Der Rattenfänger von Kessenich
Von Heike Kiefer, Ulrike Wester und Sagitta Wester
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Buchvorschau
Der Rattenfänger von Kessenich - Heike Kiefer
Weg
Erstes Kapitel
Der Elefantenspielplatz
Die Geschichte, die ich euch erzählen werde, begann auf einem Spielplatz. Es war der wunderbarste Spielplatz in ganz Kessenich. Viel war da gar nicht drauf – nur eine große Sandgrube, und mitten in der Sandgrube ein riesiger Elefant. Er war aus einem dunkelgrauen Stein gehauen, wie aus einem großen Felsen. Seine Oberfläche war so glatt, daß er sich schon fast weich anfühlte. Wenn es regnete, glänzte er so, daß man sich darin spiegeln konnte. Und wenn die Sonne schien, strahlte er eine wohlige Wärme aus.
Vorne am Rüssel konnte man hochklettern. Oben gelangte man in den Kopf hinein wie in eine Höhle. Dort konnten bequem vier Kinder sitzen. Zwei runde Löcher stellten die Augen dar. Wenn man durch diese Augen auf den Spielplatz hinunterschaute, war es, als sei man selbst der Elefant. Und auf seinem großen runden Rücken konnte man sich vorstellen, mit Karacho durch den Urwald zu stampfen. Das Hinterteil mündete in eine Rutschbahn. Die war so glatt, daß selbst das kleinste Sandkorn in einem Hui hinuntersauste. Unten landete man im weichen Sand.
Ihr könnt euch denken, daß der Elefant nie einsam war. Immer turnten eine Menge Kinder auf ihm herum. Wenn ein Regenschauer kam, quetschten sich sechs bis acht Kinder in seinen Kopf hinein. Sogar wenn es mal den ganzen Tag regnete, konnte man sicher sein, daß ein oder zwei Kinder in der Höhle saßen und in einem Buch schmökerten.
Abends, wenn die kleineren Kinder nach Hause mußten, kamen die älteren Jugendlichen mit ihren Mofas und Fahrrädern und versammelten sich am Elefanten. Da konnte der große steinerne Geselle so manches hören über blöde Lehrer, über »die Alten zu Hause«, über irgendwelche tollen Musikgruppen und die neuesten Hits oder über erste Liebesabenteuer.
Der Elefant kannte alle Kinder und Jugendlichen genau. Die Toni zum Beispiel, mit ihrer langen blonden Mähne, die jetzt schon 14 Jahre alt war, hat früher als kleines Mädchen unter seinem Bauch Sandkuchen gebacken.
Vieles, vieles hat der Elefant schon mitbekommen in seinen langen Jahren. Was er aber heute zu sehen und zu hören bekommen sollte, das hat er noch nie erlebt ...
Ihr werdet bald merken, warum ich so ausführlich von dem Elefanten erzählt habe. Er wird noch eine sehr wichtige Rolle spielen.
Aber bevor ich es vergesse, muß ich noch etwas von dem Spielplatz berichten. Da gab es nämlich einen riesigen Kirschbaum. Er stand direkt neben dem Spielplatz im Gras, und seine Äste ragten ein Stück über die Sandgrube und spendeten an heißen Tagen Schatten. Im Frühjahr stand er da in seiner weißen Blütenpracht wie in einem Hochzeitskleid. Und im Sommer hing er üppig voll mit dicken, dunkelroten Kirschen.
So, und nun müßt ihr noch die Kinder kennenlernen. Die sind ja schließlich das Wichtigste in der ganzen Geschichte! Ich werde euch einfach beschreiben, wie es auf dem Spielplatz aussah, an jenem Nachmittag, als die Geschichte begann. Ich sehe das Bild genau vor mir.
Da war zum Beispiel die kleine Lisa. Fünf Jahre war sie alt, hatte blonde Rattenschwänzchen mit großen roten Schleifen. Das müßt ihr euch merken, denn die Schleifen, wenigstens eine davon, werden noch sehr wichtig sein. Jetzt gerade hatte sie einen Rutschrausch. Sie und die rothaarige Britta und der kleine wuselige Benjamin kletterten um die Wette vorne am Elefanten hinauf und rutschten hinten hinunter, immer wieder, und lachten und kreischten dabei.
Ja, und da war der kleine Mohammed mit den schwarzen Locken. Er baute mit zwei anderen Kindern eine Rakete im Sand. Eine mit lauter Hebeln und Knöpfen zum Starten und im Weltraum Herumfliegen.
Direkt neben der Rakete ließen zwei Burschen ihre Stöcke gegeneinander krachen. Sie waren nämlich gerade tapfere Ritter, die um eine Burg kämpften.
Die etwas größeren Kinder trieben sich im Gras beim Kirschbaum herum. Der Hannes balgte sich gerade mit dem Olaf. Die beiden hatten sich ganz schön in der Wolle. Ja, der Hannes mit seinem roten Haarschopf und den Sommersprossen – mit dem war immer etwas los. Zwei andere Jungen spornten die Streithähne mit viel Gebrüll an. Die drei Mädchen da unterm Kirschbaum störten sich offensichtlich nicht daran. Sie hatten eine Decke ausgebreitet und spielten mit ihren Puppen.
Nun wißt ihr ungefähr, wie es auf dem Spielplatz zuging an jenem Nachmittag, als das Unheimliche geschah. Es war ein so wunderschöner Sommernachmittag! Die Sonne schien warm, und ein laues Lüftchen wehte. Das Gras war saftig grün, und die dicken Kirschen leuchteten rot und glänzend zwischen den Blättern hervor. Niemand ahnte, was heute noch geschehen sollte ...
Zweites Kapitel
Der Rattenfänger kommt!
Von der nahen Kirchturmuhr hatte es gerade fünf geschlagen. Genau in dem Moment, als der letzte Glockenton verklungen war, schrillte auf einmal mitten aus dem Kirschbaum ein langgezogener, durchdringender Flötentriller. Er kam aus dem Baum herausgeschossen wie ein Pfeil und bohrte sich jedem einzelnen Kind mitten ins Herz.
Dieser Flötentriller wirkte wie ein mächtiger Zauber. Die Kinder erstarrten mitten in ihrer Bewegung und drehten sich ruckartig zum Kirschbaum hin. Nur die kleine Lisa purzelte noch kopfüber die Rutschbahn hinunter. Und dann blieb auch sie bewegungslos im Sand liegen und starrte mit weit aufgerissenen Augen zum Baumwipfel hinauf.
Als der Flötentriller verklungen war, sahen die Kinder etwas Silbernes durch das grüne Blätterwerk und die roten Kirschen blitzen. Noch einmal, und noch einmal ertönte ein Triller, jedesmal höher und durchdringender. Und dann kam ein Mann mit wehendem Mantel, die silberne Flöte in der Hand, in hohem Bogen aus dem Baumwipfel gesprungen und landete mitten im Sand.
Die Kinder waren wie gelähmt. Die Triller hatten in ihren Herzen eine panische Angst ausgelöst. Aber dann hob der Rattenfänger erneut seine Flöte zum Mund, und was er jetzt blies, das war so eine süße Melodie, daß jedes Kind fast dahinschmolz vor Sehnsucht. Auf einmal konnte man die Flöte verstehen. Ach, sie erzählte den Kindern die wunderschönsten Dinge. Sie sprach von einem herrlichen Land, wo alle Kinder immer und ewig glücklich sein könnten. In diesem Land gäbe es keine Schule, keine Hausaufgaben, keine lästigen Pflichten. In diesem Land würde den Kindern jeder Wunsch erfüllt. Es gäbe zu essen und zu trinken, Pommes und Cola und Bonbons und Kuchen, soviel sie wollten. Und alles Spielzeug, das sich ein Kind nur wünschen konnte. Die schönsten Puppen, Bauklötze, Teddybären, Glanzbilder, Bücher, Computer, Fernseher, Videos, Autos, ja sogar echte kleine Autos! Und wenn ein Kind fahren wollte, dann dürfte es das und könnte das sofort, ohne es lernen zu müssen. Und sogar Flugzeug fliegen könnten die Kinder dort und auf echten Pferden reiten, soviel sie wollten. Und sie würden jedes Tier geschenkt bekommen, das sie haben wollten!
Je mehr die Flöte von diesem wunderbaren Land erzählte, um so mehr wurden die Kinder wie durch einen Magneten zu dem Rattenfänger hingezogen. Sie streckten die Arme nach ihm aus und bewegten sich Schritt für Schritt auf ihn zu. Dabei trat ein seltsamer Glanz in ihre Augen. Ihre Herzen waren von einer unwiderstehlichen Sehnsucht nach diesem Wunderland erfüllt. Alles andere wurde aus ihnen verbannt, alles. Jeder Gedanke an die Eltern, an die Schule, an das Zuhause, ja sogar an den Elefanten wurde weggeschwemmt von einer warmen Welle, die sie zu diesem Land spülen sollte. Und dem Rattenfänger schlugen die Herzen der Kinder voller Liebe und Ehrfurcht entgegen.
Nur einen Augenblick lang, wie ein sekundenlanger Schock, fuhr dem Hannes ein eiskalter Schauer durch den ganzen Körper. Gerade als der Rattenfänger Luft holte und die Flöte eine Sekunde lang schwieg, sah der Hannes einen Rattenkopf aus der Jackentasche des Rattenfängers hervorlugen. Die kleinen