Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Post mortem: Kriminalroman
Post mortem: Kriminalroman
Post mortem: Kriminalroman
eBook456 Seiten6 Stunden

Post mortem: Kriminalroman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Erst taucht sein abgetrennter Finger in der Tagespost auf, dann wird der Briefträger tot am Straßenrand gefunden.

Eigentlich sollte Thomas Meinert ihn nur vertreten. Er kann sich aber gar nicht dagegen wehren, immer mehr in das Leben seines toten Kollegen hineingesogen zu werden. Zusammen mit der Tochter des Opfers beginnt eine aufregende Spurensuche auf der klar wird, dass die braune Vergangenheit der Deutschen selbst heute noch deren Gegenwart mitbestimmt.

Ganz bewusst treten sie gemeinsam das geheimnisvolle Erbe des Briefträgers an, obwohl es für alle anderen Begünstigten bisher tödlich endete.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Juli 2018
ISBN9783945458266
Post mortem: Kriminalroman

Mehr von Andreas Schnabel lesen

Ähnlich wie Post mortem

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Post mortem

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Post mortem - Andreas Schnabel

    machen.

    1

    Hermann Schmitz schreckte im Bett hoch. Das Geräusch, von dem er aufwachte, verursachte eindeutig die Klappe des Briefkastens. Er sah verwundert auf den Funkwecker. Viertel vor fünf. Das konnte noch nicht einmal die Zeitung sein. Der Gemeindebrief wurde manchmal spätabends vom Küster eingeworfen, wenn der mit dem Hund Gassi ging. Um diese Zeit war das aber noch nie geschehen. »Kann es so eine Töle eigentlich auch an der Blase kriegen?«, murmelte er und verließ missmutig das Bett. Der alte Briefträger hatte einen leichten Schlaf und wachte dementsprechend oft auf. Es musste in Hücheln nur mal eine Fehlzündung geben und schon stand Schmitz senkrecht im Bett. Um danach wieder einschlafen zu können, bedurfte es eines Glases warmer Milch. So oft, wie er den Gang nachts machte, kannten seine Füße den Weg ohne sein Zutun. Er musste weder nachdenken noch Licht machen. Die Bewegungsabläufe waren immer dieselben. In dieser Nacht hingegen war er hellwach. Dass sich jemand nachts am Briefkasten zu schaffen machte, war zu ungewöhnlich. Vorsichtig schlich er in die dunkle Küche und versuchte, durch den Spalt zwischen Jalousie und Blumenkasten hindurch zu erspähen, ob da eine Person vor der Haustür zu sehen war. Er öffnete das Fenster. »Hallo? Ist da wer?« Aufmerksam lauschte er in die Nacht hinaus, aber es tat sich nichts weiter, als dass die Vögel zaghaft mit ihrem Morgenlärm begannen. Nun etwas forscher, zog er die Jalousie hoch und streckte seinen Kopf hinaus. Alles blieb ruhig. Er verschloss das Fenster, ließ die Jalousie wieder so weit herabgleiten, dass sie die Blumen nicht beschädigte, ging zur Haustür und öffnete sie. Er hatte keine Ahnung, wo die beiden Männer herkamen, die ihn überrumpelten, als sie ihn ins Haus zurückstießen. Schmitz konnte sich gerade noch mit einer Hand an der Zarge der Küchentür festhalten, sonst hätte er das Gleichgewicht verloren. »Was wollen Sie von mir? Hier gibt es nichts zu holen!«

    »Das wissen wir bereits«, antwortete einer der beiden und zog eine Pistole aus seinem Hosenbund. Der andere verschloss leise die Haustür von innen.

    »Und was wollen Sie dann bitteschön von mir?«

    Der Mann schraubte seelenruhig einen Schalldämpfer auf die Mündung der Waffe. »Sie werden uns helfen, ein Zeichen zu setzen.«

    Schmitz war ratlos. »Ein Zeichen? Ausgerechnet ich? Ich bin Briefträger und sonst nichts. Ich weiß nicht, ob das für ein Zeichen reicht.« Er versuchte, sich hinter den Strumpfmasken der Männer deren Gesichter vorzustellen. Er würde sie mit Sicherheit aus der Verbrecherkartei der Polizei heraussuchen müssen. »An was dachten Sie denn dabei?«

    Der Mann zielte aus einem Meter Entfernung auf die Stirn des Briefträgers und unter dem Stoff vor seinem Mund schien sich so etwas wie ein Lächeln abzuzeichnen. »Machen Sie sich keinen Stress, guter Mann. Es reicht uns schon völlig, wenn Sie tot sind.«

    Hermann Schmitz hatte keine Zeit mehr, die Unfassbarkeit dieser Worte zu begreifen. Er hörte noch nicht einmal das Plopp, als sich der tödliche Schuss aus der Waffe löste und das Projektil ein sauberes Loch in seine Stirn stanzte.

    ***

    Morgens um halb sieben glich das Briefzentrum Köln-West einem Bienenstock. An den Laderampen der LKWs herrschte Rushhour. In der Halle quirlte alles durcheinander, obwohl der Schritt eines jeden Einzelnen exakt geplant und sämtliche Arbeitsabläufe genauestens aufeinander abgestimmt waren. Die Szenerie musste auf einen Außenstehenden wie ein unbeherrschbares Tohuwabohu wirken. Hinzu kam der infernalische Lärm der Sortiermaschinen, der die verbale Kommunikation der Mitarbeiter untereinander nahezu unmöglich machte. Es gab auch nicht viel miteinander zu reden, dafür hatte niemand Zeit. Um spätestens acht Uhr mussten die Übergabepunkte, von denen aus die Briefträger starteten, mit der sortierten Post beliefert sein.

    Thomas Meinert, siebenunddreißig, schlank, aber mit knapp drei Kilo über seinem Idealgewicht eindeutig zu fett, wie er fand, war Briefzusteller bei der Deutschen Post AG in Frechen bei Köln. Er hatte heute seinen Schnuppertag im Sortier- und Aufbereitungszentrum an der Europa-Allee. Das war die neueste Idee seiner Bosse aus Bergheim. Dort saß die für ihn verantwortliche Stellenleitung. Eigentlich war es gar nicht so schlecht, einmal alle Arbeitsabläufe aus nächster Nähe miterleben zu können, wenn er nur richtig mithelfen könnte. So wirkte er planlos in diesem Gewimmel, staunte und hatte ständig das Gefühl, überall dort, wo er stand, zu stören. Als er zufällig zwei Schwingen Kurzbriefe entdeckte, die für einen Bezirk bestimmt waren, den er kannte, begleitete er sie ins Setzzentrum, das sich auf dem gegenüberliegenden Gelände befand. Zum ersten Mal stand er vor seinem Spind. So nennen die Postler das Regal, in das jeden Morgen die Post einsortiert wird. Er nahm sich eine Handvoll Briefe, doch obwohl er die Straßen und die Gangfolge genau kannte, dauerte das Setzen bei ihm erheblich länger als bei den Stammkräften. Erneut hatte er das Gefühl, den Betrieb mehr aufzuhalten, als dem Ablauf dienlich zu sein. Wortlos und mit einem mitleidigen Blick nahm ihm eine Kollegin das Bündel Briefe aus der Hand und beendete seine Arbeit in einer derartigen Geschwindigkeit, dass es Meinert allein vom Zusehen schwindelig wurde. So blieb ihm wieder nichts anderes übrig, als störend herumzustehen.

    Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter. »Bist du der Kollege aus Frechen, der heute einmal zusehen soll?«

    Meinert nickte. »Ja, stehe ich schon wieder im Weg?«

    »Mir nicht«, kam es trocken zurück. »Aber du sollst rüber ins Sortierzentrum kommen. Der Betriebsleiter hat jetzt Zeit für dich.« Meinert betrat erneut die Riesenhalle und war sofort wieder von dem Gewusel und dem infernalischen Lärm gefangen. Da er das Büro leer fand, stellte er sich davor und wartete auf den Betriebsleiter, der ihm die funkelnagelneuen Sortiermaschinen für das ›Langholz‹ erklären wollte. Sie waren der ganze Stolz von Herrn Klagendorff und er ließ es sich nicht nehmen, die Führungen selbst vorzunehmen. Das wurde jedem Gast schon so angekündigt. Meinert musste zugeben, dass der Stolz des Mannes nicht unberechtigt war. Vor allem in Aktion waren die Maschinen in Lautstärke und Dimension beeindruckend. Während er auf den Chef wartete, überlegte er, wie und vor allem womit er die Kolleginnen und Kollegen des Sortierzentrums, wenn sie einmal an ihrem Schnuppertag ihm und seinem Bezirk zugeteilt werden würden, ebenso beeindrucken könnte. Doch da sah er schwarz. Mit seinem ziemlich rostigen Post-Bike würde ihm das kaum gelingen.

    Nach seiner Ausbildung als Zusteller bei der Post war er mit neunzehn zur Bundesmarine gegangen und hatte sich dort für fünfzehn Jahre verpflichtet. Um auf seiner Fregatte nicht ganz zu verblöden, holte er am Internetkolleg der Bundeswehr erst seine mittlere Reife und dann sein Abitur nach. Vier Jahre später hatte er sogar seinen Ingenieur für Schiffsbau und Schiffstechnik in der Tasche. Erst waren seine Vorgesetzten darüber nicht sonderlich glücklich, aber nach diversen Eingaben wurde er vom Oberbootsmann doch noch zum Oberfähnrich zur See befördert und schlug endlich die Offizierslaufbahn ein. Vor einem knappen Jahr war seine Dienstzeit abgelaufen und der frischgebackene Leutnant zur See suchte eine neue Herausforderung. Eigentlich wollte er weiter die Meere befahren, doch als deutscher Seemann hatte er gegen die vielen Filipinos, die für ’n Appel und ’n Ei anheuerten, keine Chance. Selbst mit seinem frischen Kapitänspatent wurden ihm junge Ingenieure aus dem Ostblock vorgezogen. Seine Bewerbung bei der Bundespolizei, genauer gesagt bei der Küstenwache, war zwar unter Dach und Fach, doch eine Stelle gemäß seines Dienstranges war augenblicklich nicht frei. Nun schmorte Meinert seit geraumer Zeit auf der Warteliste und träumte in Momenten wie diesem von der weiten See, die auf ihn wartete.

    »Herr Meinert«, brüllte ihm plötzlich jemand von hinten ins Ohr. Er zuckte zusammen und drehte sich abrupt um. »Halten Sie ein kleines Nickerchen oder können wir beginnen?«

    »Sie sind Herr Klagendorff?«

    Der Mann nickte.

    »Entschuldigen Sie bitte. Ich bin derartig von Ihrem Reich beeindruckt, dass ich Sie gar nicht kommen sah.«

    Meinert hatte den richtigen Ton getroffen, das konnte er an den sich entspannenden Gesichtszügen des schon recht betagten, aber noch immer agilen Abteilungsleiters sehen. »Tja, das kann ich Ihnen nachsehen. Mir ging es anfangs nicht anders. Noch heute stehe ich manchmal dort oben. Immer dann, wenn der Wartungstrupp mit seinen Hebebühnen da ist.« Klagendorff zeigte auf die Laufbänder über ihnen, von denen sich einige an der Hallendecke entlangschlängelten.

    »Die sind nur für die vielen gelben Postkisten, oder läuft darauf auch etwas anderes in die Hallen?«

    »Darauf werden nur die Schwingen, wie wir sie nennen, die an der Rampe abgeladen werden, zum Sortieren gefahren. Die Maschine erkennt an den Labels genau, wohin die Schwingen müssen, und dorthin fahren sie dann, wie von Geisterhand gesteuert.« Klagendorff sah ihn erwartungsvoll an. »Sind Sie schwindelfrei?«

    Meinert zuckte mit den Achseln. »Ich denke schon. Für einen Lademast auf einem Versorgungsschiff hat es gereicht. Aber das war im Freien.«

    »Na, dann kommen Sie mal mit, junger Mann. Dort steht so eine Hebebühne. Mit der werden wir den Aufstieg wagen, so lange die Mechaniker Frühstück machen. Sagen Sie mir aber rechtzeitig Bescheid, wenn Sie weiche Knie bekommen.«

    Sie bestiegen die Bühne und Klagendorff schloss das Geländer hinter ihnen. Die Schallwellen des Lärms, der in der Halle dröhnte, setzten sogar das Stahlgeländer der Hebebühne in Schwingung. Meinert griff fest danach, als sich der Scherenlift langsam in die Höhe hob. Je höher er stieg, desto mehr vibrierte das Geländer und mit ihm sogar auch die warme Luft, die sich unter dem Hallendach staute. Mit jedem weiteren Meter verstärkte sich auch so ein seltsames Kribbeln, das vom Bauch her in die Knie auszustrahlen schien. »Scheiße«, murmelte er. »Wenn ich doch wenigstens die See um mich herum hätte und nicht auf so einem Wackelding stehen müsste.« Dieses flaue Gefühl im Magen steigerte sich zu etwas wie einem Jucken im Gedärm. Vorsichtig versuchte Meinert seinen Blick von dem Geländer, das er fest umklammert hielt, zu lösen. Es gelang ihm nur in kleinen Schritten. Als der Lift endlich anhielt, traute er sich, vorsichtig einen Rundblick durch die Halle schweifen zu lassen. Er war überwältigt. Erst von hier oben wurde ihm deutlich, welche enormen Ausmaße dieses Gebäude hatte.

    »Von hier sieht man auch erst richtig, mit welcher Geschwindigkeit die Schwingen über das Band zischen.«

    Meinert nickte beeindruckt. »Und das wird alles nur durch die Labels an der Stirnseite gesteuert?«

    Klagendorff war begeistert, in Meinert ebenfalls einen offensichtlichen Technikliebhaber gefunden zu haben. »Richtig, und ich sage Ihnen, dem Computer entgeht nicht die kleinste Kleinigkeit. Das Zeitalter der verlorenen Post ist endgültig vorbei. Dadurch, dass die Labels laufend automatisch kontrolliert werden, können wir den kompletten Weg aller Schwingen verfolgen und auf die Sekunde rekonstruieren.«

    Wieder auf festem Boden angekommen, liefen sie ein Stück unter dem Laufband entlang bis zu einer sogenannten Weiche. Dort wurde eine durch Pressluft angetriebene Schranke über das Band gelegt, durch welche die anfahrende Schwinge in die jeweils korrekte Richtung rutschte.

    Hinter ihnen ertönte plötzlich ein gellender Schrei und sämtliche Maschinen stoppten in der näheren Umgebung. Beide eilten sofort in die Richtung, um sehen zu können, wer da so brüllte und was der Grund war. Der untersetzte Mann hatte plötzlich etwas von einem Kugelblitz und Meinert bereitete es Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

    »Los, kommen Sie«, forderte ihn Klagendorff auf. „Direkt da hinten scheint etwas geschehen zu sein.«

    Nur Sekunden später passierten sie eine Rutsche, auf der die Schwingen wie auf einer schiefen Ebene eine Etage tiefer in das Erdgeschoss der riesigen Halle glitten. Neben dem Laufbandkopf, also dem Ende eines Laufbandes, hatten sich einige Kolleginnen und Kollegen eingefunden, die heftig miteinander diskutierten.

    »Woher willst du das denn wissen?«, brüllte ein Kollege eine völlig verstörte Frau an, deren Schluchzen selbst durch das Getöse deutlich zu hören war.

    Der Abteilungsleiter drängelte sich durch die Menschenmenge und stand plötzlich vor einer gelben Schwinge, in der ein offensichtlich blutiger DIN-A5-Umschlag obenauf lag. Zustellstützpunkt Bergheim war als Adresse angegeben.

    »Können Sie mir sagen, warum Sie wegen eines einzelnen roten Kuverts alle Maschinen anhalten?«

    »Aber das ist Blut«, jammerte die völlig verstörte Kollegin.

    »Woher wollen Sie denn das wissen?« Klagendorff griff in die Kiste und hob das Corpus Delicti mit zwei spitzen Fingern hoch. »Wo ist jetzt das Problem?«

    Die zurechtgewiesene Dame wurde schlohweiß im Gesicht. »Sie fassen das einfach so an? Und wenn Sie AIDS kriegen?«

    »Der kriegt kein AIDS«, hörte man einen Mann in der Menge brummen. »So ein Virus hat seinen Stolz.«

    Ein anderer Mitarbeiter trat einen Schritt auf seinen Vorgesetzten zu. »Herr Klagendorff, in diesem Umschlag ist offensichtlich eine Flüssigkeit ausgelaufen, und wie Sie das handhaben, hat absolut nichts damit zu tun, wie wir laut Dienstvorschrift mit Gefahrengut umzugehen haben.«

    Als wäre der Umschlag heiß geworden, ließ der Abteilungsleiter die Sendung wieder in die Schwinge zurückfallen. »Na bitte, dann holen Sie eben den Notfallkoffer für Gefahrengut. Da hängt ja alle paar Meter einer an der Wand.« Eine weitere Kollegin stieß zu ihnen. Klagendorff atmete auf. »Kollegin Leuschner, Sie sind doch für so einen Scheiß ausgebildet.«

    Sie nickte und ohne weiter auf die Ungeduld ihres Vorgesetzten einzugehen, beugte sie sich über die Schwinge und betrachtete den Umschlag zuerst genauer, dann schnüffelte sie daran. »Hm«, sie richtete sich wieder auf. »Nach etwas Brennbarem riecht es nicht und es sieht wirklich wie Blut aus.«

    »Vielleicht hat da jemand eine Blutkonserve verschickt«, rief ein Kollege aus der zweiten Reihe.

    »Blödsinn«, raunte sein Nachbar. »Solche Sachen müssen gekühlt werden.«

    Die für derartige Zwischenfälle speziell ausgebildete Kollegin hatte der Notfallbox inzwischen säurefeste Handschuhe entnommen und sich eine Schutzbrille aufgesetzt. Vorsichtig griff sie nach dem Umschlag und hob ihn betont langsam hoch. »Diese Flüssigkeit stinkt nach gar nichts, hat aber den Umschlag hier an der unteren Ecke völlig aufgeweicht. Da ist auch etwas Kleines drin.« Mit einer Hand fühlte sie daran, das aufgeweichte Papier riss auf und eine Art fleischfarbenes Würstchen flutschte hinaus und fiel mit einem hellen Klimpern zwischen die Umherstehenden. Eine Kollegin, der das Teil vor die Füße rollte, schrie entsetzt auf: »Um Gottes willen, das ist ja ein Finger!«

    Die Menschenmenge stob auseinander. Klagendorff hingegen machte ein paar Schritte auf das Körperteil zu und bückte sich, um es genauer betrachten zu können. »Ich werd verrückt. Das ist ja wirklich ein Finger.« Er stutzte. »Diesen Ring kenne ich irgendwoher.«

    Ein anderer Kollege beugte sich ebenfalls vor. »So einen hat der Hermann immer getragen, der Hermann Schmitz aus der 15er Tour.«

    »Stimmt, der Schmitz hatte immer so ein Ding.« Er richtete sich entrüstet auf. »Das ist mir jetzt hier wirklich einen Zacken zu dämlich.« Klagendorff drehte sich um und teilte mit seinen Armen hektisch die Menschenmenge, um den Fundort des Fingers fluchtartig zu verlassen. »Ich werde die Geschäftsleitung informieren. Das wird ein Nachspiel haben. Der kann uns doch nicht einfach seinen Finger schicken!«

    Eilig verschwand der Mann in Richtung seines Büros.

    »Was soll nun werden?«, erkundigte sich ein Kollege hinter Meinert. »Irgendwas muss doch jetzt passieren. Abgetrennte Körperteile soll man doch auf Eis legen, habe ich gehört.«

    »Nee, Leute«, Meinert schüttelte den Kopf. »Das hat hier keinen Sinn mehr. Wem sollten wir das Ding auch wieder annähen?«

    »Na, dem Schmitz«, rief eine Kollegin von hinten. »Aber wo ist der?«

    »Warum ruft der Chef dann die Geschäftsleitung an? Jemand müsste die Polizei rufen! Das ist doch nicht normal, dass jemand seinen eigenen Finger verschickt.«

    Meinert griff zu seinem Handy. »Genau das werde ich jetzt auch tun. So ein Körperteil ohne Körper ist schließlich tot und somit ein Fall für die Kripo. Selbst wenn der Besitzer dieses Fingers gar nicht tot ist und der Absender nur ein Lösegeld erpressen will, sind die dafür zuständig.«

    Frau Leuschner schüttelte den Kopf. »Der Brief ist an die Post adressiert. Da wird der Kidnapper aber lange auf Geld warten müssen.«

    Meinert lachte auf. »Vielleicht gibt der sich mit ein paar Briefmarken zufrieden.«

    ***

    »Kommen Sie mir mit dem Ding bloß nicht an mein Zäpfchen«, brummte Meinert, »dann kotze ich Ihnen die ganze Bude voll. Ich bin da etwas hysterisch.«

    »Keine Angst, das kenne ich schon. Ich bin vorsichtig.« Der Mann verstand seinen Job und erledigte die Speichelentnahme mit geübter Hand.

    »Sagen Sie, Herr Polizist«, Meinert wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, »gehöre ich damit zu den Verdächtigen, etwas mit dem Finger zu tun zu haben?« Ein Polizist, in eine Art Ganzkörperkondom gekleidet, entnahm von allen, die am Auffinden des Körperteils beteiligt gewesen waren, Speichelproben mit einem Wattebausch, der auf ein Holzstäbchen aufgespießt war.

    »Im Gegenteil. Da Sie am Fundort waren, werden wir mit Sicherheit auch Ihre DNA dort finden, und mit dieser Probe können wir Sie als uns bekannt einstufen.«

    »Hier stehen weit über zwanzig Mann, müssen Sie das bei allen machen?«

    Der Polizist nickte und wandte sich dem Nächsten zu. »Das ist mein Job.« Meinert schaute sich irritiert um. Trotz des ungewöhnlichen Fundes schien niemand nachhaltig beeindruckt zu sein. Die Post konnte nicht liegen bleiben, also tobte der alltägliche Wahnsinn um diese Groteske herum weiter, als ob das Auffinden eines Fingers bei der Post nichts Ungewöhnliches wäre. Nur die Kollegin, der er vor die Füße gerollt war, wurde mit einem Schock ins Krankenhaus gebracht.

    Ein etwas übernächtigt aussehender Mittvierziger, der sein letztes Magengeschwür noch nicht auskuriert zu haben schien, tippte ihm auf die Schulter. »Pomerencke mein Name. Kripo Köln. Sie sind der Praktikant, von dem mir der zuständige Abteilungsleiter berichtete?«

    Meinert nickte. »Praktikant ist nicht ganz richtig. Ich bin normaler Zusteller«, brüllte er zurück. »Ich soll mich hier nur einmal umgucken, um den kompletten Produktionsablauf kennenzulernen. Das haben sich unsere Oberen für uns ausgedacht.«

    »In einem Konzern ist es sinnvoll, wenn die Linke weiß, wie die Rechte so tickt. Sie sind also Briefträger?«

    »Ja.«

    »Ihr Name ist«, er schaute auf einen Zettel, »Thomas Meinert?«

    »Stimmt.«

    »Hat Ihnen der Tag bisher etwas gebracht?«

    »Sich das alles einmal angesehen zu haben, bringt einem schon was, um die Komplexität dieses Logistik-Riesen begreifen zu können.«

    Der Kommissar grinste ihn an. »Das haben Sie aber schön gelernt, oder ist Ihnen das mit der Komplexität selbst eingefallen?«

    »Nee, das ist Klagendorffs Lieblingswort. Hier ist nämlich alles komplex – nur er nicht.«

    »Ach, und was ist er?«

    Meinert überlegte. »Er ist unersetzlich.«

    Der Polizist lachte. »Seine Rente dürfte nicht mehr fern sein. Was passiert dann hiermit?« Er zeigte um sich herum.

    »Keine Ahnung. Entweder es wird jedes Jahr modernisiert, so schnelllebig ist die Zeit ja heute, oder es wird ein Industriedenkmal – so wie die Zeche Zollverein. Dann hätte Klagendorff sogar noch einen Job weit über seine Rente hinaus. Der Mann beugte sich näher an Meinerts Ohr. »Könnten Sie bitte aus diesem akustischen Inferno mit mir rauskommen? Ich hätte weitere Fragen an Sie.«

    Meinert nickte und beide machten sich auf den Weg. Im Freien stehend genossen sie zuerst die geradezu himmlische Ruhe.

    »Kinder, tut das gut.« Beide sogen die frische Luft durch die Nase ein. »Darf ich mich jetzt richtig vorstellen: Mein Name ist Stefan Pomerencke, Kriminalhauptkommissar, Kripo Köln.«

    Meinert schaute ihn beeindruckt an. »Hauptkommissar«, wiederholte er anerkennend. »Sind Sie so was wie ein Derrick und nur deswegen allein, weil Harry keinen Parkplatz findet?«

    »Harrys gibt es nur im Fernsehen, aber wieso fragen Sie?«

    »Wenn Sie so ein hohes Tier sind, dann scheint das da drin ja wohl eine ernstere Sache zu sein.«

    »Mord oder Entführung ist immer eine ernste Sache.«

    Meinert sah ihn erschüttert an. »Sind Sie sich damit sicher?«

    »Solange Sie mir nicht sagen, dass es für Postler normal ist, sich Gliedmaßen abzuschneiden und sie dem Arbeitgeber zuzuschicken, ja.«

    Natürlich hatte Meinert auch schon daran gedacht, aber jetzt, wo diese Tatsache manifestiert schien, zuckte er doch etwas zusammen. »Puh, das ist dann aber doch recht heftig. Und Sie denken ernsthaft an Mord?«

    »Wenn ich ehrlich bin, ja. Sollte der Kollege noch leben, hätten sich die Entführer doch längst gemeldet ­–­ oder zumindest der Kollege Schmitz aus irgendeinem Unfallkrankenhaus, dass er sich heute ausnahmsweise verspätet.«

    »Der Schmitz war Beamter. Zu spät zum Dienst zu kommen, wäre für den undenkbar. Wenn er schon nicht pünktlich sein konnte, dann war es mit seinem Finger zumindest ein Teil von ihm.«

    Lächelnd fischte der Polizist einen Notizblock aus seiner Jackentasche. »Ich werde versuchen, diese Art zu denken in meine Ermittlungen einfließen zu lassen.« Er schaute ihn an. »Mit wem habe ich noch mal die Ehre?«

    »Ich bin Thomas Meinert, Saalspringer hier in Frechen.«

    »Saalspringer? Was ist das nun wieder?«

    »Das ist ein Fossil aus alten Tagen, das es hier in Frechen eigentlich gar nicht mehr gibt. Darf ich etwas weiter ausholen?«

    Der Polizist nickte. »Sie dürfen, ich muss das hier schließlich alles begreifen.«

    »Also: Für die Stadt Frechen gab es einstmals ein großes Postamt. Morgens um fünf Uhr wurde die Post mit LKWs angeliefert. Dann begannen alle hiesigen Zusteller, die Post in einem großen Saal in ihre Spinde zu sortieren.«

    »In Kleiderschränke?«

    »Nein. Mit Spinden bezeichnet der Postler Regale, in denen jedes Haus des jeweiligen Zustellbezirks sein eigenes kleines Fach hat. In diese Fächer werden die Briefe einsortiert. Es gibt jeweils Fächer für normale Briefe, die sogenannten Kurzen, und es gibt Fächer für ...«

    »Die Langen«, unterbrach ihn Pomerencke.

    »So ähnlich. Der Postler spricht in diesem Fall von Langholz.«

    Pomerencke machte sich eifrig Notizen.

    »Wo stehen diese Spinde heute, wenn es diesen großen Saal nicht mehr gibt?«

    »Im Vorbereitungszentrum, hier um die Ecke. Eine Zustellergruppe, oder Reihe, wie der Postler sagt, besteht immer aus fünf Spinden.«

    »Warum ausgerechnet fünf?«

    »Fünf Spinde für die fünf Zustellbezirke und weil wir eine Fünftagewoche haben.«

    »Moment mal. Ich denke, die Post stellt sechsmal die Woche zu.«

    »Das ist richtig. Deswegen gibt es auch in jeder Gruppe einen festen Springer, der fünfmal in der Woche die jeweiligen Stammzusteller an ihrem freien Tag vertritt und am sechsten Tag dann selbst frei hat.«

    Pomerencke schaute auf. »Eine Zustellgruppe hat also sechs Leute?«

    »Nein, sieben. In jeder Gruppe ist auch noch eine Urlaubsvertretung.«

    »Okay, also sieben. Als Springer muss man demnach alle Namen und Briefkästen der gesamten Zustellgruppe kennen?«

    »Wenn man seine Zeiten schaffen will, dann ja.«

    Pomerencke pfiff anerkennend. »Dumpfbacken wird man bei der Post demnach nicht antreffen?«

    »Jedenfalls nicht bei den Zustellern. Die finden Sie eher etwas höher angesiedelt.«

    Der Polizist grinste. »Das ist ja wie bei uns!« Plötzlich zog er die Stirn kraus. »Was ist ein Saalspringer?«

    »Jemand, der in jeder Gruppe des gesamten Saales eingesetzt werden kann.«

    »So eine Art SEK der Post.«

    Meinert grinste. »Könnte man so sagen.«

    »Meine Anerkennung, Herr Meinert. Aber sagen Sie mal, Sie sprechen immer in der Vergangenheit. Ist das heute nicht mehr so?«

    »Nur noch zum Teil. Früher hat jeder Zusteller seine Post selbst sortiert. Das geschieht heute nur noch bei den Vollzeitkräften. Frechen wurde aber komplett auf Teilzeit umgestellt. Wir sind die sogenannten 19,25-Stunden-Kräfte. Wir bekommen die Post bereits fertig in Gangfolge in Schwingen, so nennen wir die Postkisten, einsortiert auf unsere jeweiligen Übergabepunkte angeliefert.«

    »Wie viele gibt es davon in Frechen?«

    »Fünf: Frechen, Bachem, Habbelrath, Buschbell und Königsdorf.«

    Pomerencke nickte. »Ich verstehe. Wo sind wir jetzt hier?«

    »Hier sind wir im Sortierzentrum. Hier werden alle Kurzen und das ganze Langholz schon mal in die jeweiligen Schwingen für die einzelnen Zustellbezirke sortiert.«

    »Wohin gehen dann die Schwingen?«

    »Ins Vorbereitungs- oder Setzzentrum.«

    »Also dorthin, wo Ihre Sortierregale stehen. Ich glaube, Sie sagten Spinde dazu.«

    »Korrekt, Herr Kommissar.«

    »Vom Vorbereitungszentrum aus geht dann die bereits komplett in Gangfolge sortierte Post zu den jeweiligen Zustellstützpunkten – oder Übergabepunkten.«

    Meinert nickte. »Alles richtig verstanden.«

    »Ja, Sie sind eben der perfekte Erklärbär. Ich werde Sie für die Sendung mit der Maus als Moderator vorschlagen.« Pomerencke lächelte ihn an. »Wie viele Haushalte hat so ein Bezirk?«

    »Das kommt natürlich auf die jeweiligen geografischen Verhältnisse an. Hat jemand viele Hochhäuser in seinem Bezirk, so werden es bei ihm mehr Haushalte als bei einem Kollegen sein, der nur Einfamilienhäuser beliefert. Hier in Frechen so um die achthundert im Schnitt.«

    Pomerencke stutzte. »Ich sehe Ihre Kolleginnen und Kollegen immer mit Fahrrädern, Trikes oder Handkarren he-rumfahren. Wie bekommt man denn die Post von so vielen Haushalten auf ein Fahrrad?«

    »Gar nicht. Wir haben an unserer Route in genau abgezirkelten Abständen sogenannte Ablagekästen. Dort wird immer so viel gebunkert, dass alles aufs Fahrrad passt.«

    »Sind das diese grauen Schränke am Straßenrand?«

    »Ja, aber nur die etwas dickeren. Die schmalen Schränke gehören der Telekom.«

    »Ach guck mal, ich dachte, das sind Pinkelhäuschen für Hunde.«

    »Das sind sie leider auch. Im Sommer riecht das lecker, wenn wir die Post da rausholen.«

    »Dann sollte die Post AG nicht Briefmarken mit Erdbeer-aroma herausbringen, sondern als Standardporto Duftbäumchen draufkleben lassen.«

    Meinert grinste. »Ich werde Ihre Idee bei der Geschäftsleitung einreichen.«

    Pomerencke steckte seinen Notizblock wieder ein. »Kannten Sie den Kollegen Schmitz?«

    Meinert schüttelte den Kopf. »Nein. Sein Name ist mir ab und zu schon mal auf unseren Dienstplänen begegnet, aber das ist auch schon alles. Ich habe ihn auch ein oder zwei Mal kurz gesehen, wenn ich in Königsdorf eingesprungen bin. Aber meistens war er es, den ich vertreten musste. Mit seiner Gesundheit war es nicht so doll bestellt. Kein Wunder, der Mann war schon über sechzig, da kommen eben die Zipperlein.«

    »War er denn chronisch krank?«

    »Ich denke nicht. Vor Kurzem hatte er es heftig mit dem Rücken. Der arme Kerl musste sogar operiert werden. Er ist noch nicht lange aus dem Hamburger Modell raus.«

    »Sagen Sie mal«, Pomerencke fischte seine Notizen wieder aus der Jackentasche. »Der Mann war verbeamtet, und als Beamter hatte er einen Halbtagsjob?«

    »Warum nicht? Davon haben wir einige. Wenn sie schwerbeschädigt sind oder ihnen eine halbe Stelle reicht, geht das.« Er sah Pomerencke fragend an. »Was passiert denn nun mit dem Kollegen Schmitz?«

    »Wir leiten ein Ermittlungsverfahren ein und überprüfen anhand einer DNA-Analyse des Fingers und einer Vergleichsprobe, ob das überhaupt ein Körperteil Ihres Kollegen sein kann. Wenn ja und wir keine Lepra an dem Finger feststellen, wird eine Mordkommission gegründet.« Er reichte Meinert eine Visitenkarte. »Sollte Ihnen der Kollege Schmitz inzwischen mit oder ohne Finger begegnen, dann rufen Sie mich bitte an, damit ich den ganzen Kram wieder abblasen kann.«

    Ein Rechtsmediziner stellte sich zu ihnen.

    »Moin, Doc«, begrüßte ihn Pomerencke. »Können Sie schon was sagen?«

    »Nur so viel, dass der Finger ziemlich tot ist und – das wird Sie vor allem interessieren – dass er mit ziemlicher Sicherheit post mortem amputiert wurde.«

    ***

    Christina Schmitz konnte vor Müdigkeit kaum noch ihre Augen offen halten. Für die fünfunddreißigjährige, schlanke Ärztin war es der erste Dienst als Fachärztin der Anästhesie am Unfallkrankenhaus Berlin-Marzahn. Inzwischen war es kurz nach acht Uhr morgens. Seit vier Stunden versuchten die Neurochirurgen, Splitter einer Schädeldecke aus einem blutjungen Hirn herauszupulen. Da in allen OPs operiert wurde, hatte sie kaum eine Chance, noch am Tisch abgelöst zu werden. Gott sei Dank waren die Chi-rurgen aber schon auf der Zielgeraden. Obwohl sie mit aller Macht dagegen kämpfte, fielen ihr immer wieder die Augen zu.

    »Könnte unsere hübsche Gasmaid vielleicht wieder aufwachen und uns über die Vitalfunktionen dieses stolzen Recken informieren?«, brummte einer der Operateure.

    Sie lief knallrot an und hoffte, dass ihr das unter dem Mundschutz nicht anzusehen war. »Alles im grünen Bereich, Herr Kollege. Wenn der Herr Metzgermeister aber wirkliches Mitleid mit seinem medizinischen Opfer hätte, dann würde er ihm gleich noch ein paar Hirnzellen implantieren.«

    »Du denkst doch wohl nicht etwa, dass dieser Herr mit Hirn nicht gesprungen wäre?«

    »Dann hätte er zumindest nicht so exzessiv gesoffen.«

    »Das denkst du. Wer Jason Kasupke heißt, im Juli nachts besoffen mit Kumpels in ein Freibad einbricht und dann auch noch vom Dreier einen Köpper macht, für den ist es ein sekundäres Problem, ob überhaupt Wasser im Becken ist.«

    »War welches drin?«

    »Natürlich nicht, sonst läge er nicht hier.«

    Trotz ihrer Müdigkeit musste sie laut lachen. »Das ist nicht dein Ernst?«

    »Um diese Zeit bin ich nicht zum Spaßen aufgelegt, meine Liebe. Das Wasser war abgelassen worden, weil ein Leck im Pool repariert werden musste.«

    »Wie sieht es aus für ihn?«

    »Das kann ich dir in zwei Tagen beantworten, aber er könnte es schaffen. Gott ist ja bekanntlich bei den Dummen, und da der hier schon vor dem Unfall hirntot war, ist die Prognose recht anständig, denke ich. Aber Hirn hilft nicht immer. Hätten wir beide unseres angestrengt, dann wären wir jetzt in der Politik und müssten uns nicht für die paar Kröten nächtelang den Arsch aufreißen.«

    Ihr leitender Oberarzt betrat den OP und setzte sich auf einen freien Hocker neben ihr.

    »Nanu, Herr Kollege, was verschafft mir die Ehre?«

    »Ich denke mal, nichts Gutes«, kam es unter seinem Mundschutz hervor. »Du möchtest bitte umgehend zum Chef kommen.«

    »Mach keinen Scheiß.« Ihr wurde heiß und kalt zugleich. »Von meinen Leuten leben doch noch alle, oder?«

    »Soweit ich gehört habe, ja. Es scheint nichts Fachliches zu sein.«

    »Und weswegen soll ich dann zum Chef?«

    »Keine Ahnung. Da kam irgendein Anruf aus Köln. Mehr kann ich dir auch nicht sagen.« Er stieß sie sanft an. »So, nun mach hinne. Ich übernehme hier. «

    Sie stand auf und verließ eilig den OP. Hastig zog sie sich um und passierte die Schleuse. Ein Anruf aus Köln? Vor zwölf Jahren war sie ins Uni-Sekretariat gerufen worden. Da wurde sie sogar über die Lautsprecheranlage auf dem Campus ausgerufen. Als sie damals mit zitternden Knien vor ihrem Dekan stand, wurde ihr mitgeteilt, dass ihre Mutter gestorben sei. Da war nicht viel mit Mitleid. Da hieß es nur: Schmitz vortreten – Schmitz, Ihre Mutter ist tot – Schmitz zurücktreten. Und Schmitz hatte noch nicht einmal Zeit zu trauern. Das war während ihres Physikums. Sollte diesmal etwas mit ihrem Vater sein?

    Christina betrat mit weichen Knien das Büro ihres Chefs. »Herr Professor, ich sollte mich bei Ihnen melden.«

    Er erhob sich und ging um seinen Schreibtisch auf sie zu. »Liebe Kollegin, setzen Sie sich bitte.«

    Die junge Fachärztin blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Machen Sie bitte nicht so einen Zinnober, sondern raus mit der Sprache. Was ist passiert?«

    »Es tut mir unendlich leid, aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass die Polizei davon ausgeht, Ihrem Vater sei etwas zugestoßen.«

    Nun musste sie sich doch setzen. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz stünde für kurze Zeit still. Überhaupt schien alles um sie herum erstarrt, bis ihr Blick auf den Sekundenzeiger der Wanduhr fiel. Der bewegte sich, also ging doch alles weiter. Plötzlich schien auch ihr Hirn die Worte verstanden zu haben.

    »Ist er denn tot?«

    »Ich habe leider keine näheren Angaben. Ich bekam lediglich einen Anruf von der Postdirektion Köln-West. Dort hätte man Leichenteile gefunden, die Ihrem Herrn Vater zugeordnet werden können.«

    Sie nickte. »Das kann sein. Mein Vater ist Briefträger.« Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Was ist denn passiert, dass man von ihm Leichenteile finden konnte?«

    »Wie gesagt«, bedauerte ihr Professor. »Man hat mir nur die Tatsache als solche mitgeteilt.«

    »Es wird sicher wieder sein Herz gewesen sein.«

    »Aber wenn man es am Herzen hat, verliert man keine Körperteile. War er denn Herzpatient?«

    »Er hat voriges Jahr einen Stent bekommen. Tja, und vor sechs Wochen haben sie ihn am Rücken operiert, am Spinalkanal.«

    Der Professor füllte ein Glas mit Mineralwasser und reichte es ihr. »Was genau passiert ist, werden Sie ja dann zu Hause erfahren.«

    Sie schaute ihn müde an und trank einen Schluck. »Ich habe heute Abend aber wieder Nachtdienst.«

    »Haben Sie nicht. Sie werden heute Mittag nach Köln fliegen. Meine Sekretärin hat für Sie schon einen Flug gebucht. Dann werden Sie so lange dort bleiben, bis alles gerichtet ist.«

    Christina Schmitz sah ihren Chef dankbar an.

    »Haben

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1