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Havelreime: Brandenburg-Krimi
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eBook242 Seiten3 Stunden

Havelreime: Brandenburg-Krimi

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Über dieses E-Book

Sieben kleine Sünderlein begegnen einer Hex … Mit solchen Reimen kündigt die geheimnisvolle Gini ihre Morde an. Sie schickt sie an Barrus, den einzigen Privatdetektiv, der im Jahr 1998 in Brandenburg seine Dienste anbietet. Mit Hilfe seiner Freunde, der "Sonntagsrunde", versucht er zunächst vergebens, die Mordserie zu stoppen. Drei Opfer gibt es schon. Nur in Zusammenarbeit mit dem neuen Hauptkommissar der Brandenburger Kripo, Andrea Manzetti, gelingt es ihnen, hinter Ginis schreckliches Geheimnis zu kommen, das sie weit in die Geschichte der DDR zurückführt.
SpracheDeutsch
HerausgeberProlibris Verlag
Erscheinungsdatum5. Nov. 2018
ISBN9783954751938
Havelreime: Brandenburg-Krimi

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    Buchvorschau

    Havelreime - Jean Wiersch

    Info

    Jean Wiersch

    Havelreime

    Brandenburg-Krimi

    Prolibris Verlag

    Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.

    Alle Rechte vorbehalten,

    auch die des auszugsweisen Nachdrucks

    und der fotomechanischen Wiedergabe

    sowie der Einspeicherung und Verarbeitung

    in elektronischen Systemen.

    © Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2018

    Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

    Titelbild: © Daniel Mikulla, Brandenburg

    Kinderfoto © gabrielefusetto - adobe stockfoto

    Schriften: Linux Libertine

    jr!hand by www.fontframe.com/tepidmonkey

    anke print by www.anke-art.de

    E-Book: Prolibris Verlag

    ISBN E-Book: 978-3-95475-193-8

    Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.

    ISBN: 978-3-95475-185-3

    www.prolibris-verlag.de

    Der Autor

    Jean Wiersch, Jahrgang 1963, gehört seit 1994 der Polizei des Landes Brandenburg an. Er lebt mit seiner Frau inmitten der Mark Brandenburg, am Ufer des wunderschönen Beetzsees. In der wasser- und waldreichen Region westlich von Berlin spielen auch seine bislang sechs Kriminalromane, die bereits im Titel einen deutlichen Bezug zu seiner Heimat tragen, der Havel:

    Havelwasser, Havelsymphonie, Haveljagd und Havelgeister mit dem Ermittler Andrea Manzetti, Havelbande und Havelgift mit Jo Barrus und nun Havelreime, in dem Manzetti und Barrus gemeinsam einen Fall lösen.

    Prolog

    Juni 1953

    Schwere Wolken bestürmten die Stadt. Sie bedrohten die Straßenzüge, waren Vorboten des nahenden Unwetters. Der Regen peitschte bereits über die Dächer, hinterließ feuchte Kühle. Ein grotesker Juni, der die Menschen hinter Fenster verbannte oder in warme Jacken zwang.

    Auch die Frauen in den Hallen des VEB Feinjute trugen ihre Winterpullover, manche hatten sogar Mützen aufgesetzt oder Stirnbänder aus dicker Wolle über die Ohren gezogen. Das half zumindest gegen die kriechende Kälte, nicht aber gegen den dröhnenden Maschinenlärm. Dem war kein Kraut gewachsen.

    Arbeitsbedingungen waren das! Wie im Mittelalter. Und trotzdem sollten sie immer mehr schaffen, immer mehr Garn spinnen, immer mehr Stoffe weben. Die Strickmaschinen durften nicht stillstehen, auf gar keinen Fall, egal wie es den Frauen dabei ging.

    Sklaverei – das hatten sie gestern in der Frühstückspause einstimmig beschlossen – Sklaverei sei das, was sich hier im Betrieb abspielte. Nicht einmal die Gewerkschaft schien noch auf ihrer Seite zu stehen. »Menschenschinder seid ihr!«, hatte Ingrid dem Gewerkschaftsfunktionär zugerufen. »Nichts weiter als Menschenschinder.« Und alle hatten sie applaudiert. Auch sie, die junge Frau, die Gini genannt wurde, hatte lauthals Beifall geklatscht.

    Und heute? Heute war der Platz an Ingrids Strickmaschine leer. Abgeholt hatten die sie. Mitten in der Nacht. Ohne Worte. Einfach so mitgenommen. Wie damals die Gestapo.

    Gini schaute zur Uhr über der großen Eingangstür. Halb elf. Seit sieben streikten die Arbeiter der Bau-Union im Stahl- und Walzwerk. Ein Streik! Unvorstellbar im real existierenden Sozialismus. Aber Hans, der Beifahrer der Spedition Pfaffe, der jeden Morgen die fertigen Garnrollen und Stoffballen des Vortages abholte, der wusste es ganz genau. Er hatte ihn mit eigenen Augen gesehen, den Zug der wütenden Arbeiter. Die Kollegen des Schlepperwerkes und der Volkswerft hatten sich angeschlossen. Eintausend Demonstranten – Wahnsinn!

    Doch es gab bereits Festnahmen, hatte Hans hinter vorgehaltener Hand erzählt. Einen Ulli zum Beispiel, den Ulli Tettenborn, den sollen sie bereits eingesperrt haben.

    Gini kannte diesen Ulli Tettenborn nicht. Aber was spielte das in diesen Tagen auch schon für eine Rolle? Es war egal, ob man sich kannte. Sie alle, die sie in den Fabriken malochten, waren Gleichgesinnte. Sie alle litten unter demselben Joch, waren gleichermaßen betroffen von der Entscheidung der Parteiführung. Und die war eindeutig. Zehn Prozent mehr! Zehn Prozent! Das stelle man sich mal vor. Und das bis zum 30. Juni, dem 60. Geburtstag von Walter Ulbricht.

    Aber jeder wusste, das war nicht zu schaffen. Von niemandem.

    Und der Lohn? Der blieb niedrig. Der wuchs nicht mit. Ausbeutung war das, reine Ausbeutung, fand Gini.

    Darüber hatten sie sogar gescherzt. Bitter.

    »Im Kapitalismus gibt es die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen«, hatte der Gewerkschafter ihnen zugerufen. »Ja, ja«, hatte Ingrids Antwort gelautet. »Und im Sozialismus ist es genau umgekehrt.«

    Aber trotz Scherzen blieb es eine Riesensauerei. Und so mussten auch die Arbeiter im Stahlwerk zehn Prozent mehr bringen.

    »Darüber haben sie diskutiert«, wusste Hans zu berichten. »Und dem Tettenborn, dem hat das zu lange gedauert, das Diskutieren. Er wollte auf die Sirene drücken, um sie alle aufzufordern, das Werk zu verlassen. Nur kam es nicht so weit. Noch bevor Tettenborns Finger den Knopf berührten, hatte ihn der Werkschutz gepackt.«

    Aber nun marschieren sie doch, dachte Gini, und rieb sich erfreut wie ein kleines Kind die Hände und blickte wieder auf die Uhr. Gleich würde es zur nächsten Pause bimmeln und sie würde versuchen, etwas Neues zu erfahren.

    Und dann war es endlich so weit. Mit dem Klingeln rannten sie alle zusammen.

    »Habt ihr was gehört? Wo sind sie jetzt? Haben sie die Parteizentrale schon erreicht?«

    Die Fragen überschlugen sich.

    »Man sagt, sie sind zum Amtsgericht unterwegs«, wusste jemand. »Zur Untersuchungshaftanstalt in der Steinstraße. Die Eingangstür sollen sie eingedrückt haben. Und Richter Benkendorff hat nach der Polizei telefoniert.«

    Auch Harry Benkendorff kannte Gini nicht persönlich. Nur vom Hörensagen, was kein gutes war. Die Bevölkerung hasste den Richter. Zu hart seine Urteile, viel zu hart. Insbesondere gegen sogenannte Staatsfeinde. Viele Brandenburger hätten Benkendorff in diesen Tagen gerne hängen sehen.

    »Sie sind jetzt beim Volkspolizei-Kreisamt«, rief eine der Frauen, die in der Verpackung arbeiteten.

    Da überlegte Gini blitzschnell. Die Volkspolizei war hier gleich um die Ecke. Nur ein guter Kilometer.

    Und dann rannte sie auch schon los. Vorbei am Pförtner, raus auf die Bauhofstraße, Luckenberger Brücke, Puschkinplatz, Magdeburger Straße.

    Nun stand sie vor der aufgebrachten Menge. Ihr Herz schlug wie wild. Ein Anblick, der Gänsehaut auf ihre Arme trieb. Hunderte Menschen drängelten sich vor dem Polizeigebäude. Zumeist Männer. Und fast alle hatten die Fäuste in den Himmel gereckt. So etwas hatte Gini zuletzt vor acht Jahren erlebt. Im Mai 1945. Da rannten Frauen, Kinder und alte Männer durch die Straßen, reckten die Arme in die Luft. »Vorbei! Vorbei! Der Krieg ist vorbei!«, hatten sie gerufen damals.

    Als Gini sich dem Polizeigebäude näherte, erkannte sie einzelne Gesichter. Polizisten, die auf der Treppe standen. Jung waren sie, sehr jung. Und sie versuchten, die entfachte Menge zurückzudrängen.

    Dann erstarrte Gini. Was macht der denn da, schoss es ihr in den Kopf. Nein! Tu das nicht! Um Himmels willen.

    Keine zwanzig Meter von ihr zog ein Polizist seine Waffe und ballerte in die Luft. Was sollte denn das? Hoffte er etwa, so die Menge beruhigen zu können? Fehlanzeige! Die ersten Arbeiter hatten ihre schweren Schuhe schon auf die unterste Treppenstufe gesetzt, und von hinten drückten unerbittlich die anderen nach.

    Gini ließ den Polizisten nicht aus den Augen. Auch er war jung. Vielleicht zwanzig. Und er hatte Angst, das stand klar und deutlich in seinem Gesicht. Und aus dieser Angst heraus nahm er den Arm herunter und schoss ein weiteres Mal. Dieses Mal in die Menge, dieses Mal schoss der Polizist auf Menschen.

    Gini zerriss es fast die Brust. Sie begann zu schreien. Neben ihr stürzte ein junger Mann zu Boden. Er schrie nicht, er fiel nur, und er blutete am Kopf. Der Polizist hatte den Mann getroffen!

    Da gab es für Gini kein Halten mehr. Sie drängte nach vorn, hin zur Treppe, und immer wieder rief sie: »Mörder, Verbrecher! Los, stürmt das Gebäude! Ihr Scheißverbrecher!«

    Als sie an der untersten Stufe angekommen war, schlug sie wie wild um sich. Sie stieß einfach drauf los. »Ihr verdammten Mörder!« Ihre Hände trafen wahllos Uniformen, mit aller Kraft. Endlich war sie an der Tür, drängte weiter, immer weiter, von unbändiger Wut vorangetrieben; griff zu, riss ein Plakat von der Wand und einen Radioapparat zu Boden.

    Und dann spürte sie nur noch den harten Schlag. Das Krachen hinten an ihrem Kopf.

    1

    November 1998

    Manchmal passieren Dinge, von denen man später meint, dass es sie gar nicht gegeben habe, dass sie Produkt der Fantasie begnadeter Erzählerinnen sind, quasi das Werk einer Scheherazade unserer Zeit. Und trotzdem machen diese Dinge die Runde, meist sogar die ganz große. Es beginnt regelmäßig in der Nachbarschaft, sozusagen direkt am Ohr von Frau Kamischke. Dann erwischt es Frau Blechinger von nebenan. Und da der Gatte der Frau Blechinger sich nicht zu schade ist, es Herrn Schmabutzke anzuvertrauen, seinem Kollegen an der Wurststrecke im Schlachthof, läuft die Geschichte ab da rasant von einem Ohr zum nächsten. Unaufhaltsam. Auch vor Stadtmauern macht sie nicht halt, landet sogar im kleinen Städtchen Rathenow, wo die Schmabutzkes seit annähernd drei Generationen ihren Wohnsitz haben. Und wenn die mittlerweile zur Dichtung mutierte Erzählung eines Tages wieder bei Frau Kamischke in Brandenburg anlangt, dann glaubt die Gute steif und fest, dass es eine neue Geschichte ist, die sie da hört, weil mit der alten, mit der, die sie einmal auf den Weg gebracht hatte, hat die jetzt rein gar nichts mehr zu tun. Sie ist mittlerweile so verändert, dass sie niemand wiedererkennt, selbst die geschichtenaffine Frau Kamischke nicht. Stille Post.

    Und so oder so ähnlich war es auch mit dem, was Jo Barrus an diesem Herbsttag passiert ist. Kaum jemand spricht noch davon, weshalb es hier erzählt sei, etwas verändert nur, obwohl Frau Kamischke selbst vor dem Jüngsten Gericht Stein und Bein schwören würde, alles genauso aus sicherer Quelle erfahren zu haben, quasi jedes einzelne Wort, für das sie ihre Hand sogar ins Fegefeuer legen würde. Und sie habe nichts, also rein gar nichts, nicht mal einen noch so winzigen Buchstaben hinzugefügt, geschweige denn weggelassen. Schließlich, und darauf war Frau Kamischke sehr stolz, habe sie das überhaupt nicht nötig, ist sie doch die unmittelbare Nachbarin des Herrn Barrus, seines Zeichens erster und einziger Privatdetektiv der Stadt. Weshalb also bitteschön sollte sie da ihre eigene Fantasie bemühen? Pah! Üble Nachrede so was.

    Und so wusste Frau Kamischke an jenem grauen Novembermorgen des Jahres 1998 ganz genau, dass der Herr Barrus, der ansonsten immer recht früh auf den Beinen war, was sie durch die dünnen Wände immer sehr gut hörte, dass der Herr Barrus also an jenem Morgen noch nicht aufgestanden war. Und das konnte nur einen Grund haben, wie Frau Kamischke fand. Einen einzigen. Nämlich, dass der Herr Barrus schwer am Grübeln war. Angestrengt am Grübeln. Wahrscheinlich grübelte er über einen neuen Fall, der ganz bald, davon war Frau Kamischke überzeugt, in der Zeitung landen würde.

    Und genauso war es auch. Fast jedenfalls, weshalb bereits hier redaktionell eingegriffen werden muss, denn der Barrus lag zwar wirklich regungslos in seinem Bett und grübelte, allerdings nicht über einen neuen Fall. Aber er grübelte, insofern Frau Kamischke nicht in Gänze Unrecht hatte. Und dieses Grübeln war ein seltsames, eines, das den Detektiv seit beinahe einer Stunde beschäftigte. Doch es ging, wie gesagt, nicht um einen neuen Fall, auch wenn Frau Kamischke das so gern gehabt hätte, schon wegen der Frau Blechinger. Es ging um etwas ganz anderes, etwas Profanes. Es ging um ihn. Um Jo Barrus selbst.

    Und genau das hinderte ihn an diesem Morgen am Aufstehen, verdammte Scheiße noch mal. Dabei wäre es ganz einfach gewesen für den Barrus. Raus die Beine, erst das rechte, dann das linke, und auf mit dem ungelenken Körper, hoch in die Senkrechte.

    Doch so simpel war er nicht gestrickt, der Barrus. Und er tat gut daran, denn er fühlte etwas, und das eben ließ ihn angestrengt grübeln. Ein Gefühl war das, dass einem das Speihen kommen konnte, wenn grausame Gedanken den Verstand traktieren. Es war an diesem Morgen nämlich etwas nicht so, wie es sonst gewesen war. Und das ertrug der Barrus schon immer nur schwer. Veränderungen. Das Einmischen des Schicksals in alte Gewohnheiten. Wie ihm das zuwider war.

    Also machte der Barrus das, was er am besten konnte, und zwar fluchen. Er schrie laut Scheiße, so laut, dass Frau Kamischke auch wirklich jeden Buchstaben verstehen musste, und riss die Augen auf, starrte auf den Wecker, als hätte der ihn gerade zutiefst beleidigt. Halb sieben. Und nun? Das war es nicht, was anders war an diesem Morgen. Denn der Barrus wurde fast immer zwischen halb sechs und halb sieben wach – Macht der Gewohnheit.

    Normalerweise rollte er sich dann nach rechts und schob in dem Moment, da sich sein Oberkörper in die Senkrechte brachte, die Füße in die vor dem Bett wartenden Latschen. Nur eben an diesem Tage nicht. Da war, wie schon gesagt, etwas anders, irgendetwas war nicht wie immer. Aber was, verdammt noch mal? Himmel, Arsch und Zwirn!

    Um das herauszufinden, braucht man im Grunde nur alles so zu tun, wie man es ansonsten jeden Morgen zelebriert. Allerdings nur bis zu dem Moment, bei dem man nicht mehr weiterkommt mit der getreuen Wiederholung. Und das ist dann der Umstand, nach dem man gesucht hat, der Augenblick, bei dem etwas anders ist, bei dem einem, wie in der Bibel beschrieben, das Licht aufgeht.

    Und da der Barrus als Detektiv ein kluger Kopf war, kam auch er auf diese grandiose Idee. Er begann also mit den Handlungen, die er jeden Morgen vollzog, und dies ganz der Reihe nach.

    Als Erstes rieb er die Zunge gegen den Gaumen. Gleich mehrmals. Dann schob er sie nach vorn an die Schneidezähne und weiter, bis sie zwischen den Lippen in die Freiheit drängte. Bestimmt hätte es ihn gefreut, wenn Zunge und Gaumen zu dem Schluss gekommen wären, dass er am Abend zuvor ein wenig zu tief ins Glas geschaut hatte. Das nämlich wäre ein Ergebnis gewesen. Obwohl, es hätte ihn an dieser Stelle auch nicht weiter gebracht. Denn ein wenig Wein zu viel wären für den Barrus nicht das gewesen, was er als anders zugelassen hätte. Nicht, dass er jeden Morgen mit einem Brummschädel wach wurde, aber außergewöhnlich …? Nein, etwas Außergewöhnliches wäre das nicht. Und da Zunge und Gaumen sich an diesem Morgen nicht auf ein gleichklingendes Votum einigen konnten, war der Barrus gezwungen, weiterzusuchen.

    Als Nächstes zog er ganz vorsichtig das rechte Bein unter der Bettdecke hervor. Er hob es so weit an, wie seine steifen Knochen das zuließen, ohne dass Muskeln oder Sehnen rissen. Und er ließ es wieder nach unten fallen, das Bein. Und?

    Ein kurzes Verharren, ein Funke im Gehirn. Dann war es da, das Andere. Endlich.

    Noch einmal hob der Barrus das Bein, und noch einmal ließ er es fallen.

    Ja, das war es. Unverkennbar.

    Er hob beide Hände und klatschte sie gegeneinander. Noch einmal, noch einmal und wieder und wieder. Der Barrus applaudierte wie ein kleines Kind im Zirkus und quiekte wie ein Ferkel.

    Nun wusste er endlich, was heute anders war. Und es war eine bittere Erkenntnis, die seine gerade erst nach oben gewanderten Mundwinkel augenblicklich nach unten zog. Eine Erkenntnis, auf die man an einem lichtscheuen Novembermorgen nicht unbedingt wartet. Auch der Barrus nicht. Eine Erkenntnis, von der man hofft, sie gehe an einem vorüber wie die Vorhölle oder wie die Neugier der Frau Kamischke, was irgendwie das Gleiche zu sein schien.

    Und als die Freude gewichen war, blieb ohne Zweifel der Umstand im Raum stehen, dass er nichts mehr hörte. Der Barrus war taub. Und er war entsetzt. Entsetzt darüber, dass er taub war.

    Wie würde es jetzt weitergehen mit ihm? Wie würde sein künftiges Leben aussehen? Wie würde er mit Hildi kommunizieren, mit Berit, mit Imre, mit der Sonntagsrunde? Konnte er das überhaupt noch? Vielleicht mit kleinen Zetteln, wie damals in der Schule – (Willst du mit mir gehen? Ja – Nein – Mal sehen). Oder würden sie allesamt die Gebärdensprache erlernen müssen?

    Wieder klatschte der Barrus in die Hände. Und immer noch hörte er nichts, rein gar nichts.

    Endlich stand er auf und schlurfte ins Bad. Vor dem Spiegel drehte er den Kopf erst nach links, dann nach rechts. Allerdings war das nichts weiter als vergebene Liebesmüh. Es gelang ihm nämlich trotz kunstvollster Verrenkungen nicht, ins Innere der Ohren zu schauen. Wie auch? Immer wenn die Gehörgänge des Barrus im Spiegel auftauchten, hatten seine Augen diesen schon wieder aus dem Blick verloren. Warum war er nicht als Chamäleon auf die Welt gekommen? Himmel, Arsch

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