Revision der Psychologie: Das Erbe eines halben Jahrhunderts Bewusstseinsforschung
Von Stanislav Grof
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Buchvorschau
Revision der Psychologie - Stanislav Grof
Bibliografie
Moderne Bewusstseinsforschung und die Entstehung eines neuen Paradigmas
Aufgrund meiner Beschäftigung mit aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, die ich «holotrop» nenne und mit denen ich nun schon mehr als fünfzig Jahre arbeite, schlage ich eine grundlegende Revision der Prämissen der modernen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie vor. Diese betreffen die Natur des Bewusstseins, dessen Beziehung zur Materie, die Dimensionen der menschlichen Psyche, die Struktur der emotionalen und psychosomatischen Störungen sowie bestimmte Strategien der Psychotherapie. Aus meiner Sicht scheint Spiritualität ein wesentliches Attribut der menschlichen Psyche und der menschlichen Existenz im Allgemeinen zu sein. Eine besondere Bedeutung für die Bewusstseinsforschung – wichtig und dennoch umstritten und hier auch nur sehr oberflächlich abgehandelt – kommt dabei auch der archetypischen Psychologie und der Astrologie zu.
Im Jahr 1962 veröffentlichte Thomas Kuhn, einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, sein bahnbrechendes Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (KUHN 1967). Nach fünfzehn Jahren intensiven Studiums der Geschichte der Wissenschaft kam er zu dem Schluss, dass die Entwicklung des Wissens über das Universum in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen sich nicht wie gewöhnlich angenommen als ein Prozess der allmählichen Anhäufung von Daten sowie der Formulierung immer genauerer Theorien vollzieht. Stattdessen zeige diese Entwicklung eine eindeutig zyklische Eigenschaft mit genauen Abstufungen und einer charakteristischen Dynamik, die erkannt und sogar vorhergesagt werden könne.
Die zentrale Idee von Kuhns Theorie ist das Konzept des Paradigmas. Ein Paradigma kann als eine Konstellation von Überzeugungen, Werten und Techniken definiert werden, über die von Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinschaft einer bestimmten historischen Periode ein Konsens besteht. Ein Paradigma bestimmt deren Denk- und Forschungsaktivitäten, bis einige Grundannahmen durch neue Beobachtungen ernsthaft infrage gestellt werden. Dies führt zu einem Wendepunkt und zur Entstehung völlig neuer Sichtweisen und Interpretationen von Phänomenen, die das alte Paradigma nicht erklären konnte. Schliesslich erfüllt einer dieser neuen Denkansätze die notwendigen Anforderungen für ein neues Paradigma, das wiederum die nächste Periode der Wissenschaftsgeschichte dominiert.
Die bekanntesten historischen Beispiele wichtiger Paradigmenwechsel waren der Ersatz des ptolemäischen geozentrischen Weltbildes durch das heliozentrische System von Kopernikus, Kepler und Galileo, die Widerlegung von Bechers Phlogistontheorie in der Chemie durch Lavoisier und Daltons Atomtheorie. Auch die konzeptionellen Umwälzungen in der Physik in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die die Hegemonie der Newtonschen Physik aufbrachen und Theorien der Relativität und der Quantenphysik hervorbrachten, gehören dazu. Paradigmenwechsel überraschen üblicherweise die etablierte Wissenschaftsgemeinschaft, deren Mitglieder meist die führenden Paradigmen für die einzige definitive Beschreibung der Wirklichkeit halten. So stellte im Jahr 1900, kurz vor der Entdeckung der Quantenphysik, Lord Kelvin fest: «In der Physik gibt es nichts Neues mehr zu entdecken. Was zu tun bleibt, ist lediglich, genauere Messungen durchzuführen.»
In den letzten fünf Jahrzehnten haben verschiedene Gebiete der modernen Bewusstseinsforschung eine reiche Palette an «anomalen Phänomenen» entdeckt – Erfahrungen und Beobachtungen, die viele der allgemein anerkannten Annahmen der modernen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie untergraben. Diese Beobachtungen beziehen sich auf die Beschaffenheit und die Dimensionen der menschlichen Psyche, die Ursprünge emotionaler und psychosomatischer Störungen sowie wirksame therapeutische Behandlungen. Viele dieser Beobachtungen stellen in ihrer Radikalität die metaphysischen Prämissen der materialistischen Wissenschaft, was die Beziehung zwischen Bewusstsein und Materie sowie die Beschaffenheit des Menschen und der Realität angeht, infrage.
Holotrope Bewusstseinszustände
Seit mehr als einem halben Jahrhundert befasse ich mich mit der Erforschung einer wichtigen Untergruppe aussergewöhnlicher Bewusstseinszustände, für die ich den Begriff «holotrop» geprägt habe. Diese Erkenntnisse stellen eine grosse Herausforderung für die bestehenden wissenschaftlichen Paradigmen dar. Zuvor möchte ich den Begriff «holotrop», den ich hier verwenden werde, aber erklären. All die Jahre war es mein Hauptinteresse, das heilende, transformative und evolutionäre Potenzial aussergewöhnlicher Bewusstseinszustände zu erforschen und ihren grossen Wert als Quelle für neue, revolutionäre Erkenntnisse über das Bewusstsein, die menschliche Psyche und die Beschaffenheit der Wirklichkeit herauszuarbeiten.
Von diesem Gesichtspunkt aus ist der Begriff «veränderte Bewusstseinszustände» (engl.: altered states of consciousness, TART 1969), der häufig von Schulmedizinern und Forschern verwendet wird, nicht geeignet, da er einseitig eine Verzerrung oder Beeinträchtigung der sogenannten «richtigen Art und Weise», sich selbst und die Welt zu erleben, betont. (In der amerikanischen Umgangssprache und im veterinären Jargon bezieht sich der Begriff «to alter» auf die Kastration von Haustieren wie Hunden und Katzen).
Selbst die etwas bessere Bezeichnung «aussergewöhnliche Bewusstseinszustände» ist zu allgemein, da sie auch ein breites Spektrum von Zuständen einbezieht, die für den Gegenstand dieser Abhandlung nicht relevant sind. Dazu gehören gewöhnliche Delirien, die durch Infektionen, Tumore, Alkoholmissbrauch oder Kreislaufprobleme und degenerative Erkrankungen des Gehirns verursacht werden. Diese Veränderungen des Bewusstseins sind mit Desorientierung, Beeinträchtigung der intellektuellen Funktionen