Der gütige Meister: Weisheitsgeschichten
Von Volker Tesar
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Über dieses E-Book
Diese und andere Fragen stellt in diesem Buch ein Schüler seinem Meister. Dieser macht ihn darauf aufmerksam, dass sich viele dieser Fragen nicht allein durch unseren Verstand beantworten lassen, sondern dass die Lösung tief in unserem Innersten liegt. Ein wunderbar weises Lesebuch für Wahrheitssucher und Geschichten-Liebhaber!
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Buchvorschau
Der gütige Meister - Volker Tesar
~
In dir fließt ein Fluss
Den Meister fragte eines Tages der Schüler:
»Wohin gehen die Gedanken, die ich nicht denke?« Der Meister schwieg.
»Woher kommen die Gedanken, die ich denke?« Wiederum schwieg der Meister.
»Was ist in mir, was mich denken lässt?«
Der Meister erhob sich, stellte sich vor die Lotusblume in seinem kleinen Teich und wies auf sie.
»Siehst du diese?«, fragte er den Schüler.
»Ja, ich sehe sie!«
Dann hob der Meister die Hand und zeigte auf einen Kranich, der in der Ferne in der Luft zu stehen schien.
»Siehst du auch diesen?«
»Ja, Meister, ich sehe den Kranich!«
»Was fragst du nach den Gedanken, die nicht sind, die du nicht denkst? Und was fragst du nach dem Ursprung der Gedanken, die du denkst? Die Gedanken sind wie ein Fluss. Sie strömen, hinterlassen Spuren, löschen den Durst, tragen die Traumboote und Segelschiffe mit den Erfahrungen des Alltags.
Sie verbinden Quelle und Mündung und sind doch auch beides. Die Gedanken, gedacht und ungedacht, sind der Fluss in dir, dessen kostbares Nass dich labt, reinigt, erfrischt, auch bedroht. Lerne, die Gedanken im Fluss fließen zu lassen. Sie verkehren zwischen Quelle und Mündung und Quelle und sind der einzige Schatz neben der Liebe, der uns nicht genommen werden kann.«
Der Meister setzte sich wieder und nahm eine Tasse mit goldgelbem Tee in seine Hände, schaute hinein und hob den Blick hinüber zu seinem Schüler:
»Ich bin in diesem Tee und doch bin ich nicht der Tee, ich bin in meinem Fluss und bin doch nicht der Fluss. Ich schenke ihm und mir meine ganze Aufmerksamkeit und sehe so mein Spiegelbild – hier im Tee, dort im Fluss – und erkenne im Bild das Sein. Alle Gedanken führen zum Sein, auch die nicht gedachten Gedanken.«
~
Liebe
Während die Sonne aufging, die der Meister still versunken betrachtete, räusperte sich der Schüler und fragte:
»Meister, ich habe nie die Liebe kennengelernt. Wie kann ich sie erleben?«
Der Meister sah ihn kurz an und blickte dann wieder auf das Naturschauspiel, schwieg jedoch.
»Ist die Liebe in jedem Menschen?«
Es verging wieder eine ganze Weile. Als die Sonne nicht mehr rot glänzte, wandte sich der Meister seinem Schüler zu. Auf seinem Gesicht lag ein tiefes Lächeln.
»Hast du die Sonne betrachtet, während sie ihr Bett verließ?«
»Nein, Meister, ich war mit meinen Fragen beschäftigt.«
»Dann frage morgen noch einmal!«
Damit erhob sich der Meister und ging davon.
Am nächsten Morgen saßen sie wieder auf dem kleinen Hügel. Still versunken betrachtete der Meister den Sonnenaufgang. Das dunkle Rot wurde immer heller und schließlich war die Sonne so gleißend, dass der Meister die Augen schließen musste.
Im Öffnen der Augen wandte er sich seinem Schüler zu: »Hast du die Sonne gesehen?«
»Ja, Meister, das habe ich. Aber – die Liebe habe ich nicht gesehen.«
»Die Liebe ist wie die Sonne. Sie geht in deinem Herzen auf, begleitet dich dein Leben lang und wird nie enden. Wenn du deine Augen dem Dunkel, dem Zweifel, dem Irrtum, den Fragen ohne Antworten, der Hoffnungslosigkeit, der Herrschsucht, der Flucht vor der Verantwortung und der Dummheit zuwendest, wirst du keine Liebe erfahren. Die Liebe wartet auf deine Begegnung mit ihr in deinem Innern, will erkundet, erfahren, verstanden werden. Du hast die Liebe schon erlebt, auch wenn du das vielleicht nicht so wahrgenommen hast. Ein kleiner Hauch von Zärtlichkeit deiner Eltern ist schon Liebe. Eine leichte Berührung mit dem Wissen der Welt ist schon Liebe. Ein stilles Wahrnehmen von Musik ohne Musik ist schon Liebe. Das offene Begegnen mit deinen Träumen ist schon Liebe. Das respektvolle Sprechen, Schauen, Erkennen, Schweigen, das alles ist schon Liebe.«
Der Schüler senkte den Kopf und überdachte die Antworten.
»Gestern hast du nicht gesehen, was hier und jetzt geschieht, das dir dein Herz anrühren kann. Heute hast du mit mir die Sonne betrachtet. Hinter deiner Stirn jagten sich jedoch die Gedanken voller Ungeduld. Lerne Geduld zu haben, lerne geduldig zu sein. Die Geduld ist deine Schwester. Mit ihr zusammen kannst du deine Gedanken dann verjagen, wenn sie nicht gebraucht werden. Setze dich morgen allein auf diesen Hügel und betrachte das Aufgehen der Sonne – und nur dies. Ist der morgige Tag wolkenverhangen, dann komme am nächsten Tag wieder. Liebe braucht geduldiges Warten, frohes Erkennen und inniges Festhalten.«
~
Ursprung und Ziel
Der Meister saß in seinem Garten und blickte auf die Kreise, die ein Stein in seinem Teich erzeugt hatte. Im Mittelpunkt waren sie hoch und klein und nach außen hin wurden sie immer schwächer und größer, erreichten aber dennoch das Ufer und gaben so dem Wasser am Rand eine leichte Bewegung. Als die Oberfläche wieder ganz still war, warf er einen zweiten Stein in die Mitte und wartete.
»Meister, was macht Ihr da?«, fragte der Schüler, der den Tee gebracht hatte.
»Ich suche den Ursprung und das Ziel.«
»Wovon?«
»Von allem, was ist und nicht ist.«
»Das hofft Ihr, in diesen Wellen zu finden?«
»Ich hoffe es nicht, ich weiß es. Zur Erzeugung des Ziels brauche ich einen Ursprung. Und zur Bestimmung des Ursprungs ist ein Ziel gesetzt. Ursprung und Ziel verbinden einander in der Bewegung, geben Energie von innen nach außen und berühren am Ende die