Matthäus-Effekt‘ (Wer hat, dem wird gegeben), der in dieser Hinsicht besagt, dass es dem Mächtigen müheloser gelingt, als dem Nichtmächtigen weitere Macht anzuhäufen.
Der Entzugsmoment von Macht: „Macht entzieht sich: sie verweigert sich dem Handeln-Müssen; sie macht sich unsichtbar; sie liebt es, sich in Repräsentationen auszuspielen" (Ebd., 493). Indem Macht sich entzieht, sich verbirgt und sich verheimlicht, entfaltet sie ihre eigentümliche Kraft. Oft bemerken wir erst in der Rückschau, aus der Distanz, dass Macht in sozialen Begegnungen eine Rolle gespielt hat. In gesicherten Momenten der Macht, die häufig mit Herrschaftsanzeichen einhergehen, kann sich diese zeigen und ihre Repräsentationskraft ausspielen.
Der fiktive oder imaginierte Anteil der Macht: „Die Fiktionen der Macht sind nicht nur notwendig, sondern auch höchst effektiv; die Macht der Fiktionen ist nicht ‚bloß eingebildete‘ Macht (Ebd., 494). Davon wird genauer die Rede sein, inwiefern imaginierte und zugeschriebene Macht zu Effekten und unter Umständen zu nicht beabsichtigen Folgen führen. „Die Machtfiktion generiert in effektiver Weise ein asymmetrisches Verteilungsmuster von Handlungsmöglichkeiten, m.a.W. Macht ist auch eine asymmetrische Relation der Verteilung von Möglichkeiten unter potentiellen Akteuren.
(Ebd., 494f.) Bei einem öffentlichen Gespräch haben faktisch nicht alle die gleichen Chancen zu partizipieren, zumal dann, wenn Zeitdruck herrscht, was bekanntlich oft der Fall ist. Potenziell mächtige Akteure, wenn sie als solche erkannt werden, können mit einer Vorzugsbehandlung rechnen, da von ihnen vergleichbar wichtigeres erwartet wird.
Unbewusste Macht und die Macht des Unbewussten: Oft sind wir uns der Macht, über die wir verfügen, nicht bewusst, d. h., wir üben diese unbewusst oder vorbewusst aus. Davon zu unterscheiden ist die Macht des Unbewussten, wozu wir Triebe, Gefühle, Intuitionen etc. rechnen. In gewisser Weise zählt dazu auch die Macht der Biologie, die auf Effekte unserer genetischen Ausstattung und Disposition rekurriert. Eine nicht immer umstandslos zu beantwortende Frage betrifft das Verhältnis zwischen bewussten und unbewussten Anteilen in unserem Denken und Handeln. Fakt ist: Wir sind keine vollständig rationalen Wesen, die sich nutzenmaximierend und rein egoistisch durch die Welt bewegen (normativ formuliert: Hoffen wir, dass es nie so weit kommen wird).
Macht und Herrschaft müssen begrifflich und konzeptionell voneinander unterschieden werden: Während Macht als fluide und als (potenziell) veränderbare Form zu charakterisieren ist, begreifen wir unter Herrschaft anderes, d.h., Herrschaft ist eine ‚institutionalisierte Form‘ (Weber 1984) der Macht, die als dauerhaft und tendenziell fest oder verkrustet interpretiert werden kann. Machtverhältnisse zu kippen, braucht es im Vergleich zu Herrschaftsverhältnissen, wenig. Aus normativer Sicht lässt sich feststellen: Es könnte für unsere Alltagsverhältnisse, ja für die Gesellschaft insgesamt entscheidend sein, dass Macht- nicht zu Herrschaftsbeziehungen mutieren, da diese zu kritisieren und zu revidieren schwerer fällt.
Die Unmittelbarkeit im Auftreten der Macht: Gegen das In-Erscheinung-Treten der Macht sind wir häufig machtlos. Ihr eignet eine Unmittelbarkeit, die Mechtild Erpenbeck treffend beschrieben hat: „Macht findet im sozialen Raum statt – ob man will oder nicht. In einem relationalen Gefüge ist jedes Mitglied um Wirksamkeit bemüht. Platziert werde ich ohnehin. Einfluss nehmen kann ich nur auf das Wo und Wie. Die Aushandlung einer Rangordnung – wie unsichtbar und implizit sie auch immer sein mag – beginnt unversehens, sobald Menschen mit Menschen zu tun bekommen. Sobald ich einen Raum betrete, in dem andere Menschen sind, beginnt die unwillkürliche Einordnung." (Erpenbeck 2018: 37)
Diesen theoretischen Einsichten folgend, analysiere ich 50 Machtformen genauer, indem ich diese mit einem soziologischen Blick zu entschlüsseln versuche. Dabei stehen Alltagssituationen und die darin vorkommenden Praktiken im Vordergrund. Vergessen wir dabei nicht das Folgende: Alle Situationen und Praktiken sind eingebettet in institutionelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die dadurch ebenfalls erläuterungsbedürftig werden. Mir kommt es darauf an, Sie als Leser*innen für Macht in unterschiedlichen Konstellationen in unseren Gesellschaften zu sensibilisieren. Ein Einstieg ist prinzipiell mit jeder Machtform denkbar, da diese nicht logisch aufeinander aufbauen. Jedoch enthält die untersuchte Machtform gelegentlich Verweise auf weitere Machtformen, so dass sich eine Lektüre des ganzen Buches anbietet, um die gezogenen und markierten Querverweise im Einzelnen nachvollziehen zu können. Im Übrigen ist das Buch nicht nur prinzipiell von jeder Machtform aus erschließbar, sondern erhebt darüber hinaus keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Eine Idee (und Möglichkeit in der heutigen Publikationslandschaft) besteht genuin darin, weitere Machtformen gegebenenfalls einzubauen und die bereits bestehenden zu ergänzen. Lesen Sie aber, am besten gleich zu Beginn, das Einleitungskapitel, so dass Sie einen Einblick in mein Machtverständnis erhalten. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine erhellende und anregende Lektüre!
Affizierungsmacht
Die Macht, etwas oder jemanden zu affizieren beziehungsweise umgekehrt von etwas oder jemandem affiziert zu werden, ist eine ebenso bedeutsame wie auch ein wenig unheimliche Machtform. Ein spezifisches Affizierungsverhältnis besteht, wenn wir (Eigen-)Resonanz leiblich spüren (Wetzel 2014). Wir geraten in Schwingungen mit uns und/oder mit anderen, d.h. wir schwimmen auf der gleichen Wellenlänge, fühlen einen vorherrschenden ‚groove‘ etc. Mit ein wenig Gespür gelingt es uns, Dimensionen und Ausprägungen der Affizierungsmacht genauer in den Blick zu bekommen. Wie lässt sich Affizierungsmacht begreifen? Welche Beispiele kennen wir aus dem eigenen Alltag? Warum ist es manchmal schwer, sich der Macht der Affizierung zu entziehen? Und warum gelingt es uns dagegen