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Flucht - eine globale Herausforderung: Wege im Dilemma
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eBook485 Seiten5 Stunden

Flucht - eine globale Herausforderung: Wege im Dilemma

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Über dieses E-Book

Wäre Angela Merkels Flüchtlingspolitik ohne die Mauern in Ungarn und der Türkei kläglich gescheitert? Ist die Nicht-Zurückweisungsklausel der Genfer Flüchtlingskonvention überhaupt praktisch durchführbar, wenn zu viele über die Grenze drängen? Wie soll der einzelne Bürger sich verhalten, wenn ihm plötzlich Opfer abverlangt werden, die er freiwillig nie auf sich genommen hätte? Wie kann die dramatische Unterversorgung von zig Millionen Flüchtlingen weltweit beseitigt werden? Was kann oder soll ein Nationalstaat tun, wenn die UNO nicht in der Lage ist, das Problem zu bewältigen? Das sind einige der Fragen, denen in diesem Buch nachgegangen wird. Das Ergebnis sind zum Teil beunruhigende Analysen und im Vergleich zum flüchtlingspolitischen Mainstream revolutionäre Vorschläge.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum15. Jan. 2018
ISBN9783740756727
Flucht - eine globale Herausforderung: Wege im Dilemma
Autor

Bruno Johannsson

The author approaches God by using sixteen of His names as a basis for fundamental questions concerning the being of God and the manifestation of His works as told in the Holy Scriptures. Christians and Non-Christians who feel doubts concerning some subjects of Christian theology will find some of their thoughts - and perhaps some answers - in these monologues.

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    Buchvorschau

    Flucht - eine globale Herausforderung - Bruno Johannsson

    Dieses Buch

    zeigt die Handlungsalternativen aller Akteure im globalen flüchtlingspolitischen Szenario auf: Der Bedrohten, der Flüchtenden, der Bürger und Politiker in den Aufnahmeländern, der Gesellschaften und Staaten sowie der Staatengemeinschaft und ihrer Organisationen. Alle befinden sich in einem wie auch immer gearteten Dilemma, in dem ihr ethisches Profil gefordert wird. Dabei geht es um das Wohl von hunderten Millionen von Menschen, insbesondere natürlich um die 65 Millionen auf der Flucht, aber auch um die Bürger in den Aufnahmeländern, die von der Entwicklung mitunter stark gefordert, manchmal sogar überlastet werden. Die besseren Wege aus den Dilemmas lassen sich nicht mit Polemik, Intoleranz und Gewalt finden, sondern nur im sachlichen, respektvollen Diskurs. Dazu soll dieses Buch einen Beitrag in Stil und Inhalt leisten.

    Der Autor

    hat Ökonomie, Philosophie und Theologie an der Universität des Saarlandes studiert, war als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschung und als Dozent in der beruflichen Bildung tätig. Nach Renteneintritt verlagerte sich sein Schwerpunkt mehr auf philosophische und theologische Themen. Er ist Mit-Initiator des Café Philo in Chemnitz. 2015 erhielt er den Preis der Jury beim Philosophy Slam, Chemnitz. 2017 publizierte er zusammen mit Thea Johannsson „Spielregeln der Gesellschaft" (siehe Anhang). In der vorliegenden Publikation verbindet er seinen ökonomischen, philosophischen und theologischen Sachverstand.

    FSC R Logo

    Meiner Mutter und ihren hessischen Fluchthelfern

    gewidmet,

    durch deren Kooperation

    ich als sechsjähriger Junge

    gut getarnt

    vorbei an russischen Wachsoldaten

    von Ost- nach Westdeutschland geschleust wurde.

    „Wir sehen uns mit der größten Flüchtlings- und Vertreibungskrise unserer Zeit konfrontiert. Vor allem ist dies nicht eben nur eine Krise von Zahlen; es ist auch eine Krise von Solidarität."

    Ban Ki Moon, Generalsekretär der Vereinten Nationen 2007 – 2016

    Inhalt

    Vorbemerkung

    Teil 1

    Menschen im Dilemma

    1.1. Flüchten oder bleiben?

    Ethik in der Not

    1.1.1. Was ist Flucht?

    1.1.2. Der Flüchtling - ein mehrfach Geschlagener

    1.1.3. Die Freiheitsspielräume eines potentiellen Flüchtlings

    1.1.4. Pro und Contra Flucht

    1.1.5. Beschränkte Rationalität

    1.1.6. Die Dietrich-Bonhoeffer-Entscheidung

    1.2. Einladen oder abschrecken?

    Eine ethische Gratwanderung

    1.2.1. Einladende Signale

    1.2.2. Das Dilemma der Willkommenskultur

    1.2.3. Rationale Abwägung

    1.2.4. Relativierende Faktoren

    1.2.5. Das rechte Meinungsspektrum

    1.3. Anhalten oder vorübergehen

    Die Samaritersituation

    1.3.1. Das Verhaltensspektrum der Einheimischen

    1.3.2. Das tatsächliche Verhalten als Spitze eines Eisbergs

    1.3.3. Gewalt und Anfeindung

    1.3.4. Die Gleichgültigen und Überlasteten

    1.3.5. Geschädigte und Opfer von Flüchtlingen

    1.3.6. Ehrenamtliche Flüchtlingshilfe im Rahmen staatlicher Maßnahmen

    1.4. Sich integrieren oder isolieren?

    Flüchtlinge im Aufnahmeland

    1.4.1. Fluchtbewegungen mit minimalem Anpassungsbedarf

    1.4.2. Zusammenprall der Kulturen

    1.4.3. Was bedeutet Integration bzw. Isolation?

    1.4.4. Flüchtlingsprofile

    1.4.5. Rechte und Pflichten, Chancen und Risiken im Aufnahmeland

    1.4.6. Der Preis vollkommener Integration

    1.4.7. Die Dragan-Atorovic-Entscheidung

    1.4.8. Ausnutzung des Empfängerlandes

    1.4.9. Terrorismus und Kriminalität

    1.5. Königswege und niedrigere Pfade

    Eine individualethische Perspektive auf das Flüchtlingsproblem

    Teil 2

    Eine Herausforderung Staat und Gesellschaft

    2.1. Öffnung oder Abschottung?

    Wie sich Gesellschaften zur Flüchtlingsfrage positionieren.

    2.1.1. Das Spektrum sozialer Handlungs-Alternativen

    2.1.2. Große Flüchtlingsströme – eine neue Qualität

    2.1.3. Wirtschaftliche Kapazität und moralische Bereitschaft

    2.1.4. Totale Öffnung

    2.1.5. Obergrenze und Kontingent

    2.1.6. Völlige Abschottung

    2.2. Fair oder ausbeuterisch?

    Die Verteilung der Nutzen und Kosten der Flüchtlingspolitik

    2.2.1. Flüchtlingspolitik: Was sie bringt und was sie kostet

    2.2.2. Die Verteilung des sozialen Nutzens

    2.2.3. Direkte Kosten – Steuersystem – Sozialsystem

    2.2.4. Die Krux mit den negativen Neben-Wirkungen

    2.3. Freiwilligkeit oder Zwang?

    Flüchtlingshilfe im demokratischen Prozess

    2.3.1. Die karitative Souveränität der Bürger

    2.3.2. Die karitative Souveränität von Gesellschaften

    2.3.3. Entscheidungskompetenz und karitative Souveränität

    2.3.4. Aufnahmebereitschaftserklärungen

    2.4. Offenheit – Selbstbestimmung – Fairness

    Eine sozialethische Perspektive

    Teil 3

    Globalisierung – auch der Verantwortung

    3.1. Ausflug in eine utopische Welt

    Zwei Modelle zur globalen Flüchtlingsproblematik

    3.1.1. Welt ohne Flüchtlinge

    3.1.2. Welt mit offenen Grenzen

    3.2. Die Lage in der Mitte des zweite

    Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts

    Mehr als fünfundsechzog Millionen auf der Flucht

    3.2.1. Ein Jahrhundertproblem

    3.2.2. Der Status-quo der globalen Problemlösung

    3.2.3. Laissez-Faire oder striktes UNO-Règlement?

    3.3. Soziospezifisch oder global einheitlich?

    Ein abgestuftes Konzept globaler Flüchtlingspolitik

    3.3.1. Das Konzept im Überblick

    3.3.2. Landesinterne Lösungen

    3.3.3. Der Weg über die Anrainerstaaten

    3.3.4. Einheitliche Standards weltweit

    3.3.5. Globale Verteilung von Asylanten

    3.3.6. Temporäre Integration und Rückkehr ins Herkunftsland

    3.3.7. Kosten und Finanzierung

    3.3.8. Etappen zur Umsetzung der globalsolidarischen Flüchtlingspolitik

    3.4. Die Dimensionen des Gipfels oder womit alle leben könnten

    Eine globalethische Perspektive

    Exkurs 1

    Wohlwollen und Wohlfahrt – zwei Seiten einer Medaille

    Exkurs 2

    Kriterien für eine faire Verteilung von Nutzen und Lasten der Flüchtlingspolitik

    Literaturverzeichnis

    Anhänge

    Vorbemerkungen

    Im Herbst des Jahres 2017 darf man hoffen, dass die nahöstlich-europäische Flüchtlingskrise nicht wieder aufflammt, die Europa seit September 2015 ein Jahr lang in Atem gehalten hatte. Sie schwelt dahin, unterliegt aber einer gewissen Kontrolle, sodass man nicht mehr von Krise sprechen möchte. Neues Feuer könnte entfacht werden, wenn das Abkommen der EU mit der Türkei annulliert wird. Während die Balkanroute einer gewissen Kontrolle unterliegt, kann man dies von der Mittelmeerroute keineswegs behaupten. Der Blick dieser Arbeit geht jedoch über die jüngeren Ereignisse im Nahen Osten und in Europa hinaus. Weltweit ist die Situation mit ca. 65 Millionen Flüchtlingen insgesamt beunruhigender denn je. Eine Besserung zeichnet sich nicht ab. Die Staatengemeinschaft und ihre Organisation, die UNO, haben die Situation kaum im Griff, sodass man eigentlich von einer globalen Flüchtlingskrise sprechen könnte, was aber niemand tut. Man hat sich an diesen Zustand schon seit Jahren gewöhnt. Er gehört zur globalen Normalität. Die Beruhigung in Europa und die Dauerkrise weltweit begründen den Ansatz dieser Arbeit: Wie sollen wir mit der anhaltenden globalen Herausforderung umgehen? Welche ersten Schlüsse können wir dazu aus der jüngsten Erfahrung in Nahost und Europa ziehen? Letztere ist insbesondere dadurch bemerkenswert, dass relativ große Flüchtlingsströme in relativ kurzer Zeit eine große Entfernung mit einem bestimmten Ziel zurückgelegt haben, nämlich Europa, insbesondere Deutschland.

    Ein besonderes Anliegen dieser Arbeit besteht darin, die Alternativen, insbesondere die Dilemmas, der von Flucht betroffenen Menschen aufzuzeigen und einer ethischen Analyse zu unterziehen. Dabei handelt es sich auf individueller Ebene um die von einer Gefahr bedrohten Menschen in den unsicheren Ländern, um die Flüchtlinge unterwegs und im Aufnahmeland und um die Einheimischen in den Durchgangs- und Aufnahmeländern. Zu den Einheimischen zähle ich auch die Politiker aller Staatsformen auf deren verschiedenen Ebenen. Die individualethischen Analysen der Handlungssituationen der genannten Akteure stellen eine Art Grundlage für die anschließende sozialethische Betrachtung dar. Diese ist untergliedert in die Betrachtung einer einzelnen Gesellschaft als Akteur einerseits und der gesamten Staatengemeinschaft andererseits. Die beiden Betrachtungsweisen könnte man als national- bzw. globalethische Analyse bezeichnen. Bei dem nationalethischen Ansatz ist die gesamte Gesellschaft das handelnde Subjekt, wobei der Staat, den sie bildet, eine besondere Rolle spielt. Bei der globalethischen Betrachtung ist die gesamte Menschheit, repräsentiert durch die Staatengemeinschaft und deren Organisation, die UNO, handelndes Subjekt. Für diesen globalen Ansatz ist die unmittelbare Grundlage die nationalethische Betrachtung. Bei globaler Sicht gibt es aber eine Reihe bedeutsamer neuer Aspekte. Wer sich für die Begründung der von mir benutzten ethischen Bewertungsmaßstäbe interessiert, findet diese in Exkurs 1 am Ende dieses Buches dargestellt.

    Die Arbeit wurde im Wesentlichen im Frühjahr 2017 abgeschlossen. Vor Drucklegung ist am 30.6.2017 Global Trends 2017, der neueste statistische Bericht von UNHCR, der UN Refugee Agency, erschienen, dessen >zahlen ich an manchen Stellen noch einfügen konnte. Er zeigt die Entwicklung im Jahr 2016. Erfreulicherweise haben sich Umfang und Struktur der weltweiten Flucht gegenüber dem Jahr zuvor nicht nennenswert geändert. Als neues Phänomen ist die Flucht der Rohingya aus Myanmar hinzugekommen, die immerhin mehr als eine halbe Million Menschen betrifft. Da die kleineren Abweichungen für meine Argumentation unerheblich sind, darf der Leser den Stand per 31.12.2015 als relativ aktuelle statistische Grundlage für meine Überlegungen betrachten. Auch die neueren Statistiken des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bzw. neuere Prognose und Analysen von Forschungsinstituten ändern nichts an meiner Betrachtungsweise.

    Die Benutzung von Thesen ist für den Leser sicher gewöhnungsbedürftig aber wie ich hoffe hilfreich. Er kann auf diese Weise den roten Faden meiner Argumentation leichter verfolgen. Die Begründung der Thesen erfolgt eher im Essaystil und sollte von daher allgemein verständlich sein. Kleinere Ausflüge in wissenschaftliche Präzision habe ich meist in die Fußnoten und in die Exkurse verbannt. Beide könnten vom Leser notfalls übergangen werden. Mir kam es auf die Erhaltung des Sachbuchcharakters an, um eine möglichst breite Leserschaft zu erreichen. Schließlich geht es auch um die Versachlichung einer teilweise populistisch geführten Diskussion.

    Ganz besonderen Dank bin ich Thea Johannsson schuldig, die dieses Buch Kapitel für Kapitel mit konstruktiver Kritik und als Lektorin begleitet hat. Ohne ihren Beitrag würde dieses Buch wahrscheinlich sehr viel mehr Mängel aufweisen als dies ohnehin möglicherweise der Fall ist. Die Verantwortung dafür trägt selbstverständlich der Autor. Dank gebührt UNHCR, The UN Refugee Agency, für die Überlassung des Coverfotos. Die dazu nötige Kommunikation über Berlin und Genf verlief zügig und reibungslos. Mark Glumann danke ich für die Information über einige Publikationen in der deutschen Presselandschaft, die für die Aktualität dieser Arbeit wichtig waren.

    Teil 1

    Existenzielle Entscheidungen

    1.1. Flüchten oder bleiben?

    Ethik in der Not

    1.1.1. Was ist Flucht?

    Flucht und Auswanderung gehen vielfach ineinander über. Bei der Flucht ist die unmittelbare Zwangslage zum Verlassen eines Ortes gravierender und damit das Interesse an Rückkehr evtl. größer.

    Die Alternative „Flüchten oder Bleiben hat sich im Laufe der Jahrtausende der Menschheitsgeschichte sicherlich schon hunderten von Millionen Menschen gestellt. Der Report 2016 der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR spricht von ca. 65 Mio. Menschen, die sich Ende 2016 auf der Flucht befanden, d. h. „gewaltsam vertrieben als Ergebnis von Verfolgung, Konflikt, allgemeiner Gewalt und Menschenrechtsverletzungen waren. Dabei macht UNHCR einen Unterschied zwischen den ca. 40 Mio. Binnenvertriebenen (engl. internally displaced persons), den ca. 22 Mio. Flüchtlingen (engl. refugees) und den ca. 3 Mio. Asylbewerbern (engl. asylum seekers). ¹

    Die Unterscheidung von UNHCR in Binnenvertriebene hat nicht nur statistische Bedeutung sondern prägt auch die Politik von UNHCR. Daraus wird deutlich, dass es nicht ganz unwichtig ist, welchen Begriff von Flucht man in Theorie und rechtlich-politischer Praxis unterstellt. Darauf weist auch Piskorski hin und führt als eines von vielen Beispielen die vietnamesischen Boat People an, die offiziell als Wirtschaftsflüchtlinge deklariert und als Folge davon repatriiert wurden.² Es macht also durchaus Sinn, einen Moment über das Wesen von Flucht nachzudenken, zumal es auch in der weiteren Betrachtung darauf ankommen wird, zwischen echten und unechten Flüchtlingen zu unterscheiden, weil davon ihre Rechtsansprüche an die nationale und globale Flüchtlingshilfe abhängen. Im Falle der vietnamesischen Boat People wurden diese abgelehnt.

    Eine weitere vor allem rechtlich relevante Quelle für die Abgrenzung des Fluchtbegriffs ist die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)³, die in ihrem Artikel 1 den Begriff „Flüchtling" definiert. Als einzige Gruppe von Fluchtgründen lässt sie Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung und/oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gelten. Krieg, Bürgerkrieg, Folter, Naturkatastrophen finden hier keine Erwähnung, werden aber de facto von UNHCR akzeptiert. Die Überschreitung der Grenze des eigenen Staates und damit die Nicht-Inanspruchnahme seines Schutzes sind gemäß GFK Bedingung für die Flüchtlingseigenschaft. ⁴ Diese Bedingung hat UNHCR möglicherweise zu der oben erwähnten Unterscheidung in Flüchtlinge und Binnenvertriebene veranlasst. Aber auch für Letztere fühlt sich UNHCR zuständig.

    Für unsere weitere Betrachtung ist es wichtig, eine Vorstellung von Flucht zu umschreiben, die über die aktuelle Statistik und Politik hinausgeht. „Flucht ist eine Reaktion auf Gefahren, Bedrohungen oder als unzumutbar empfundene Situationen. Meist ist die Flucht ein plötzliches und eiliges, manchmal auch heimliches Verlassen eines Aufenthaltsortes oder Landes. Die eilige Bewegung weg von der Bedrohung ist oft ziellos und ungeordnet, eine Flucht kann aber auch das gezielte Aufsuchen eines Zufluchtsortes sein. Fluchtverhalten gehört zum natürlichen Verhaltensrepertoire von Tieren. ⁵ Man darf getrost hinzufügen: Flucht gehört auch zum natürlichen Verhaltensrepertoire von Menschen, wobei diese evtl. eine sorgfältigere Entscheidung treffen, wenn ihnen genügend Zeit gegeben ist. Einen weiteren Punkt möchte ich dieser Definition als wesentlich hinzufügen: Der Flüchtende möchte den Standort, an dem er sich zum Zeitpunkt der Flucht befindet, eigentlich halten. Es war zu diesem Zeitpunkt der Ort seiner Wahl, in vielen Fällen sogar – subjektiv empfunden – seine Heimat, in der er Wurzeln geschlagen hat. Dieser Ort ist evtl. stark mit der Lebensgeschichte des Flüchtenden verbunden, er verbürgt Traditionen und ist möglicherweise das Ergebnis von Investitionen wie z. B. bei einem eigenen Anwesen. Je mehr diese Faktoren gegeben sind umso näher liegt es, dass der Flüchtling eigentlich zurückkehren möchte, sobald die gefährliche Situation beseitigt ist. Diese Rückkehrwilligkeit möchten wir als ein Merkmal von Flucht im Auge behalten. Sie unterscheidet Flucht von Auswanderung, obwohl auch dabei das Heimweh mitunter auf dramatische Weise zur Rückkehr drängt.

    Insbesondere bei der Flucht vor plötzlichen Naturkatastrophen wie Stürmen und Vulkanausbrüchen muss sehr schnell, mitunter geradezu überstürzt, gehandelt werden. Aber es gibt auch Fluchtarten, bei denen eine langfristige Planung nicht nur möglich sondern auch unumgänglich ist. Ich denke an manche Flucht aus der DDR, die jahrelang sorgfältig geplant wurde.⁶ In solchen Fällen ist Flucht häufig auch zielgerichtet, ist somit nicht nur eine Bewegung weg von einem Ort, sondern gleichzeitig eine gezielte Bewegung hin zu einem bestimmten anderen Ort. Im Falle des DDR-Flüchtlings war dies meistens Westdeutschland. Im Zuge der nahöstlich-europäischen Flüchtlingskrise 2015/16 waren die Zielorte häufig europäische Länder mit einer besonderen Präferenz für Deutschland. Allerdings muss man bedenken, dass die große Mehrzahl der Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan auch in dieser Krise in einem der Anrainerstaaten Türkei, Jordanien und Libanon gelandet ist. Die Rückkehr von dort in die Heimat ist sehr viel leichter zu bewerkstelligen. Aus diesem und anderen Gründen dürfte die Rückkehrwilligkeit bei diesen mehr als 4 Millionen Menschen ausgeprägter sein als bei denen, die in Europa angekommen sind. Bei letzteren spielte der Aspekt „Flucht wohin teilweise eine größere Rolle als der in Not geborene Gedanke „Flucht wovor. Daraus ergibt sich eine beträchtliche Zahl von Asylbewerbern, deren Antrag abgelehnt wird, weil die Gerichte eher Auswanderungsmotive als Fluchtgründe unterstellen.⁷

    Wir beobachten in der Menschheitsgeschichte die Rückkehrwilligkeit insbesondere auch nach Vertreibungen, die man als durch eine politisch-militärische Macht unmittelbar erzwungene Flucht betrachten kann. Ein eindrucksvolles Beispiel bieten uns über Jahrtausende hinweg die Juden, die nach ihrer Babylonischen Gefangenschaft als Volk wieder zurückkehrten und nach ihrer Zerstreuung durch die Römer knapp 1900 Jahre später wieder einen Staat bildeten Auch die deutsche Geschichte weist eindrucksvolle Beispiele auf. Wir wissen z. B. nicht genau, wie viele Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in den 50er und 60er Jahren zurückgekehrt wären, wenn man ihnen ihr Grundeigentum zurückerstattet hätte. Es könnten Hunderttausende und mehr gewesen sein, wenn man die Aktivitäten der Heimatvertriebenen in den Jahrzehnten nach dem Krieg betrachtet.

    Wir haben damit Flucht zumindest grob gegenüber Auswanderung abgegrenzt und Vertreibung als einen Sonderfall von Flucht eingeordnet. Als Ursachen für Flucht kommen weiterhin in Frage: Naturkatastrophen, Hungersnot, Verfolgung, Unterdrückung, Bürgerkrieg, Krieg und wirtschaftliche Not. Der Freiheitsspielraum des potentiellen Flüchtlings ist bei den einzelnen Ursachenkomplexen unterschiedlich. Während es bei plötzlich auftretenden Naturkatastrophen häufig um das nackte Überleben durch schnelles Handeln geht, können sich Vertreibung und Unterdrückung über einen längeren Zeitraum hinziehen, der evtl. eine gewisse Fluchtvorbereitung ermöglicht. Unterdrückung kann man grob umschreiben als die gewaltsame Hinderung an der Ausübung der Menschenrechte.

    1.1.2. Der Flüchtling – ein mehrfach Geschlagener

    Der Flüchtling ist ein vielfach Geschlagener: Von seinem Ursprungsort musste er weichen, dann eine beschwerliche Flucht auf sich nehmen und am Zufluchtsort zahlreiche Schwierigkeiten bewältigen.

    Die Flüchtlingskrise 2015/16 hat vielen Menschen in Europa und besonders in Deutschland etwas in Erinnerung gebracht, was manche schon fast vergessen, die meisten aber noch nie erlebt hatten: Das Leid eines Flüchtlings. Die letzte große Fluchtbewegung in Europa war die aus der DDR.⁸ Der Zielort war überwiegend Westdeutschland, das dazu geeignet war, die in der These angeführten Leidfaktoren besonders niedrig zu halten: Die wirtschaftliche Eingliederung verlief häufig zügig, sodass der materielle Verzicht durch Verlassen der Heimat bald ausgeglichen war, zumal das Konsumgüterangebot am Zufluchtsort deutlich besser war. Der Fluchtweg war vor dem Mauerbau kurz und unproblematisch, danach evtl. durch Umwege über die Ostsee oder den Balkan länger bzw. wegen des Schießbefehls an der Mauer viel gefährlicher. Immerhin hat er ca. 1000 Menschen das Leben gekostet.⁹ Durch die Willkommenskultur der Bundesrepublik und evtl. vorhandene Verwandte waren die Startschwierigkeiten begrenzt. Ich erinnere mich, dass allein meine Eltern mindestens 6 Flüchtlingen erheblich geholfen haben. Trotzdem: Ein vertrautes Umfeld wurde verlassen. Nicht immer hat sich der ehemalige DDR-Bürger im „kapitalistischen Westen" gut eingewöhnen können. In wieweit die Integration der DDR-Flüchtlinge zumindest in der zweiten und dritten Generation gelang, kann man vielleicht daran erkennen, dass sich der Rückstrom in die Heimat nach der Wiedervereinigung in Grenzen hielt. (Vgl. Frage 1). Das bedeutet, dass viele DDR-Flüchtlinge ihr Ziel erreicht haben: Leben in einem freieren und wirtschaftlich stärkeren Land mit größeren Entwicklungschancen.

    Die ökonomische Wirtschaftstheorie hält hier ein aussagekräftiges Gleichnis bereit, das uns in diesem Buch begleiten wird: Ein Bergsteiger befindet sich auf dem Weg zu einem bescheidenen Gipfel und sieht in der Ferne einen viel höheren und attraktiveren Gipfel. Er entschließt sich zum Abstieg, um sich an den Fuß des anderen Berges zu begeben, der ihm so viel mehr Chancen bietet. Dort muss er zwar von vorn anfangen, aber er hat die Perspektive eines viel höheren Gipfels. Insoweit ein DDR-Bürger nicht politisch verfolgt wurde, aber das System mit seinen begrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten satt hatte und aus diesem Grund nach Westdeutschland ging, konnte man ihn bestenfalls als Wirtschaftsflüchtling einstufen. Er war in diesem Falle eher ein Auswanderer als ein Flüchtling. Er war weniger ein Geschlagener als ein Frustrierter. (Vgl. Frage 2)

    Die Flucht 2015/16 aus dem Nahen Osten über die Balkanroute hatte demgegenüber ganz andere Dimensionen: Höherer Leidensdruck durch Bürgerkrieg und Verfolgung am Ursprungsort, ein langer und entbehrungsreicher Fluchtweg durch unfreundliche Länder und über schwierige Grenzen, das Ankommen in der völlig fremden Kultur eines europäischen Landes. Ein syrischer Flüchtling musste sich in seiner Heimat geschlagen geben, sei es gegenüber Bombenangriffen, einem heranrückenden Islamischen Staat oder der Bedrohung durch Verhaftung und Folter. Er musste sein Heim verlassen und in das nächst verfügbare Lager in Jordanien, dem Libanon oder der Türkei ausweichen. Wenn er Pech hatte musste er dort mit seiner Familie Hunger und andere Not leiden. Er wieder ein Geschlagener und musste seine Flucht fortsetzen. Wenn er Pech hatte, ist er in das Netz von Schleppern geraten und ausgebeutet worden oder gar zu Tode gekommen. Hat er diesen Schlag verkraftet, so kann ihn das Pech weiter verfolgt haben, dass er in Idomeni vor einer unübersteigbaren Mauer ankam und schließlich wieder in einem türkischen Lager gelandet ist. Gehörte er zu den Glücklichen, die vor dem Bau der Balkanmauern nach Europa gelangten, so kann es ihm passieren, dass sein Antrag auf Asyl abgelehnt und er abgeschoben wird. Darf er bleiben, so findet er sich in einer fremden Kultur, die er nicht wirklich gewählt hat und die ihm viele Schwierigkeiten bereitet, z. B. in Form von langen Wartezeiten und rechtsextremen Anfeindungen.

    Die Formen des geschlagen seins sind von Fall zu Fall und auch von Region zu Region natürlich sehr unterschiedlich. Haben wir es beispielsweise mit einer Hungersnot zu tun, so ist der Feind die Natur und weniger der Mensch. Für den Bedrohten ist es wichtig so rechtzeitig aktiv zu werden, dass er und seine Familie noch die Kräfte haben, um einen längeren Fluchtweg in eine bessere Region bewältigen zu können. Wenn er schon in die Lethargie des Hungernden verfallen ist, bekommt er den Start nicht hin. Daran erkenne wir auch, dass sich der Flüchtige sich mit seinem Schicksal ganz in der Nähe des Verhungernden befindet. Letzterer hat nicht mehr die Kraft, dem Tod zu entfliehen. Der Flüchtling hat sie noch, auch wenn der Tod in Form von Krieg, Bürgerkrieg, Verfolgung und Folter droht.

    In obiger Beschreibung sind wir von einem echten Flüchtling ausgegangen, bei dem im Anfangsstadium die „Flucht wovor" nahezu zwingend war. Es ist bei drohenden dramatischen Lebenssituationen nur allzu verständlich, dass jemand versucht frühzeitig zu reagieren, um nicht einem totalen Zeitdruck ausgesetzt zu sein und die Bewegung weg von einem gefährlichen Ort umzugestalten in eine Bewegung hin zu einem möglichst viel besseren Ort, z. B. Europa.

    Offene Fragen

    Wie viele DDR-Flüchtlingen in der ersten, zweiten bzw. dritten Generation sind nach der Wiedervereinigung wieder in ihre Heimat zurückgekehrt?

    Wie viele der ca. 3,5 Mio. „DDR-Flüchtlinge" waren von ihrer Ausgangslage und Zielsetzung her eher Auswanderer als Flüchtlinge?

    1.1.3. Die Freiheitsspielräume eines potentiellen Flüchtlings

    Die Handlungsalternativen potentieller Flüchtlinge sind je nach Art der Notlage, ihren Persönlichkeitsmerkmalen und ihren Ressourcen sehr unterschiedlich. Sie reichen vom Ausharren bis zum überstürzten Aufbruch.

    Die Handlungsalternativen eines potentiellen Flüchtlings kann man wie folgt abstufen:

    Bleiben und versuchen, die Gefahr abzuwehren,

    Bleiben, aber Frau, Kinder und evtl. wertvolle Vermögensteile in Sicherheit bringen,

    Rückzug zum nächsten sicheren Ort innerhalb desselben Staates evtl. mit der Absicht, bei nächster Gelegenheit in das Geschehen einzugreifen bzw. zurückzukehren,

    Flucht in einen anderen mehr oder weniger fernen Staat mit oder ohne Rückkehrabsicht.

    Der Freiheitsspielraum des potentiellen Flüchtlings ist bei den schon erwähnten Ursachenkomplexen Naturkatastrophe, Vertreibung, Verfolgung, Unterdrückung, Krieg, Bürgerkrieg und wirtschaftliche Not unterschiedlich. Während es bei plötzlich auftretenden Naturkatastrophen häufig um das nackte Überleben durch schnelles Handeln geht, können sich Vertreibung und buchstäbliche Verfolgung über einen längeren Zeitraum hinziehen, der evtl. eine gewisse Fluchtvorbereitung ermöglicht. Unterdrückung kann man grob umschreiben als die gewaltsame Hinderung an der Ausübung der Menschenrechte. Hier hat das Individuum zahlreiche Handlungsmöglichkeiten: Flucht, Widerstand, Ertragen der Unterdrückung, evtl. bis zum Märtyrertod. Krieg ist eine soziale Katastrophe, bei der zumindest für gesunde Erwachsene die Option im Raum stehen kann, an den militärischen Handlungen aktiv teilzunehmen, um ihren Ausgang im Sinne der eigenen Interessen zu beeinflussen. Für Kinder besteht diese Option nicht. Sie müssen in Sicherheit gebracht werden. Noch etwas weiter können wie oben bereits erwähnt die Handlungsspielräume bei wirtschaftlicher Not sein. Bei einer mit einer plötzlichen Naturkatastrophe verbundenen Hungersnot ist wieder schnelles Handeln erforderlich. Anders ist die Lage bei einer allgemeinen Wirtschaftskrise oder einer sehr schlechten Wirtschaftslage mit hoher Arbeitslosigkeit und Inflation. Hier besteht mitunter die Möglichkeit in einer Nische über die Runden zu kommen und durch das eigene Handeln die Lage im Land zumindest lokal zu verbessern.

    Die Handlungsalternativen des potentiellen Flüchtlings hängen natürlich auch in hohem Maße von seinen Persönlichkeitsmerkmalen ab: Alter, Gesundheit, Familienstand, Ressourcen, Mobilität, Bildung und Ausbildung, Beziehungen, sozialer Status usw. Diese Faktoren beeinflussen nicht nur die Möglichkeit und Notwendigkeit der Flucht, sondern auch die Einflussmöglichkeiten auf das heimatliche Geschehen im Falle des Bleibens. Ein Arzt mit Frau und drei Kindern könnte mit diesen die Flucht ergreifen, um sich und die Familie vor Kriegswirren in Sicherheit zu bringen. Er könnte aber auch mit der Familie bleiben, um in den Lazaretten zu helfen. Eine Mischvariante wäre es, wenn er seine Familie in Sicherheit bringen könnte und selbst hinter oder an der Front Verwundete versorgen würde.

    Ein wichtiger Faktor für das Handeln eines potentiellen Flüchtlings ist sein Informationsstand. Es gilt für ihn, die Lage und weitere Entwicklung im eigenen Land realistisch einzuschätzen. Daraus ergeben sich die Perspektiven, die ein weiteres Verbleiben am gegenwärtigen Wohnort eröffnen würde. Wenn die Flucht nicht überstürzt stattfinden muss, so wird er auch über ein Fluchtziel und den dazugehörigen Fluchtweg nachdenken. Auch dazu braucht er möglichst zuverlässige Informationen. Generell wird man sagen müssen, dass ein Schleier der Ungewissheit über allen oben genannten Informationen liegt, der größer ist als bei einer normalen Umzugs- oder Auswanderungsentscheidung. Dies liegt daran, dass sich der potentielle Flüchtling in vielen Fällen in einer Ausnahmesituation befindet, in der auch die Informationsflüsse gestört sind. In solche Situationen sind z. B. die Fotos gerauscht, die syrische Flüchtlinge im Spätsommer 2015 von der deutschen Bundeskanzlerin geschossen hatten. In einer extremen Situation der Unsicherheit taucht plötzlich Angela Merkel auf dem Display auf und sendet einladende Signale aus dem fernen Deutschland.¹⁰

    1.1.4. Pro und contra Flucht

    Flucht ist eine individuelle Entscheidung von großer Tragweite, deren Vor- und Nachteile außer unter persönlichen und familiären auch unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten abzuwägen sind, wenn man nicht egoistisch bzw. gruppenegoistisch handeln möchte.

    Die Tragweite einer Entscheidung zur Flucht ist gekennzeichnet durch das Umfeld, das der Flüchtling verlässt, durch die Ungewissheit über den Weg, den er zurücklegen muss, um sein Ziel zu erreichen und schließlich durch die Ungewissheit über das Umfeld, das ihn am Zielort erwartet. Nehmen wir den Fall einer christlichen syrischen Familie, die in den Bürgerkriegswirren mehr und mehr wegen ihres Glaubens angefeindet und bedroht wird. Sie wohnt in einem eigenen Haus, betreibt ein kleines Geschäft und hat trotz aller Anfeindung auch Verwandte und Freunde in der Stadt. Vor Ausbruch des Bürgerkrieges hat die Familie ein erträgliches Leben führen können. Selbst in den bisherigen Bürgerkriegswirren ist sie noch über die Runden gekommen, aber die Stimmung in der Stadt wird immer bedrohlicher, die Truppen des Islamischen Staates rücken näher. Das ist eine Situation, in der die Eltern anfangen, über Flucht nachzudenken. Sie würde bedeuten, die Heimat und eine über Jahre aufgebaute soziale und wirtschaftliche Existenz zu verlassen. Kinder und Erwachsene würden die Nähe ihrer Freunde, Verwandten und Glaubensgenossen verlieren. Eine dramatische Einbuße an Lebensqualität wäre zu verkraften. Man müsste sie hinnehmen in der vagen Hoffnung, in einem fremden Land auf lange Sicht ein besseres Leben führen zu können als man es in der Heimat erwarten durfte.

    Dies wäre die Skizze einer familienbezogenen Interessenlage bei der Fluchtentscheidung. Zur Veranschaulichung dieser Entscheidungssituation möchte ich auf das schon erwähnte Bild aus der Wohlfahrtsökonomie verweisen: Die syrische Familie befindet sich in der Ausgangslage am Hang eines Berges. In den Jahren vor dem Bürgerkrieg konnte sie sich Schritt für Schritt emporarbeiten: Die Familie hat sich vergrößert, die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen zu Menschen in Stadt und Umland sind im Durchschnitt vertrauter geworden, das häusliche Anwesen wurde verbessert, der Betrieb konnte langsam bei Umsatz und Gewinn wachsen. Wenn der Bürgerkrieg nicht gekommen wäre, hätte man unter dem Strich weiteren Fortschritt prognostizieren dürfen: Die Familie hätte ihren Gesamtnutzen, ihre Wohlfahrt, weiter gesteigert. Im Bild gesprochen: Sie wäre an dem Wohlfahrtsberg weiter emporgeklettert, hätte sich dem Gipfel durch kleine – im Fachjargon: marginale - Schritte weiter genähert. Durch den Bürgerkrieg hat sich die Lage dramatisch geändert. Nicht nur die Aussicht auf weiteren Fortschritt hat sich zerschlagen. Rückschritte müssen verkraftet werden mit der Erwartung, dass es weiter bergab geht. Auswanderung bzw. – sofern die Zeit drängt – Flucht bedeutet in dieser Situation: Runter an den Fuß des Wohlfahrtsberges, den man jahrelang mühsam aber erfolgreich bestiegen hat. Sie bedeutet Aufbruch in ein vielleicht fernes Land in der Hoffnung, dort einen Berg vorzufinden, den man wieder in Ruhe besteigen kann und der einen höheren Gipfel hat als der, den man in der Heimat hätte erreichen können. Eine solche Veränderung im Leben eines Menschen oder einer Familie hat strukturellen Charakter: Es ändern sich grundlegende Dinge. Darin besteht die große Tragweite einer Entscheidung zur Auswanderung bzw. zur Flucht. Im Falle der Auswanderung kann dieser Strukturwandel sorgfältig geplant und Schritt für Schritt vollzogen werden. Im Falle der Flucht besteht meistens Zeitdruck, was viele materielle und immaterielle Kosten in die Höhe schnellen lässt. Aus dem Strukturwandel wird ein mehr oder weniger abrupter Strukturbruch im Leben der Familie.

    Millionen DDR-Bürger standen vor ähnlichen Entscheidungen. Wir wissen, dass mehr als 3 Millionen gegangen sind.¹¹ Wir wissen nicht, wie viele mit dieser Entscheidung gerungen haben und geblieben sind. Die Entscheidung war in mancher Hinsicht einfacher als die der syrischen Familie. Der Fluchtweg war kürzer, das Fluchtziel war ein Land mit gleicher Sprache, in dem in nicht wenigen Fällen Verwandte und Freunde lebten. Dieses Land, die Bundesrepublik Deutschland, pflegte eine ausgeprägte Willkommenskultur für DDR-Flüchtlinge. Die Wirtschaft florierte und profitierte von den Fähigkeiten der eingewanderten DDR-Bürger. Trotzdem war die Flucht, zumal nach Errichtung der Mauer, eine in vieler Hinsicht riskante Sache. Sie bedeutete Aufgeben einer mühsam erarbeiteten privaten und sozialen Existenz in der DDR und Neuanfang unter unsicheren Bedingungen. Es war eine drastische und mitunter schnelle Veränderung elementarer Lebensstrukturen, ein Strukturbruch wie oben beschrieben. Wir wissen nicht, wie viele Menschen diesen Schritt irgendwann einmal bereut haben. Zumindest in privatwirtschaftlicher Hinsicht dürften die meisten Fluchtgeschichten Erfolgstories gewesen sein. Im Bild gesprochen: Es war die Verlagerung der Existenz an den Fuß eines höheren Wohlfahrtsberges, der dann auch erfolgreich bestiegen werden konnte. Wir wissen nicht, wie viele DDR-Flüchtlinge im Westen Millionäre wurden. Einige tausend werden es wohl gewesen sein. Gravierender für die Menschen war wohl das Leben in einem System mit größerer Freiheit. Auch diese konnte nicht nur genossen, sondern musste auch verkraftet werden. Der eine oder andere ist vielleicht daran gescheitert. Eine solche Möglichkeit gehörte zu den Risiken der Fluchtentscheidung eines DDR-Bürgers.

    Die christlich geprägten Eltern der syrischen Familie werden bei ihrer Entscheidung nicht nur an ihr eigenes Wohl, sondern auch an das ihrer Kinder denken. Was das Wohl der Erwachsenen anbelangt, so stehen im Raum elementare Werte wie Überleben, innere Sicherheit, freie Religionsausübung, freie politische wirtschaftliche und soziale Entfaltung, Ausübung aller Menschenrechte. Alles das wünschen die Eltern natürlich auch ihren Kindern, wenn sie einmal groß sind. Streben sie als Ziel ein europäisches Land an, so dürfen sie zumindest hoffen, dass sie dort Anschluss an eine christliche Gemeinde finden und dadurch einen leichteren Start haben. Andererseits müssen sie mit einer schweren Zeit bis zu ihrem Ziel rechnen, zumal die meisten Mitflüchtlinge Moslems sein werden, die sich möglicherweise intolerant verhalten.

    Damit sind die Chancen und Risiken der Fluchtentscheidung im Hinblick auf das zukünftige Wohl der syrischen Familie in ihrer Gesamtheit einigermaßen umrissen. In obiger These hatte ich darauf hingewiesen, dass bei einer verantwortungsvollen Fluchtentscheidung auch soziale Aspekte zu berücksichtigen sind. Dies ist zumal dann der Fall, wenn die Entscheidungsträger christlichen Maßstäben genügen wollen. Bisher stand das eigene Wohl und das der eigenen Familie im Vordergrund der Betrachtung. Dies ist

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