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Heimkindheiten: Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg
Heimkindheiten: Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg
Heimkindheiten: Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg
eBook1.588 Seiten16 Stunden

Heimkindheiten: Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg

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Über dieses E-Book

Die Studie behandelt das System und die Realität der Fürsorge und Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg anhand von vier untersuchten Landeserziehungsheimen und Berichten von ZeitzeugInnen.

Mehr als zehntausend Kinder und Jugendliche waren bis in die 1990er Jahre einer machtvollen Fürsorgeerziehung in Tirol und Vorarlberg ausgeliefert. In Erziehungsheimen der Länder und katholischer Orden erlitten viele von ihnen psychische, körperliche oder sexualisierte Gewalt. Betroffen waren vor allem Mädchen und Buben sozial benachteiligter Familien. Dem Anspruch nach hätten diese Kinder vor unzulänglicher Versorgung und unzureichender Erziehung zu Hause bewahrt werden sollen, doch die öffentliche Ersatzerziehung erwies sich für die allermeisten als schwerwiegender. Betroffene leiden unter lange nachwirkenden Folgen.
Ein engagiertes AutorInnenteam der Universität Innsbruck beschreibt diese Anstaltserziehung und das umfassende Fürsorgeregime - mit seinen Wurzeln um 1900 und in der Zeit des Nationalsozialismus - als ein Zusammenwirken mehrerer Kräfte: der Jugendfürsorgepolitik und des Fürsorgeapparats, der frühen Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik.
Zahlreiche erstmals benützte Quellen und bisher unveröffentlichte Fotos und Materialien zeugen vom Ausmaß des Gewaltsystems in den vier Landesheimen der Region: am Jagdberg, in Kramsach-Mariatal, Kleinvolderberg und St. Martin. Sie zeigen aber auch den öffentlichen Protest von Betroffenen und sozialen Akteuren seit den 1970er Jahren. Als ZeitzeugInnen dokumentieren ehemalige HeimbewohnerInnen aus drei Generationen vielstimmig ihre Erfahrungen.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum29. Mai 2017
ISBN9783706558785
Heimkindheiten: Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg

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    Buchvorschau

    Heimkindheiten - Michaela Ralser

    Tirol.

    Einleitung

    Regime der Fürsorgeerziehung

    Die vorliegende Studie beansprucht, ein weiteres Stück zur Aufklärung jener Verhältnisse beizutragen, die Zehntausende Kinder und Jugendliche in Österreich nach 1945 in öffentliche Ersatzerziehung zwangen und sie dort einem Erziehungssystem aussetzten, das sich mehrheitlich als gewaltvoller erwies als jenes elterliche, vor dem sie hätten bewahrt werden sollen. Diese Kennzeichnung der Fürsorgeerziehung trifft umfänglich auch für Tirol und Vorarlberg zu. „Wir haben eine historische Verantwortung, nicht für die Taten unserer Vorfahren, sondern für unsere historische Identität (wer wir sind) und unsere historische Praxis (was wir tun)".1 Und damit auch für das kollektive Erinnern und Vergessen.

    Die Fürsorgeerziehung hat mit ihrem Kernbegriff der „eingetretenen oder drohenden Verwahrlosung" seit ihren Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert ein machtvolles System der Inspektion benachteiligter Familien etabliert, den derart Inspizierten systematisch Erziehungsschwäche attestiert und ihren als gefährdet und gefährlich geltenden Kindern in großer Zahl eine Ersatzerziehung zur bürgerlichen Brauchbarkeit und christlichen Sittlichkeit verordnet. Die Sorge um das als verwahrlost bezeichnete Kind war von Anfang an verbunden mit der ordnungs- und bald auch biopolitischen Ambition, in das Leben, in die Familien und in die elterliche Erziehung der unteren Klassen einzugreifen – mit dem Ziel, den obrigkeitlichen Erziehungswillen klassenübergreifend durchzusetzen.2 Kommunen und Länder, die katholische Kirche und ihre Erziehungsvereine, die Wohlfahrtsverbände und Teile der Humanwissenschaften (allen voran: die frühe Kinderpsychiatrie und Kinderneurologie, die Heilpädagogik und Entwicklungspsychologie) gingen ab 1900 immer deutlicher arbeitsteilig daran, die Familien der marginalisierten Schichten als insuffiziente Erziehungsmilieus zu identifizieren und die diesen erwachsenden, nun immer häufiger auch als sozial abweichend, als unerziehbar und als moralisch-minderwertig diagnostizierten Kinder und Jugendlichen in großem Maßstab der Fürsorgeerziehung zuzuführen. Mächtigste Materialisierung dieser wohlfahrtspolitischen Ambition um 1900 ist die außerordentlich hohe Zahl an geschlossenen Erziehungsanstalten in der untersuchten Region. Es gehört zu einer wesentlichen Aufgabe der vorliegenden Studie, die nachhaltige Wirkung dieser mächtigen Gründungswelle aufzuklären und die regionale Tragweite, welche sie als gebaute Anstaltserziehung dem 20. Jahrhundert hinterlässt, herauszuarbeiten.3

    So weisen die Fürsorgeerziehung und die zu ihrer Verwirklichung eingerichteten Landesfürsorgeerziehungsheime samt ihren Vorgängerinstitutionen – den konfessionellen Rettungshäusern, öffentlichen Besserungsanstalten und staatlichen k.k. Straf- und Landesarbeitshäusern – eine über hundertjährige Geschichte auf. Deren zeitlich letzte Ausläufer, die Kinder- und Jugendheime der Länder, existierten bis in die allerjüngste Vergangenheit. Das letzte diesen Traditionslinien entstammende öffentliche Erziehungsheim der Region (Jagdberg) schloss an der Wende zum 21. Jahrhundert, zwei weitere schlossen zehn Jahre zuvor (Kleinvolderberg und St. Martin) im ausgehenden 20. Jahrhundert. Nur eines (Kramsach-Mariatal) ist nach Protesten bereits früher, 1971 gewichen. Der Reformdruck, der spätestens seit den 1970er Jahren einsetzte – als zivilgesellschaftlicher Protest, als erste mediale Öffentlichkeit, als zunächst einzelne, sich bald mehrende Projektgründungen, die eine Alternative zur Heimerziehung darstellten, und schließlich als Professionalisierung der Jugendfürsorge von innen –, wurde von den Verantwortlichen der Politik wie der Landeserziehungsheime auf eine Weise beantwortet, welche die Erziehungsanstalt nicht überwand, sondern sie in behelfsmäßiger Adaptierung erhielt: viel zu lange und viel zu häufig ohne ausreichende substantielle Veränderung.4 Der Anstalt als pädagogischem Sonderort eignet eine spezifische Erziehungsform: die sonder- bzw. heilpädagogische Großheim- bzw. Anstaltserziehung mit all ihren sie kennzeichnenden Machtquellen und strukturellen Gewaltbedingungen. Diese noch in den 1970er Jahren in eine neue Zeit führen zu wollen, muss vom heutigen Standpunkt nicht nur als gescheiterter Versuch gelesen werden, sondern auch als eine schwerwiegende, noch viele Hunderte nunmehr ehemalige Heimkinder schädigende politische Fehlentscheidung.

    Allerdings ist auch für die Anstaltserziehung die Hypothese der „stillgestellten Zeit" nicht zutreffend. Selbstverständlich wandelten sich Erziehungsmittel und -ziele auch an eben diesen Orten der institutionellen Ersatzerziehung im Laufe der Zeit, und es ist Aufgabe und Auftrag dieser Studie, den Wandel an empirisch ermittelten Sachverhalten darzustellen und einzuordnen. Das unternimmt der vorliegende Band auf zweifache Weise: durch eine quellengestützte Rekonstruktion der Entstehungs-, Entwicklungsund Wirkungsgeschichte der vier großen Landeserziehungsheime der Region5 samt einer je heimspezifisch ausgelegten Periodisierung; und durch ihre umfassende zeitgeschichtliche Kontextualisierung, bezogen auf die Entwicklung der Jugendfürsorgepolitiken der Region im 20. Jahrhundert. Fraglos spiegeln die in den Quellen dokumentierten Haltungen und Handlungen derer, denen die Kinder und Jugendlichen über Jahre überantwortet wurden – ihre drastischen Erziehungskuren, ihre auf (Zwangs-) Arbeit und bürgerlich geschlechtsgebundene Moral fußenden Erziehungsmittel, ihre auf Denormalisierung der „Fürsorgezöglinge" und ihre Sondererziehung setzenden Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen, ihre strafende und in vielen Fällen schlagende Gehorsamkeits- und Korrekturpädagogik –, auch die Erziehungsvorstellungen der jeweiligen Zeit. Nirgendwo sonst aber kamen diese Vorstellungen derart umfassend, alternativlos und schrankenfrei zum Einsatz wie in der machtvollsten Form der Ersatzerziehung, in der geschlossenen Fürsorge-Heimerziehung. Vereinte die Anstaltserziehung doch alle Machtquellen, die eine totale Erziehungsinstitution kennzeichnen: Isolierung, Entindividualisierung, asymmetrische Abhängigkeit und nahezu schutzloses Ausgeliefertsein der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen.6

    Die seltenen zeitgenössischen Kritiker und die wenigen zu Veränderungen bereiten Erziehungsverantwortlichen der Landeserziehungsheime – PraktikantInnen der 1970er und 1980er Jahre, einige jüngere ErzieherInnen und der eine oder andere Heimleiter – konnten nicht damit rechnen, breite Zustimmung zu finden, weder in ihren Reihen noch bei den behördlichen Entscheidungsträgern der Jugendämter oder in der gesellschaftlichen Dominanzkultur. Sowohl aus einer kontextrelationalen Perspektive als auch, noch deutlicher, aus einer normativ heutigen Sicht muss festgestellt werden, dass die öffentliche Ersatzerziehung der Landesheime nicht nur weit hinter den Möglichkeiten der sich entwickelnden Zweiten Republik einschließlich ihrer sozialen Errungenschaften und kulturellen Bewegungen der 1960er Jahre zurückgeblieben ist, sondern auch hinter den Möglichkeiten der gesetzlichen Rahmenbedingungen des Jugendwohlfahrtsgesetztes 1954. Das System der Erziehungsheime hat die Entwicklungsbedingungen vieler der ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen mehr behindert denn gefördert, es hat Erziehung zur Ordnung regelmäßig vor Bildung und Ausbildung gesetzt und damit die Emanzipationschancen der Kinder gehindert, es hat Erziehungspraktiken vielförmiger körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt erzeugt, toleriert und/oder war zu ihrer Verhinderung nicht willens oder nicht imstande. Aus heutiger Perspektive muss festgehalten werden, dass die öffentliche Erziehung in den Landesfürsorgeerziehungsheimen Tirols und Vorarlbergs bis in die 1970er und noch in die 1980er Jahre hinein trotz rhetorischer und manchmal auch baulicher Anpassung fast durchweg durch systemische Beharrung, strukturelle Ineffizienz und materielle Unterausstattung gekennzeichnet war, abgesehen von Bemühungen einiger weniger Akteurinnen und Akteure. Den dieser Ersatzerziehung Anempfohlenen hat sie damit nur in ausgesprochen seltenen, spezifischen Akteurskonstellationen geschuldeten Fällen jene kompensatorischen Bedingungen des Aufwachsens geboten, die sie als „Erziehung an Eltern statt im Programm führte. Viel häufiger war sie durch umfassendes Versagen charakterisiert, ausgestattet mit einem Ensemble von systemhaften Gelegenheitsstrukturen, welche die Gewaltdynamik zwischen ErzieherIn und „Zögling, aber auch unter den „Zöglingen" ebenso in Gang setzte wie aufrechterhielt. Sie machte zahlreiche Kinder und Jugendliche zu Opfern von Gewalt.

    Allerdings standen die Erziehungsheime nicht allein und sie sind auch nur im Zusammenhang mit den sie umgebenden Kräften und Akteuren des Fürsorgeerziehungssystems zu beurteilen. Das strategische Zusammenwirken der Regeln, Apparate, Praktiken und Diskurse der Fürsorgeerziehung, die das geschlossene Erziehungsheim erst ermöglichten, lässt sich am treffendsten mit dem Begriff des Fürsorgeerziehungsregimes fassen.7 Zu den das Erziehungsheim orchestrierenden Kräften gehörten die Jugendfürsorgepolitik und der Jugendfürsorgeapparat mit all seinen Gliederungen ebenso wie die sie instruierenden Wissenschaften, allen voran die frühe Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik.8 Diese Instanzen gewinnen um 1900 jenen Organisierungsgrad, der es rechtfertigt, sie als Vorläufer der heutigen Kinder- und Jugendhilfe zu bezeichnen. Ihre regionale Entwicklung entlang der Zäsuren des 20. Jahrhunderts (der Monarchie, der Ersten Republik, des „Ständestaats", des Nationalsozialismus und schließlich der Zweiten Republik) an bisher kaum gewürdigtem Quellenmaterial nachzuzeichnen und zu analysieren, ist ein weiterer Verdienst der vorliegenden Studie.

    Auf einen Sonderweg der in der Jugendhilfe seit Beginn des 20. Jahrhunderts eng kooperierenden Länder Tirol und Vorarlberg sei schon einleitend hingewiesen. Die frühe Wohlfahrtsregion war mit Ausnahme der drei Landesbesserungsanstalten (St. Martin in Schwaz/Tirol, Pfatten in Südtirol und Sant’Ilario im Trentino) durch einen geringfügigen Ausbau der öffentlichen Fürsorge-Infrastruktur gekennzeichnet. Das wohlfahrtspolitische Engagement oblag in erster Linie den Diözesen, Klöstern und Kongregationen. Parallel und ergänzend zur Begründung einer Reihe von konfessionsgebundenen Schulstandorten zur Heranbildung des eigenen Nachwuchses ebenso wie zur christlichen Bildung der Armutsbevölkerung widmete sich bald eine erhebliche Zahl an katholischen Vereinen auch und besonders der sogenannten Verwahrlostenfürsorge. Diese machten sich die Erfassung und Betreuung der vermeintlich dem christlichen Glauben entfremdeten und sittlich verwahrlosten Kinder zur Aufgabe.

    Dieser Aufgabe erwuchs seit den 1880er Jahren eine ganze Reihe von Erziehungsheimen: der Jagdberg und ein verzweigtes Netz weiterer kleinerer Heimstrukturen in Vorarlberg, die Tiroler Erziehungsanstalten am Martinsbühel, in Kleinvolderberg, Scharnitz, Mieming und Innsbruck sowie später dann, ab den 1920er Jahren, die Bubenburg in Fügen. In der Ersten Republik wurden hier, im Unterschied zu den anderen österreichischen Bundesländern und mit Ausnahme des Städtischen Jugendamtes in Innsbruck, keine öffentlichen Institutionen der Jugendwohlfahrt etabliert. Die allermeisten Agenden der Jugendfürsorge nahmen weiterhin, in enger Anbindung an die Gerichte, private Wohlfahrtsträger wahr. Sie waren in Vereinen organisiert, konfessionell gebunden und dem bürgerlichchristlichen Erziehungsideal verpflichtet. Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde der Geltungsanspruch des Staates im Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge der Region – nun unter dem Vorzeichen der Nationalsozialistischen Volkspflege – durchgesetzt. Einige der späteren Landeserziehungsheime der Zweiten Republik haben in der NS-Zeit ihren Ursprung. Aber auch ein größerer Teil der seit den 1880er Jahren von christlichen Vereinen begründeten regionalen Anstalten unterschiedlichen Zuschnitts9 erfuhren nach ihrer zwangsweisen Einverleibung in die NS-Strukturen ab 1945 eine – von Seiten der Länder unterstützte – Neuauflage: als konfessionelle Großheime der Fürsorgeerziehung. Diese spezifische Konstellation ist einer der Gründe dafür, dass kein Bundesland – Wien ausgenommen – über ein derart dichtes Netz an Erziehungsheimen verfügte wie eben diese Region.

    Dass sich die Zahl der Erziehungsheime nicht verringerte, sich ihre Aufnahmekapazitäten im Gegenteil noch jahrzehntelang erhöhten – mit Spitzen in den 1950er und 1960er Jahren –, ist der Entwicklung der Jugendwohlfahrt in den ersten Nachkriegsjahrzehnten geschuldet. Wie schon die Kriegsfolgen des Ersten Weltkrieges wirkten auch jene des Zweiten Weltkrieges als Katalysatoren der Jugendwohlfahrt, auch in Tirol und Vorarlberg. Allerdings ist diese Ausweitung nicht allein auf die materielle Not und das Wohnungselend der Nachkriegsjahre zurückzuführen, sondern auch auf eine spezifische Deutung derselben. Die veränderten Familien- und Sozialverhältnisse (die zahlreichen, ausschließlich weiblichen Betreuungsarrangements, der Anstieg außerehelicher Geburten, die zunehmenden Scheidungsraten, Jugendkriminalität und beginnende Jugendkulturen) wurden als Erziehungskrise der Familie und als Erziehungsnotstand der Jugend gedeutet und mit kulturpolitischer Repression, heilpädagogischer Intervention und verstärkter Anstrengung zur Unterbringung in Ersatzerziehung beantwortet. Erneut gerät die bürgerliche Erziehungs- und Familienvorstellung zum Gradmesser, an dem jede davon abweichende Lebensgestaltung und Lebensnotwendigkeit (etwa die Erwerbstätigkeit der Frau und Mutter) scheitert, erneut steht die ledige Mutterschaft wie das uneheliche Kind unter besonderem Verdacht und die jugendliche Beanspruchung der Straße unter besonderer Vorverurteilung. Mangelnder sozialer Ausgleich und eine restaurative Kultur-, Geschlechter- und Familienpolitik werden dem Erziehungsheim in der unmittelbaren Nachkriegszeit, aber auch noch in den 1950er und 1960er Jahren Tausende weiterer Kinder zuführen. Allein die quantitative Dimension und damit verbunden die enorme Zahl der in den Heimen der Region untergebrachten Kinder und Jugendlichen – das Forschungsteam rekonstruiert allein für die öffentlichen Heime von 1945 bis 1990 eine Zahl von 8.000 HeimbewohnerInnen10 – verpflichten zur vertieften Auseinandersetzung. Eine solche Auseinandersetzung kann nun, nachdem das Schweigen gebrochen ist, seit wenigen Jahren mit eben diesen ehemaligen Heimkindern geführt werden: mit jenen, die über ihre Erfahrungen sprechen wollen und können. Es ist ein wesentliches Ziel dieser Untersuchung, das Wissen derjenigen Personen, die eine kürzere, meist aber längere Zeit in den Landeserziehungsheimen Tirols und Vorarlbergs verbracht haben, als Erkenntnismittel zu würdigen, ihre Erzählungen als wichtige historische Dokumente anzuerkennen und ihre Erfahrungen als bedeutsame zeitgeschichtliche Narrationen dem kollektiven Gedächtnis der Region hinzuzufügen.

    In sechs Großkapiteln entfaltet die Studie – ergänzt um Schaubilder, Karten und Tabellen – ihre Argumentation. Sie beginnt mit der Darlegung ihres Vorgehens: der detaillierten Beschreibung und Einordnung der konsultierten Quellen, der Darstellung der über narrativ-biografische Interviews gewonnenen ZeitzeugInnenberichte, ihrer Interpretation und Verarbeitung. Es folgt – erzählt entlang der Zäsuren des 20. Jahrhunderts – die ausführliche Analyse der Geschichte der Jugendwohlfahrt von den Anfängen um 1900 bis zu ihrer Reform um 1990. Diese wird noch ergänzt um eine Übersicht des konfessionsgebundenen Fürsorgepanoramas der Wohlfahrtsregion Tirol/Vorarlberg und eine Chronologie der wesentlichen Rahmenkonstellationen der historischen Kinder- und Jugendhilfe in Österreich. Daran anschließend präsentiert sich der umfassendste Teil der Studie: die Rekonstruktion der Entstehung, Entwicklung und Wirkung der vier großen Landeserziehungsheime; beginnend mit dem Heim am Jagdberg in Schlins, fortsetzend mit jenen in Kramsach-Mariatal und Kleinvolderberg, abschließend und gemäß der Forschungsanordnung mit einer zusätzlichen Perspektive auf die Arbeitsverhältnisse: St. Martin in Schwaz.11 Herausgehoben im Rahmen dieser Rekonstruktion sind elf aus den Erzählungen der ZeitzeugInnen geschöpfte Erinnerungsgeschichten. Sie geben als eigenständige Erkenntnismittel vertieften Einblick in das Fürsorgeerziehungssystem der Länder, von dem die in den Geschichten beschriebenen Personen mit ihren Erfahrungen ein maßgeblicher subjektiver Teil geworden sind. Einer dritten Vermittlungsebene schließlich dienen die sieben Bildstrecken. Vier davon erzählen die (Struktur-) Geschichte der Heime, zwei weitere einzelne herausgehobene Aspekte derselben (den Karzer und die Arbeit), eine siebte im ersten Teil der Arbeit illustriert den zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen das gewaltvolle System der Heimerziehung.

    Der Band präsentiert sich übersichtlich. Er will den unterschiedlichen Lesegewohnheiten und -interessen Rechnung tragen. Wer etwa besonders an den ZeitzeugInnengeschichten interessiert ist, findet diese durch deren besondere Kennzeichnung „..." und ihren doppelspaltigen Satz. Wer die Geschichte eines einzelnen Erziehungsheims, bezogen auf eine bestimmte Zeit, nachsucht, findet auch diese leicht: durch deren übersichtliche Gestalt und ihren chronologischen Aufbau. Wer nach einzelnen Orten oder Personen fragt, dem dient das Register am Ende des Buches als Auffindungshilfe. Die Nachweise zu den zahlreichen historischen Bild- und Textquellen finden sich in den ausführlichen Bildunterschriften, den Textanmerkungen und zusammengefasst im Anhang. Der umfängliche Einsatz von Karten, Grafiken, Tabellen und Fotografien schließlich will die Lesbarkeit der Studie erhöhen und das Bild als zusätzliche Erkenntnisquelle und Vermittlungsebene nutzen. Durch das Farbprogramm der Studie sind auch die einzelnen Bildstrecken mühelos auffindbar. Die Arbeit versteht sich als gemeinsames Projekt sämtlicher daran beteiligten Forscherinnen und Forscher und beruht auf intensiver und gemeinschaftlicher Diskussion all ihrer Teile. Dennoch gab es verschiedene herausgehobene Zuständigkeiten und Textverantwortlichkeiten. Um den monografischen Charakter der Studie zu betonen, die AutorInnen der einzelnen Teile aber dennoch kenntlich zu machen, enden die einzelnen Kapitel jeweils mit deren Kürzel. Am Schluss des Bandes findet sich das AutorInnenverzeichnis zum Nachschlagen.

    Die vorgelegten Ergebnisse sollen helfen, Bedingung und Wirkung von (Erziehungs-) Gewalt im Rahmen des Fürsorgeerziehungssystems aufzuklären und den Blick für die Gegenwart zu orientieren.

    Michaela Ralser

    Die Gründungswelle: Die Heime der Fürsorgeerziehung in der 2. Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts

    Die Erziehungsheime der Region im Nationalsozialismus

    Die Fürsorgeerziehungslandschaft in der Zweiten Republik

    1      Tillmanns Jenny, Was heißt historische Verantwortung? Historisches Unrecht und seine Folgen für die Gegenwart, Bielefeld, 2012, 15

    2      Vgl. Ralser Michaela u. Sieder Reinhard, Hg., Die Kinder des Staates/Children of the State, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG), 25 (2014), Nr. 1+2

    3      Vgl. dazu beispielhaft: Ralser Michaela, Leitner Ulrich u. Reiterer Martina, Die Anstalt als pädagogischer Sonderort. Das Vorarlberger Landeserziehungsheim am Jagdberg, in: Zeitgeschichte, 24 (2015), H. 3, 179–195

    4      Weder hatten die einschneidenden Transformationen im nahen Italien, wo mit dem Gesetz vom 27. 7. 1977, Nr. 616, die geschlossenen Erziehungsanstalten und Beobachtungsheime verboten und schon 1971 und noch umfassender 1977 jede Sonderbeschulung abgeschafft wurden, grenzüberschreitend Wirkung. Noch konnte sich der zivilgesellschaftliche Protest in Österreich im Anschluss daran oder der Verdacht über die Unangemessenheit der bestehenden Erziehungsheime, wie er im Verlauf der Sozialen Bewegungen ab 1970 vereinzelt auch aus dem Inneren der offiziellen Politik geäußert wurde, durchsetzen. So hatte etwa Tirols Soziallandesrat Salcher schon Anfang der 1970er Jahre vorgeschlagen, das Landeserziehungsheim Kleinvolderberg endgültig zu schließen. Erst die Ausdünnung der Zuweisungen durch die nunmehr als SozialarbeiterInnen ausgebildeten ehemaligen FürsorgerInnen, die damit einhergehenden drastisch sinkenden Belegungszahlen und die schließlich offenkundig gewordene, auch ökonomische Unrentabilität ermöglichten gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Schließung der Landesheime respektive ihre Überführung (wie etwa beim Jagdberg oder in St. Martin) in eine gewandelte Struktur.

    5      Es sind dies die Ausführungen zum Jagdberg als Landeserziehungsheim für schulpflichtige Buben, zu Kramsach-Mariatal als Landeserziehungsheim für schulpflichtige Mädchen, zu Kleinvolderberg als Landeserziehungsheim für schulentlassene Buben und junge Männer und schließlich zu St. Martin als Landeserziehungsheim für schulentlassene Mädchen und junge Frauen. Dass die konfessionellen Großheime der Fürsorgeerziehung, die sich insbesondere in Tirol ebenso bis in die 1990er Jahre erhalten haben – eines existiert heute noch –, hier nicht ausführlich behandelt werden, ist der Anlage dieser Studie und ihrem spezifischen Auftrag geschuldet, sich der öffentlichen Fürsorgeerziehung und den Landesanstalten zu widmen. Diese Entscheidung sagt aber nichts über die Gewaltförmigkeit der konfessionellen Heime aus; die diesbezüglichen Gewaltmeldungen bei der Opferschutzkommission belegen deren Unangemessenheit eindrücklich. Sie noch eingehender zu untersuchen, als dies bisher geschehen ist, bleibt deshalb ein wichtiges Desiderat der historischen Aufklärung.

    6      Dass dasselbe auch für die zum Teil bis heute existierenden Großheime der Behindertenhilfe galt und noch gilt, sei hier nur erwähnt. Die vorliegende Studie hat das Augenmerk darauf nicht gerichtet. Eine Befassung damit an anderer Stelle schiene allerdings dringend geboten.

    7      Vgl. dazu ausführlicher: Ralser Michaela, Bechter Anneliese u. Guerrini Flavia, Regime der Fürsorge. Eine Vorstudie zur Geschichte der Tiroler und Vorarlberger Erziehungsheime und Fürsorgeerziehungssysteme der Zweiten Republik, Innsbruck, 2014

    8      Vgl. dazu im Detail: Ralser Michaela, Die Sorge um das erziehungsschwierige Kind. Zur Rationalität der Arbeitsteilung zwischen Kinderpsychiatrie, Heilpädagogik und Fürsorgeerziehung am Beispiel der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation, in: Topp Sascha, Schepker Klaus u. Fangerau Heiner (Hg.), Kinder- und Jugendpsychiatrie im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, Heidelberg, im Erscheinen (2017)

    9      Unter der Überschrift „Die konfessionellen Träger der Jugendfürsorge und ihre Heime" werden in der Studie auch die konfessionsgebundenen Fürsorgevereine dargestellt und die Anstalten beschrieben, die im Laufe der Zeit gegründet wurden und von denen nicht wenige bis in die späten 1980er Jahre Bestand hatten oder noch bestehen. Die konfessionellen Erziehungsheime spielten, auch wenn sie nicht Hauptgegenstand dieser Studie sind, eine wesentliche Rolle in der regionalen Fürsorgeerziehungslandschaft.

    10    Ermittelt wurde die Zahl über die Zöglingsaufnahmebücher, über die Dokumentation der Heime ihre Jahresaufnahmequoten betreffend und über andere Quellen, um bestehende Überlieferungslücken auszugleichen. Nimmt man die privat-katholischen, ebenfalls von den Jugendämtern beschickten Großheime die Bubenburg, Martinsbühel und Scharnitz noch hinzu, gehen wir von vorsichtigen 12.000 bis 13.000 in der Region der Zweiten Republik anstaltsförmig untergebrachten Kindern aus. Bedenken wir die späte Schließung sind diese heute zwischen 35 und 75 Jahre alt.

    11    Die Geschichte der einzelnen hier dargestellten Heime zeigen paradigmatisch das Panorama möglicher Entwicklungslinien von Erziehungsheimen, auch über den regionalen Kontext hinaus: der 120 Jahre währende Jagdberg in Vorarlberg als pars pro toto einer öffentlichen Erziehungsanstalt, die dem frühen Typus eines Rettungshauses entstammt; Kramsach-Mariatal als eine öffentliche Erziehungsanstalt, die sich der „Entleerung" einer konfessionellen Einrichtung der Behindertenhilfe verdankt – die 61 dort untergebrachten, jungen Frauen und Männer wurden im Rahmen des NS-Euthanasieprogramms deportiert und in Hartheim ermordet. Die Anstalt beherbergt nach ihrer vergleichsweise frühen Schließung heute wieder eine Behindertenhilfeeinrichtung; Kleinvolderberg als mit 120 untergebrachten männlichen Fürsorgezöglingen zeitweise Tirols größter Erziehungsanstalt, um 1900 hervorgegangen aus einer katholischen Gründung zwischen Oblatenausbildung und konfessionsgebundener Beschulung der Armutsbevölkerung – heute eine Flüchtlingsunterkunft; schließlich St. Martin als einziger landeseigener Erziehungsanstalt Westösterreichs für schulentlassene Mädchen als pars pro toto einer aus einem Arbeits(gefangenen)haus hervorgegangenen Erziehungsanstalt.

    Die schriftlichen und mündlichen Quellen der Heim erziehung: Überlieferung, Erhebung und Auswertung

    Die vorliegende Studie verfolgt die Aufgabe, die Geschichte der vier regionalen Landeserziehungsanstalten zu erarbeiten, daraus Schlüsse hinsichtlich der wesentlichen Akteure, Kräfte und Verantwortlichkeiten zu ziehen und eine vertiefte Kenntnis über die Zusammenhänge, welche die historische Kinder- und Jugendhilfe der Region kennzeichnen, zu gewinnen und zu vermitteln. Sie will das Fürsorgeerziehungssystem, die Fürsorgeerziehungseinrichtungen und die Wirkungen, die sie in den Kindern und Jugendlichen hinterlassen haben, so präzise und so umfassend wie möglich darstellen und einordnen. Dazu benötigt sie zumindest drei Informationsquellen: die Erinnerungen der ehemaligen Heimkinder; die Überlieferungen in den Aktenbeständen des Fürsorgeerziehungssystems und – wo vorhanden – der Fürsorgeerziehungseinrichtungen, etwa der Erziehungsheime; schließlich alles, was an zeitgenössischer Literatur, Berichterstattung und Diskussion zu finden ist und mit dem Thema der Fürsorgeerziehung in der Wohlfahrtsregion Tirol und Vorarlberg zusammenhängt.

    Die erste Quellenart, das Interview mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Heimgeschichte, gibt den unmittelbarsten Einblick in die Wirklichkeit der Heime, der Heim erziehung und der Verwaltungsabläufe, die das unter Jugendfürsorge stehende Kind betreffen. Den Erzählungen der ehemaligen Heimkinder verdanken wir die Kenntnis des gewaltvollen Systems der Fürsorge aus eigener Anschauung, Erfahrung und Verarbeitung. Ihnen gilt der besondere Dank des Forschungsteams: dafür, dass sie die Belastungen auf sich genommen haben, ihre persönlichen Geschichten zu erzählen, dafür, dass sie den Mut zur Aussage gefunden und den jahrzehntelangen Bann des Schweigens gebrochen haben. Mit 75 ehemaligen Heimkinder standen wir in regem Kontakt, mit 37 hatten wir Gelegenheit, ein ausführliches Interview zu führen. Daneben haben wir auch mit Personen gesprochen, die als Heimleiter oder ErzieherInnen in den Institutionen tätig waren oder als vergleichsweise peripher Betroffene, etwa als PraktikantInnen, Schulleiter oder zivilgesellschaftliche AkteurInnen, in unterschiedlicher Weise und Intensität mit dem Fürsorgeerziehungssystem konfrontiert waren.

    Die zweite Quellenart, das überlieferte Aktenschriftgut des Fürsorgeerziehungssystems und der Fürsorgeerziehungseinrichtungen, gibt Einblick in die Vorgänge der Jugendwohlfahrtsbürokratie. Es liefert den unmittelbaren Zugang zu den verschriftlichten Grundlagen und Legitimationen, bezogen auf die Maßnahmen und Entscheidungen der Sozialbürokratien und Heimverwaltungen. Letztere hatten maßgeblichen Einfluss auf die Lebensverläufe und Lebenschancen der Kinder und Jugendlichen, die den Agenturen und Einrichtungen der Jugendwohlfahrt anvertraut und vielfach ausgeliefert waren. In den Beständen des Tiroler Landesarchivs (TLA), des Vorarlberger Landesarchivs (VLA) sowie des Stadtarchivs Innsbruck (StAI) war eine Vielzahl an Akten zugänglich, die innerhalb der mit der Jugendfürsorge befassten Verwaltungsabteilungen entstanden sind. Es handelt sich dabei etwa um die Mündelakten der Jugendfürsorgeabteilungen, um das Verwaltungsschriftgut der Landesjugendämter von Tirol und Vorarlberg, die Personalakten der HeimleiterInnen und ErzieherInnen der vier Landeserziehungsheime oder auch um die Zöglingsakten des Landeserziehungsheims Jagdberg.1

    Die dritte Quellenart ist die heterogenste und umfangreichste. Sie betrifft alle überlieferten Quellen, publizierten Texturen, Dokumente und Bilder, welche Auskunft über die zeitgenössische Öffentlichkeit der Heimerziehung geben und damit Einblick in den je historischen Wissens- und Diskussionsstand ermöglichen sowie die historisch spezifische Mitwisserschaft politisch-administrativer wie zivilgesellschaftlicher AkteurInnen kenntlich machen. Dazu gehören etwa die Protokolle der Sitzungen des Tiroler und des Vorarlberger Landtages sowie die im Auftrag des Tiroler Landtages erstellten Kontrollamts-Berichte über die Landeserziehungsheime oder auch die zeitgenössische Berichterstattung in Zeitungen und Zeitschriften. Schließlich zählt zu ihnen noch eine Vielzahl weiterer schriftlicher Quellen, wie etwa Ortschroniken, zeitgenössische Druckschriften und Fachliteratur, historische Fotografien, verschiedene halbprivate Dokumente und Nachlässe, wie jener des Arbeitskreises Heimerziehung, welcher den ersten zivilgesellschaftlichen Protest gegen das lokale Fürsorgeerziehungssystem ab den späten 1970er Jahren dokumentiert.

    Im Folgenden werden die verwendeten schriftlichen Quellensorten vorgestellt und im Hinblick auf ihren jeweiligen Erkenntniswert eingeordnet. Das Forschungsteam widmet dieser Darstellung insofern breiten Raum, als das Wissen um das überlieferte Schriftgut hinsichtlich dessen Gliederung, Auffindungsort und Erschließungszustand ebenso wie hinsichtlich dessen Aussagequalität und -reichweite sowie quellenkritischer Interpretation bedeutsam ist, nicht nur für die Einordnung der vorliegenden Studie, sondern auch für weitere, darauf aufbauende Forschungsunternehmungen, nicht zuletzt aber für die Betroffenen selbst, die immer noch mit der Suche nach den sie betreffenden Fürsorgeerziehungsakten und den damit verbundenen Schwierigkeiten befasst sind. Im Anschluss an die Vorstellung und Einordnung der schriftlichen Quellensorten, von den personen- und sachbezogenen Akten des Fürsorgeerziehungssystems über die schon zeitgenössisch öffentlich zugänglichen Dokumente und Bildquellen bis hin zur Überlieferungssituation der einzelnen Landeserziehungsheime, wird das ZeitzeugInnen-Interview als (historische) Quelle gewürdigt, verortet und beschrieben. Auch auf die Beschreibung dieser Quellenart wird insofern breiter Raum verwendet, als das Forschungsteam den Erzählungen der ehemaligen Heimkinder besondere Bedeutung beimisst, nicht weil ihre Erinnerungen unfehlbarer als andere wären, sondern weil sie als einzige in der Lage sind, Auskunft über die erlebte Wirklichkeit der Heimerziehung zu geben und damit Zeitzeugenschaft abzulegen vermögen über die Wirkung der Fürsorgeerziehungsregime auf die konkreten Leben als Kinder und heute Erwachsene. Darin sind ihre Erinnerungen fehlerlos, wie schon Reinhard Sieder und Andrea Smioski in Der Kindheit beraubt. Gewalt in Erziehungsheimen der Stadt Wien vertreten,2 und sie sind als Erkenntnismittel unabdingbar – oder sollten es zumindest sein für alles, was heute und in Zukunft über das Fürsorgeerziehungssystem der Zeit und seine Wirkung aussagbar ist. Der fünfte Abschnitt des vorliegenden Kapitels zu Methode und Methodologie der Studie befasst sich deshalb im Detail mit dieser Quellenart, den Wegen der Kontaktaufnahme mit den ZeitzeugInnen, der erlangten Stichprobe, der Gestalt des narrativ-biografischen Interviews, der Auswertungsmethode und schließlich mit der Darstellung der ZeitzeugInneninterviews in Form von elf verdichteten Erinnerungsgeschichten, die an jeweils geeigneter Stelle in die vorliegende Publikation eingefügt sind.

    Die personen- und sachbezogenen Akten des Fürsorgeerziehungssystems

    „Akten sind im Zuge laufenden schriftlichen Geschäftsganges entstandene Aufzeichnungen und Verhandlungen, die auf Rechtsgeschäfte hinführen oder sie ausführen und die jeweils aus mehreren, in sich unselbständigen Schriftstücken bestehen."3 Folglich dienen administrative Akten im Zuge ihrer Herstellung und Verwendung als „Gedächtnis der Verwaltung und haben somit die Funktion der „Sicherung kontinuierlicher Handlungsmuster. Sie sind in arbeitsteiligen Verwaltungsabläufen wichtige (wenn nicht die wichtigsten) „Medien der Kommunikation.4 In der täglichen Arbeit werden sie von allen am Prozess beteiligten Personen und Institutionen zumeist als „nicht hinterfragte Informationsquelle5 benutzt. Insofern treten die Akten mit dem Anspruch auf, „in ihrer Darstellung eine objektive Wirklichkeit zu beschreiben. Tatsächlich aber geben sie meist mehr Auskunft über die „Verfassung ihrer Verfasser6 – das heißt über die in den jeweiligen Institutionen etablierten Deutungsmuster und -routinen sowie über zweckorientierte Objektivierungen von prinzipiell noch interpretations- und ergebnisoffenen Sachverhalten – als über die objektiven Wirklichkeiten selbst.

    Trifft Letzteres wohl allgemein auf alle Aktensorten zu, so doch im besonderen Maße auf personenbezogene Akten. So geben Mündelakte und Zöglingsakte den Blick auf die Kinder und Jugendlichen und deren Lebensrealität aus mehreren Gründen nur bedingt frei. Durch das hierarchische Verhältnis der VerfasserInnen gegenüber den erfassten Personen ist das in den Akten enthaltene Wissen als obrigkeitliches Wissen zu betrachten. Zudem wurden nur jene Begebenheiten festgehalten, in denen die Betreffenden für die Behörden auffällig geworden waren. Durch diese Reduktion gerinnt ihre gesamte Lebenswelt „in der Sicht, die die Akten nahelegen, zu einer Serie von Notlagen, Fehlverhalten, Bedürftigkeit und Widersetzlichkeit".7 Gegen den Strich gelesen können daraus jedoch zeittypische Normalitätsvorstellungen rekonstruiert werden. Es kann anhand der Akten analysiert werden, unter welchen Blick die ‚befürsorgten‘ Kinder und Jugendlichen geraten waren, wie sie von den mit ihnen befassten Institutionen wahrgenommen und beschrieben wurden und welche regulierenden und disziplinierenden Eingriffe in ihre Biografie vorgenommen wurden.

    Mithilfe der Akten lässt sich somit nicht nur der „erzählte Zögling"8 rekonstruieren, sondern auch die Macht und Gewalt nachvollziehen, die dem Aktenstück selbst innewohnt, bemisst man die Wirkung, die es entfaltet. Denn als Grundlage und Legitimierungsinstrument administrativer und gerichtlicher Entscheidungen nehmen Akten im Kontext der Sozialbürokratie und Heimverwaltung entscheidenden Einfluss auf Lebensverläufe und Lebenschancen der ‚befürsorgten‘ Kinder und Jugendlichen. Somit entfalten die Mündel- und Zöglingsakten eine Wirkung, die über ihre Gedächtnisfunktion in administrativen Zusammenhängen deutlich hinausgeht.

    Die Wirkmacht der Akte als Instrument der Institution ist auch für die Personalakten der im Heim tätigen Personen bezeichnend. Informationen häufen sich dort, wo es Brüche gängiger Vorstellungen von Verhaltensnormen und Werten durch das pädagogische oder allgemeine Heimpersonal gab. Diese Wert- und Normvorstellungen sind, ebenso wie bereits für die Mündel- und Zöglingsakten festgehalten, durch den Blick der Fürsorgeinstitutionen bestimmt. Insofern ist auch der Personalakt ein Instrument der Maßregelung. Die Akten erlauben daher Beobachtungen zu folgenden Fragestellungen: Welche Handlungen des Personals entsprechen aus der Sicht der Institution der Norm? Welche bürokratischen Wege werden bei besonderen Vorkommnissen von wem beschritten? Welche Auswirkungen haben die bürokratischen Schritte auf die entsprechenden Personen?

    Über die personenbezogenen Akten, seien es Mündel-, Zöglings- oder Personalakten, lassen sich somit nicht einfach historische Wirklichkeiten rekonstruieren. Aber es können Wirklichkeitskonstruktionen und Normalitätsvorstellungen aufgespürt und analysiert werden. Diese versprechen Auskunft darüber, was in einer bestimmten Zeit und an einem konkreten Ort sagbar oder nicht sagbar war, was somit die Analyse von Diskursmustern (wie etwa über die gängigen Erziehungspraktiken) ermöglicht. Die Aktenanalyse muss sowohl die Herstellungsbedingungen als auch die Struktur der Akten berücksichtigen. Hier geht es unter anderem darum, Informationsflüsse und Informationskanäle zu identifizieren und herauszufinden, welches die bedeutsamen Akteure und Agenturen sind. Es lassen sich dabei Fragen etwa nach legitimen SprecherInnenpositionen, nach in den Akten auftauchenden Diskursen und nach den eingesetzten diskursiven Strategien zur Durchsetzung von Deutungen stellen. So kann nachvollzogen werden, welche Deutungsmuster etabliert werden und wie Deutungshoheit gewonnen wird. Die personenbezogenen Akten bedürfen insofern eines besonders sorgsamen Umgangs durch die Wissenschaft, als sie die Einhaltung des Datenschutzes im Umgang mit personenbezogenen Daten verlangen. Solche Angaben, die Hinweise auf eine bestimmte Person geben, wurden daher umsichtig anonymisiert und – wo nötig – von Kontextinformationen, die Rückschlüsse ermöglichten, bereinigt, um die Persönlichkeitsrechte der in den Akten erwähnten Personen zu wahren. Es folgen nun – der Reihe nach – Darstellung und Einordnung der fünf für die hier unternommene Forschung wichtigsten personen- und sachbezogenen Aktensorten.

    Die Mündelakte

    Hierbei handelt es sich um Akten, die von den zuständigen Jugendämtern (bzw. Abteilungen für Jugendwohlfahrt) zumeist in ihrer Funktion als Vormund – seltener auch in ihrer Funktion als Sachwalter oder Kurator – über Kinder und Jugendliche angelegt und geführt wurden. Von den verschiedenen im Kontext der Fürsorgeerziehung erzeugten personenbezogenen Akten umfassen die Mündel- bzw. Jugendwohlfahrtsakten die größte Vielfalt an Schriftstücken unterschiedlicher Provenienz und Funktion. Der Ensemblecharakter dieses Aktentypus erlaubt somit die Analyse des Zusammenwirkens der unterschiedlichen beteiligten AkteurInnen und Agenturen auf ausgezeichnete Weise. Zudem umfassen die Mündelakten meist einen sehr langen Zeitraum im Leben der ‚verzeichneten‘ Kinder und Jugendlichen, da viele der Akten kurz nach der Geburt eröffnet und bis zur Volljährigkeit der Person geführt wurden. Dieser Längsschnittcharakter ermöglicht eine Rekonstruktion der Arbeitsweise der Jugendwohlfahrt und deren Interventionen in die Biografien der ‚befürsorgten‘ Minderjährigen über einen längeren Zeitraum hinweg.

    Durch ihre handlungsunmittelbare Stellung ist die Mündelakte der Schlüssel zur Aufarbeitung der Praxisgeschichte der Jugendfürsorge sowie deren Rolle im Fürsorgeerziehungsregime, hier insbesondere hinsichtlich der Zuarbeit, die sie lange zum System Erziehungsheim geleistet hat. Denn das Jugendamt stellt jene Behörde dar, die mit allen anderen in die Jugendwohlfahrt involvierten Institutionen (Heime, Schulen, Psychiatrische Klinik, Gerichte) und Personen (leibliche Eltern, Pflegeeltern, Fürsorgerinnen, ErzieherInnen, HeimleiterInnen, selten die Befürsorgten selbst) kommuniziert und die wesentlichsten diesbezüglichen Interventionen veranlasst und/oder koordiniert. Daher kann dieses Amt als eine Art Knotenpunkt im Fürsorgeerziehungsregime bezeichnet werden.

    Die Mündelakten enthalten unter anderem folgende Schriftstücke: Formulare (z.B. Amtsvormundschaft, Aktenübersicht, Mitteilung über einen Geburtsfall, Anerkennung der Vaterschaft, Unterhaltsvereinbarungen, Erhebungsbögen), gerichtliche Beschlüsse (z.B. Unterhalts- und Vaterschaftsfragen, gerichtliche Erziehungshilfe, Fürsorgeerziehung), Schriftwechsel mit Behörden, Niederschriften von Gesprächen (mit Eltern/Pflegeeltern, Angehörigen, Nachbarn, LehrerInnen und selten den betroffenen Kindern und Jugendlichen selbst), Schriftverkehr mit Fürsorgerinnen und Heimen (z.B. Berichte über Familienverhältnisse, Pflegefamilien, Erziehungsberichte, Benachrichtigungen über Fluchten aus dem Heim), psychologische und psychiatrische Gutachten sowie Schriftverkehr mit Schulen (Berichte über Kinder, Abschriften von Zeugnissen). Die einzelnen Schriftstücke wurden üblicherweise in der Reihenfolge des Einlangens abgelegt, was nicht immer der Reihenfolgen der Entstehung entspricht – etwa wenn von einer anderen Behörde Abschriften älterer Schriftstücke übersandt wurden. Die so entstandenen Informationsgeflechte, die bestehende Interdependenzen und Wege des Informationstransfers widerspiegeln, machen die Mündelakten zu einer der wichtigsten Aktensorten in Bezug auf die Rekonstruktion und Analyse der Arbeitsweise des Fürsorgeerziehungsregimes. Zudem liefern sie wichtige Rahmendaten für eine sozialgeschichtliche Einordnung der Fürsorgeerziehung, so etwa Informationen über die Herkunft und soziale Lage, Alter, Familienkonstellationen und Ausbildung oder Erwerbstätigkeit der Kinder und Jugendlichen. Nicht zuletzt sind die Informationen aus den Mündelakten auch in die Strukturgeschichte der Landeserziehungsheime eingeflossen, indem sie vielfältige Hinweise auf die Heimwirklichkeiten und die Organisation des Alltags im Heim gegeben haben. Auch einige wenige in die Strukturgeschichte des Fürsorgeerziehungssystems und ihrer Einrichtungen eingearbeitete Fallbeispiele nehmen Mündelakten zur Grundlage, mit dem Ziel, typische Aspekte der Jugendfürsorge zu einer bestimmten Zeit zu veranschaulichen.

    Die Bestände der Mündelakten im TLA und StAI sind gleichermaßen umfangreich wie uneinheitlich. Im TLA umfasst die Zahl der archivierten Mündelakten insgesamt 26.290 Akten aus dem Zeitraum von 1925 bis 1989. Die Überlieferungsverläufe bei den einzelnen Bezirksjugendämtern sind jedoch uneinheitlich, sodass die Überlieferung teilweise bereits am Beginn des Untersuchungszeitraums der II. Republik endet oder erst in deren Verlauf einsetzt und zudem für manche Bezirksjugendämter überhaupt die Akten fehlen (vgl. Abb. 1). Die Mündelakten sind darüber hinaus nach unterschiedlichen Ordnungsprinzipien abgelegt worden, nämlich entweder nach Jahrgängen oder nach Nachnamen. Eine erste archivarische Erfassung besteht in Bestandslisten, die durch das TLA angelegt wurden. Diese verraten jedoch nichts über den Inhalt der Akten, sodass erst die Durchsicht jeder einzelnen Akte enthüllt, aus welchem Grund die Jugendämter tätig geworden sind. Der Bestand der Jugendwohlfahrtsakten des StAI besteht ebenfalls aus mehreren Zehntausenden Akten. Dieser Bestand ist archivarisch kaum erfasst, sodass die genaue Zahl der Akten für den fast hundertjährigen Überlieferungszeitraum nur geschätzt werden kann. Erst für die Zeit ab 1971 bis 1990 wird die Recherche durch die Zöglingseingangsbücher von St. Martin und Kleinvolderberg erleichtert. Anhand dieser Zöglingslisten – zwei der wenigen erhaltenen Dokumente aus den beiden Heimen selbst – können die Mündel- und Jugendwohlfahrtsakten im Vorfeld auf die Fälle von Fürsorgeerziehung eingegrenzt werden.

    Abb. 1: Übersicht über die Mündel-/Jugendwohlfahrtsakten in Tirol mit Innsbruck Stadt (Quelle: Eigene Zusammenstellung anhand der Bestandslisten des TLA sowie Auskunft des StAI).

    Dieser uneinheitlichen Ordnung der Bestände folgend, wurden die Akten sowohl jahrgangsweise (d.h. nach ausgewählten Jahrgängen) als auch anhand der Zöglingseingangsbücher von St. Martin und Kleinvolderberg gesichtet. Dies sollte auf der einen Seite einen Querschnitt durch die Arbeit der Bezirksjugendämter in den Jahrzehnten zwischen 1945 und 1990 ermöglichen. Andererseits sollten damit einzelne Fälle herausgefiltert werden, in denen Fürsorgeerziehung (FE) angeordnet wurde. Stellvertretend für alle Vorarlberger Jugendämter wurde im VLA der Bestand der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch gesichtet. Die darin enthaltenen Vormundschaftsakten sind bereits nach inhaltlichen Kriterien sortiert, sodass der Zugriff auf die unter FE stehenden Amtsmündel erheblich erleichtert wurde. Der entsprechende Teilbestand umfasst insgesamt 595 die FE betreffende Jugendwohlfahrtsakten. Es wurden auf diese Weise insgesamt 219 Akten von Kindern und Jugendlichen aus den Tiroler und Vorarlberger Mündelakten gewonnen, die die Grundlage für eine tiefer gehende Betrachtung der Fürsorgeerziehung in den Tiroler und Vorarlberger Landeserziehungsheimen bieten.

    Die Zöglingsakte

    Die Zöglingsakten wurden durch die jeweiligen Heime über die untergebrachten Kinder vom Zeitpunkt der Heimeinweisung bis zur -entlassung angelegt. Sie erstrecken sich somit über den gesamten Heimaufenthalt und dokumentieren den Verlauf der Erziehungsmaßnahme. Diese Quellensorte enthält jedoch nicht nur heimintern erstellte Texturen, wie beispielsweise Erziehungs- und Fürsorgeberichte, Aufnahmeprotokolle, Urlaubsbestätigungen oder Entlassungsschreiben, unterschiedliche veranlasste Gutachten (z.B. psychologische Gutachten, Gutachten des Arbeitsamtes) oder die Korrespondenz der Heimleitung mit den Eltern, sondern ebenso extern verfasste Schriftstücke, welche zum Teil dem bereits vorangegangenen Fürsorgeverfahren entstammen. Das bis dahin über eine Person zusammengestellte Behördenwissen wurde damit zum Ausgangspunkt einer Fortschreibung in der Zöglingsakte.

    Die Zöglingsakte ist von allen im Rahmen des Fürsorgewesens entstandenen Aktensorten die intimste, da sie zwar aus Institutionensicht, aber eben doch über den individuellen Zögling berichtet. Sie zeichnet sich im Hinblick auf die Untersuchung der Heimgeschichte besonders durch die Orts- und Zeitnähe der Niederschrift aus. Untersuchen lässt sich, wie sich der Heimzögling aus der Perspektive der Anstalt ‚betragen‘ hat, wie er sich ‚führen ließ‘, wie sein ‚Charakter‘ und seine ‚Erziehungstauglichkeit‘ begutachtet wurde und schließlich, welche ‚Lebensprognose‘ über den Zögling gestellt wurde.

    Von keinem der drei Tiroler Landeserziehungsheime sind die Zöglingsakten nach derzeitigem Kenntnisstand überliefert. Laut der Dokumentation des TLA wurden diese nach dem Schließen der Heime skartiert. Somit fehlt eine der wichtigsten Aktensorten für die Tiroler Landeserziehungsheime zur Gänze. Ebenfalls nicht erhalten oder aber nicht zugänglich sind nach aktuellem Wissensstand – mit einer großen Ausnahme, der Fügener Bubenburg (ca. 3.000 Akten) – die Zöglingsakten der zahlreichen konfessionellen Erziehungsheime Tirols. Umso mehr ist das Konvolut der vom Landeserziehungsheim Jagdberg angelegten, insgesamt über 2.300 Zöglingsakten – gerade auch im Kontext des weiteren Gesamtbestandes (Sachakten, Fotografien, Handschriften und Personalakten) – als herausragender Quellenbestand zu betrachten. Der immense Bestand der Jagdberger Zöglingsakten ist bislang durch die Forschung nicht eingehend untersucht worden. Im laufenden Projekt konnten 63 Zöglingsakten (Sample: ein Buchstabe) gesichtet werden. Zusätzlich wurden 40 Akten stichprobenartig zu ausgewählten Zeitabschnitten aus dem Gesamtbestand der Zöglingsakten und 10 Akten aus dem Bestand der Nachbetreuungsakten ausgewählt. Die gesichteten Akten wurden vor allem hinsichtlich der Verwaltungsvorgänge, denen die Zöglinge durch die Institutionen und deren AkteurInnen unterworfen waren, einer Analyse unterzogen.

    Die Personalakte

    Auch die Personalakte ist durch die ihr innewohnende Chronologie gekennzeichnet. Sie hält vom Zeitpunkt des Dienstantritts alles fest, was das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer – sei es als Vertragsbediensteter oder als Beamter – betrifft. So gibt das typischerweise in der Personalakte gesammelte Material Einblick in die Ausbildungs- und Berufsbiografien der DienstnehmerInnen. Personalakten beinhalten Angaben über Verehelichung, Übergang zu Elternschaft oder Scheidung, dort sind Geburtsurkunde, Staatsbürgerschaftsnachweis, Lebenslauf, Leumundszeugnis, Bewerbungsschreiben, Ausbildungsnachweise und Dienstzeugnisse, Gesundheitsstatus (Krank- und Gesundmeldungen), die Übernahme in den Landesdienst mit den damit korrelierenden neu erworbenen dienstrechtlichen Ansprüchen, Gehaltsangelegenheiten (z.B. Anfragen um Gehaltserhöhungen, Anrechnung von Vordienstzeiten) und Abfertigungsansprüche versammelt.

    Zu den üblichen Arbeitnehmerunterlagen kommen für das Erziehungspersonal noch einige spezifische hinzu. So war im Laufe des ersten Dienstjahres von der Heimleitung eine „erzieherische Kompetenzanalyse" über jede neu eingestellte pädagogische Kraft zu erstellen. Diese Dienstbeschreibung bildete die Basis für die Übernahme in den Landesdienst. Darüber hinaus enthalten die Personalakten fallweise Vermerke über besondere Vorkommnisse und Auffälligkeiten oder Schriftstücke mit Angaben über pädagogisches Fehlverhalten, Pflichtverletzungen bzw. schwere Disziplinarvergehen. Die Personalakten geben Einblick in das Zusammenwirken der verschiedenen AkteurInnen innerhalb des Heimes, aber auch der Institutionen der Fürsorgeerziehung untereinander (vor allem zwischen dem jeweiligen Heim und dem Landesjugendamt, aber auch dem Arbeitsamt, den Ärzten und weiteren mehr). Neben der Sicht der Institution finden, wenn auch sehr vereinzelt, Ego-Dokumente in Form von Briefen oder Stellungnahmen des Personals (etwa an das Landesjugendamt) Eingang in den Personalakt. Insofern kommt den Personalakten für die Heimgeschichte eine spezifische Relevanz zu. Sie sind der einzige Zugang zu den das Erziehungsgeschehen maßgeblich bestimmenden AkteurInnen und wichtiges Erkenntniswerkzeug für die Aufdeckung von Normvorstellungen des Personals ebenso wie der Institution. Denn gerade dann, wenn es durch die Bediensteten zu Abweichungen von den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln des Heims kam, häufen sich die Informationen. In der Regel spiegeln die entsprechenden Aktenvermerke – durch die Linse des ‚Fürsorgeregimes‘ – gängige Verhaltensnormen, Werte und Geschlechtervorstellungen sowie deren Nichtbeachtung wider. Die Personalakte kann daher auch als Instrument der Normierung und Maßregelung der DienstnehmerInnen durch die betreffende Institution – meist durch HeimleiterIn und/oder Landesjugendamtsleiter vertreten – gelten. Die im TLA vorliegenden Bestände der Personalakten des allgemeinen und erzieherischen Personals der Tiroler Landeserziehungsheime wurden in der ersten Projektphase vollständig gesichtet. In der zweiten Projektphase folgte die Sichtung der Personalakten des pädagogischen Personals des Landeserziehungsheims Jagdberg im VLA.

    Insgesamt können drei Bestände unterschieden werden: Erstens wurde der Bestand der Akten des allgemeinen Heimpersonals der Tiroler Erziehungsheime untersucht. Im TLA sind 284 Personalakten von 279 Personen für die Jahre 1939 bis 1962 aufbewahrt. Der zweite Bestand der gesichteten Personalakten betrifft die Akten des erzieherischen Personals der Tiroler Erziehungsheime ab 1945, der im TLA im Bestand aller Landesbediensteten enthalten ist. Aufgenommen wurden 159 Personen, die als erzieherisches Personal in den Tiroler Heimen im genannten Zeitraum tätig waren. Der dritte Bestand der Personalakten bezieht sich auf das allgemeine und erzieherische Personal des Landeserziehungsheimes Jagdberg im VLA. Dieser Bestand umfasst 346 Personalakten von den im Zeitraum 1939 bis 1998 im Heim eingestellten Personen. Daneben sind in diesem Bestand Unterlagen zu Praktikanten im Zeitraum 1989 bis 2000, zum Dienstpostenplan (1970–1999), zu Stellenbewerbungen (1980–2000) sowie Unterlagen zu Arbeitsamt und Arbeiterkammer von 1946 bis 1953 und weitere Dokumente, die das Heimpersonal betreffen, gebündelt. Die Akten wurden heimintern angelegt. Von den 346 Personalakten wurden 160 Akten gesichtet. Der Personalaktenbestand wurde zunächst auf die Personen mit erzieherischen Funktionen hin durchsucht, die zur Analyse herangezogen wurden. Es sind dies folgende: Heimleiter, Erzieherinnen und Erzieher (in späterer Zeit Sozialpädagoginnen und -pädagogen), Praktikantinnen und Praktikanten, Lehrer und Lehrerinnen. Daneben wurden die Akten einzelner Personen vom allgemeinen Hausund Verwaltungspersonal sowie jene der Seelsorger genauer betrachtet.

    Die Ergebnisse der Analyse der Personalakten des Landeserziehungsheims Jagdberg floss vor allem in den Abschnitt zur ErzieherInnenausbildung im ersten Teil der vorliegenden Studie ein.9 Die besondere Aufbewahrungssituation der Akten zum pädagogischen Personal im TLA im Aktenbestand aller Landesbediensteten machte die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Aktenbestandes besonders schwierig, zumal die Akten ausschließlich über den Namen der Bediensteten auffindbar und damit auch belegbar sind. Gerade die Personalakten der ErzieherInnen und HeimleiterInnen, wie die personenbezogenen Akten allgemein, unterliegen aber einem strengen Datenschutz und Anonymisierungsgebot. Die Personalakten sind jedoch von ihrem Wesen her auf eine spezielle Person fokussiert, was sie auch als personenbezogene Akte auszeichnet. Besondere Vorkommnisse, die in den Akten vermerkt und dokumentiert sind, stehen mit Handlungen einer konkreten Person an einem konkreten Ort und in einer konkreten Zeit in Zusammenhang. Die Datenschutzbestimmungen machten es an vielen Stellen unmöglich, Informationen ohne Hintergrundinformationen zu konkreten Personen zu nennen oder Ereignisse zu beschreiben. Insofern fanden die Ergebnisse der Analyse der Personalakten vor allem hinsichtlich ihrer darüber gewonnenen Strukturaussagen Eingang in die Studie. Exzeptionelle Ereignisse aber, die paradigmatisch für die Geschichte der Tiroler und Vorarlberger Heimlandschaft stehen können, wurden vereinzelt sorgfältig ausgewählt und als Beispielfälle beschrieben. Personen wurden hier in ihrer Funktion (als Erzieher, Erziehungsleiter, Fürsorgerin usw.) genannt, während die leitenden Funktionsträger namentlich genannt wurden.

    Die Kinderkrankenakte

    Mit 3.655 Kinderkrankenakten aus dem Zeitraum 1949 bis 1993 ist der Bestand der Kinderstation des Allgemeinen Öffentlichen Landeskrankenhauses Innsbruck nahezu vollständig im TLA archiviert. Die penible Aktenführung durch die Abteilung und der ausgezeichnete Erschließungszustand der Akten ermöglichen eine detaillierte Rekonstruktion nicht nur des Zusammenhangs von Psychiatrie, Heilpädagogik und Fürsorgeerziehungswesen, sondern auch der Systemwelt Kinderpsychiatrie in ihrer spezifischen historischen und lokalen Ausprägung während der entscheidenden Jahre als Kinderbeobachtungsstation (1954–1987) unter der Leitung der Psychiaterin und Heilpädagogin Maria Nowak-Vogl. Wie für psychiatrische Krankenakten üblich, bestehen die Kinderakten aus einem Ensemble spezifischer Aktenstücke (z.B. Anamnese, ‚Krankheits‘- und ‚Behandlungs‘-Verlauf, diverse Testergebnisse, Beobachtungsprotokolle, Schulleistungsnachweise, Befunde anderer Abteilungen und Gutachten). Diese werden dann, wenn die eingewiesenen Kinder unter Aufsicht der Jugendämter stehen, was bei sehr vielen, längst aber nicht bei allen Kindern der Fall war, regelmäßig durch eine Vielzahl administrativer Texturen der Kinder- und Jugendfürsorge (z.B. Einweisungs- und Zuweisungsprozedere, Kostenübernahme, Kommunikation mit Jugendbezirksgerichten, Jugendämtern und Heimleitungen) ergänzt.

    Als prozessgeneriertes Dokumentations- und Arbeitsmittel der Klinik ermöglichen die Kinderkrankenakten deutlicher als andere Dokumente vertieften Einblick in den Alltag der Kinderstation, in Aufnahme- und Entlassungsrituale, Anamnesegewohnheiten, Diagnosebildung, Behandlungspraxis und Einsatz spezieller Erziehungsmittel, aber auch in die vorherrschende Sprachregelung hinsichtlich der Interaktion zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn respektive ÜberbringerIn (Elternteil oder ErzieherIn). Die Krankenakte ist daher ein ausgezeichneter Zugang zur Sprache der historischen – in diesem Fall eng mit der Fürsorgeerziehung verbundenen – heilpädagogisch informierten Kinderpsychiatrie. Als solche stand sie ihm Rahmen des Forschungsprojektes zur Geschichte des Fürsorgeerziehungssystems jedoch nicht im Zentrum der Untersuchung und wurde deshalb auch nur fallweise herangezogen, etwa im Kapitel zur Pathologisierung der Nachkriegsjugend oder, was die Vorgeschichte der Station anlangt, bezogen auf die jugendfürsorgerische Gutachtenstätigkeit des Kriminalpsychiaters Friedrich Stumpfl im Abschnitt zur Jugendfürsorge im Nationalsozialismus. Die nur unwesentliche Berücksichtigung dieses wichtigen Aktenbestandes ist vor allem darin begründet, dass an der Universität Innsbruck zur Zeit ein eigenes Forschungsprojekt zur Kinderbeobachtungsstation der Maria Nowak-Vogl durchgeführt wird, dessen Ergebnisse 2017 der Öffentlichkeit vorgestellt werden.10 Neben diesem besteht ein weiteres kleineres Projekt, welches von der Robert Bosch Stiftung bearbeitet wird, einen „lege-artis-Vergleich" der Behandlungs- und Begutachtungsmethoden der Kinderbeobachtungsstation zur Aufgabe hat und ebenfalls vorrangig vom Land Tirol gefördert wird.11

    Die Sachakten

    Sowohl im TLA als auch im VLA wurde das Verwaltungsschriftgut verschiedener Abteilungen der Landesverwaltung zur Analyse herangezogen. Dabei handelt es sich um vier unterscheidbare größere Bestände, die mit unterschiedlicher Intensität Eingang in die vorliegende Studie gefunden haben:

    Erstens wurden die jeweiligen Bestände zum Vorarlberger und Tiroler Landesjugendamt gesichtet. Das Verwaltungsschriftgut des Tiroler Landesjugendamtes (Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Vb) hat sich als überaus bedeutsamer und zugleich disparater Bestand erwiesen. Scheinbar ohne erkennbare Prinzipien der Gewichtung wurde über die Ablieferung oder Skartierung der einzelnen Teilbestände entschieden. Deshalb haben sich viele Unterlagen von Interesse, wie etwa die Tätigkeitsberichte der Tiroler Landeserziehungsheime, nur bruchstückhaft erhalten. Ebenso fragmentarisch sind die allgemeinen Unterlagen, die etwa Durchführungsanweisungen und Verordnungen zur Fürsorgeerziehung enthalten. Gerade diese wären für eine Bestimmung der Heimwirklichkeiten von besonderem Interesse, zumal sie den maßgeblichen Rahmen für die konkrete Ausgestaltung der Heimwirklichkeiten bildeten. Daneben enthält der Bestand des Tiroler Landesjugendamtes insbesondere vielfältige Informationen über die baulichen Investitionen in den einzelnen Landeserziehungsheimen. Diese ermöglichen Rückschlüsse auf die zeitgenössischen Anforderungen an die Heimerziehung und lassen Versuche zur Umsetzung von Reformen ab dem Beginn der 1970er Jahre erkennen. Hier sind insbesondere die in dieser Zeit vom Land Tirol vergebenen Forschungsaufträge hervorzuheben, die der Landesbehörde erstmals – wenn auch nur eingeschränkt wirkungsvolle – wissenschaftlich fundierte Leitlinien für die Heimerziehung an die Hand gaben. Schließlich gibt dieser Bestand auch Aufschluss über die Arbeit der einzelnen Tiroler Bezirksjugendämter, welche ebenfalls jährliche Tätigkeitsberichte abliefern mussten. Diese sind relativ vollständig über den gesamten Untersuchungszeitraum erhalten.

    Das Verwaltungsschriftgut des Vorarlberger Landesjugendamtes (Amt der Vorarlberger Landesregierung, Abteilung IVa) ist bisher noch nicht archivalisch erschlossen. Der Bestand umfasst 130 Schachteln und befindet sich im VLA. Dankenswerterweise wurden dem Forschungsprojekt über sechzig Akten aus insgesamt vierzig Schachteln, welche nach einer Sichtung durch den leitenden Archivar Ulrich Nachbaur als besonders relevant erachtet wurden, zur Verfügung gestellt. Sie enthalten beispielsweise die Berichte zu den jährlich durchgeführten Inspektionsreisen eines Vorarlberger Landesjugendamtsmitarbeiters in die Tiroler Landeserziehungsheime, Informationen zu Tagungen und Enqueten in Tirol und Vorarlberg, Korrespondenzen zwischen dem Tiroler und Vorarlberger Landesjugendamt oder Briefwechsel zwischen dem jeweiligen Landesjugendamt und den Bezirksjugendämtern. Die Ergebnisse der Analyse dieses Aktenbestandes gingen vornehmlich in die Ausarbeitung der Geschichte der Jugendfürsorge in der Zweiten Republik im ersten Teil der vorliegenden Studie ein. Eine systematische archivarische Erfassung und wissenschaftliche Auswertung dieses Bestandes wird weiterhin als Desiderat erachtet und wäre notwendig, um die spezifischen Verbindungslinien zwischen dem Landesjugendamt, den Abteilungen für Jugendfürsorge bei den Bezirkshauptmannschaften, den Vorarlberger und Tiroler Landeserziehungsheimen sowie anderen Einrichtungen der stationären Jugendhilfe detaillierter nachzeichnen zu können. In Kombination mit dem Jagdbergbestand – dessen Einzigartigkeit bereits im Abschnitt über die Zöglingsakten erwähnt wurde – verspricht dieser ebenfalls sehr umfangreiche und bisher noch weitgehend unerschlossene Bestand weitreichende und fundierte Erkenntnisse zur Jugendfürsorge in Tirol und Vorarlberg und verlangt geradezu nach einer Weiterführung der Forschungen im VLA.

    Zweitens gibt es ergänzende Informationen zur Ausgestaltung der Tiroler Heime zwischen 1945 und 1960 im Bestand des Präsidiums der Tiroler Landesregierung betreffend zum Beispiel Personalangelegenheiten, Pachtverträge oder besondere Vorfälle im Zusammenhang mit den Heimen. Durch den Verlust einer Hälfte der Findkartei konnten diese Unterlagen nur für die Heime Kramsach und Kleinvolderberg bearbeitet werden, auf die entsprechenden Unterlagen zu St. Martin musste verzichtet werden. Dieser Bestand ist vor allem für die Nachkriegszeit bis Mitte der 1950er Jahre von besonderem Informationswert.

    Drittens liegen einige wenige Akten aus dem Bestand der Sicherheitsdirektion beim Amt der Tiroler Landesregierung vor, die verschiedene Personalangelegenheiten am Ende der 1940er Jahre betreffen.

    Für die Untersuchung der Geschichte der Heime vor 1945 wurde viertens das im TLA erhaltene Schriftgut der Gauselbstverwaltung, die Tiroler und Vorarlberger Heime sowie Allgemeines betreffend, ausgewertet. Auch hier besteht die Problematik, dass der Bestand nur lückenhafte Einblicke in den Bereich der Jugendfürsorge dieser Zeit geben kann. Dies liegt hauptsächlich daran, dass es vom Gaujugendamt selbst keine erhaltene Überlieferung gibt, vermutlich aufgrund einer Zerstörung des Amtsgebäudes durch Bombardierungen im Herbst 1944. Überliefert sind daher nur solche Schriftstücke, welche auch andere Abteilungen der Gauverwaltung involvierten: Aus den Teilbeständen Gauhauptmann und Gaukämmerei wurden Informationen zu den Gauerziehungsheimen Kleinvolderberg, Kramsach, St. Martin, Jagdberg, Viktorsberg und Martinsbühel/Hall sowie zu allgemeinen gesetzlichen Regelungen betreffend die Durchführung der Fürsorgeerziehung im Gau Tirol-Vorarlberg gewonnen.

    Das Schriftgut zeitgenössischer Öffentlichkeiten

    Unter dem Begriff „Öffentlichkeiten" werden mehrere Akten- und Quellenbestände subsumiert, die ergänzend zu den Großbeständen im TLA, VLA und Stadtarchiv Innsbruck zur Analyse hinzugezogen wurden. Das umfangreiche Schriftgut gliedert sich in sechs heterogene Dokumentgruppen:

    •   Stenographische Berichte der Landtagssitzungen: Die sogenannten Stenographischen Berichte der Sitzungen des Tiroler Landtages stehen – mit Ausnahme der Zeit zwischen 1933 und 1945 – für den gesamten Untersuchungszeitraum zur Verfügung. Sie geben vielschichtige Einsichten in die Debatten über Heimerziehung bei den politischen Entscheidungsträgern, in den Landtagen und den Landesregierungen (Landessozialreferenten, Finanzreferenten, Baureferenten). Letztere bestimmten die Rahmenbedingungen der Fürsorgeerziehung, indem sie die Finanzierung und allgemeine Ausrichtung auf Heime oder auf Alternativen festlegten. Es ist für eine Aufarbeitung der Geschichte der Fürsorgeerziehung mithin unumgänglich, die Stellungnahmen von Seiten der verschiedenen politischen Kräfte zu beleuchten, wobei sich abzeichnet, dass die Positionierung der Diskursbeiträge nicht entlang der Grenzen der jeweiligen politischen Lager zu ziehen sein dürfte, sondern diese sich überkreuzten. Eine eindeutige Verortung von Befürworter Innen und KritikerInnen der Heimerziehung ist nicht möglich. Besonderes Augenmerk bei der Auswertung der Landtagssitzungsberichte lag einerseits auf der Nachkriegszeit als einer Zeit der Rekonstitution der öffentlichen Jugendwohlfahrt unter den Bedingungen der demokratischen Neuordnung und des Wiederaufbaus. Andererseits waren die im Landtag geführten Reformdebatten der 1970er Jahre von besonderem Interesse. Auch die im Rahmen der Haushaltsdebatten ge führten Verhandlungen über einzelne Investitionen in die Fürsorgeerziehungsheime geben Einblicke in zeitgenössische, auch widerstreitende Vorstellungen von Kindheit, Jugend und Erziehung. Es wurden die Landtagsprotokolle beider Län der für die Erarbeitung der Genese der Jugendwohlfahrt in Tirol und Vorarlberg während der Monarchie und Ersten Republik (ab ca. 1880 bis 1938) herangezogen.

    •   Berichte des Landeskontrollamtes: Eine weitere Quelle stellen die Berichte des Landeskontrollamtes dar, welches die Landeseinrichtungen regelmäßig überprüfte und dem Tiroler Landtag Rechenschaft über deren Führung ablegte. Zu allen drei Tiroler Landeserziehungsheimen liegen solche Berichte vor (Kleinvolderberg: 1952, 1960, 1963, 1977, 1982; St. Martin/Schwaz: 1960, 1977, 1987; Kramsach: 1960 und 1978). Neben einer Bestandsaufnahme zum Zustand der Heime, zur Personalsituation und zur Auslastung legen die genannten Berichte den Einsatz der finanziellen Mittel zur Ausgestaltung der Heime offen und zeigen Missstände auf (z.B. Fehlinvestitionen bzw. unnötige oder übermäßige Ausgaben, Unterschlagung von Geldern oder unsachgemäße Verwaltung der Zöglingsgelder). Teilweise liegt zudem eine Stellungnahme des Tiroler Landesjugendamtes zu den Berichten vor.

    •   Lokale und regionale Zeitungen: Auch über die Berichterstattung lokaler und regionaler Zeitungen, die in der Bibliothek des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum zugänglich sind und im Hinblick auf die Tiroler Landeserziehungsheime St. Martin, Kleinvolderberg und Kramsach gesichtet wurden, können öffentliche Meinungen und Positionen zur Heimerziehung rekonstruiert werden. Die Berücksichtigung dieser öffentlichen Stimme konnte nicht systematisch, sondern bloß schwerpunktmäßig erfolgen.

    •   Bestand Klaus Madersbacher: Schließlich erlaubt die Sammlung von Klaus Madersbacher (Tiroler Arbeitskreis Heimerziehung), der dem Forschungsprojekt zur Einsicht und Archivierung überlassen wurde, Einsichten in zivilgesellschaftliche Kritik am System der Heimerziehung und das Aufzeigen von Alternativen zur Heim erziehung seit den 1970er Jahren. Darin enthalten ist die Dokumentation der Tätigkeit des Tiroler Arbeitskreises Heimerziehung (gegr. 1979), der Schriftverkehr mit politisch verantwortlichen Personen sowie verschiedene zeitgenössische Dokumente, die sich mit der Reform oder Abschaffung der Heimerziehung insbesondere aus der fachlichen Perspektive (Sozialarbeit) befassen.

    •   Handakten der Heimleiter: Die Sammlung des ehemaligen Heimleiters vom Jagdberg, Manfred Schnetzer, die dem Projekt ebenfalls zur Verfügung gestellt wurde, enthält Vortragsmanuskripte des Heimleiters, verschiedene Zeitungsartikel über das Heim, Korrespondenzen des Heimleiters mit ehemaligen Zöglingen und mehrere Fotoalben aus den 1950er bis 1980er Jahren. Die „Handakten Manfred Schnetzers ergänzten die Ergebnisse der Aktenrecherche im VLA und flossen an mehreren Stellen des Kapitels zur Geschichte der Jugendfürsorge in der Zweiten Republik ein. Handakten, wenngleich in viel geringerem Ausmaß, überließ auch der Schulleiter bzw. spätere Heimleiter des Landeserziehungsheimes Kramsach-Maria tal, Friedrich Ebenbichler. Die Sammlung enthielt verschiedene Dokumente aus dem Archiv der Barmherzigen Schwestern in Salzburg, eine vom Schulleiter handgeschriebene „Chronik sowie wenige Fotos. Die Dokumente hatten Ebenbichler als Grundlage für eine 32 Seiten umfassende, unveröffentlichte „Festschrift" des Heimes Mariatal in Kramsach gedient, das der Projektgruppe ebenfalls als Informationsquelle zur Verfügung stand.

    •   Unterlagen aus Privatarchiven: Vereinzelt wurden dem Projekt private Unterlagen von Seiten der InterviewpartnerInnen zur Verfügung gestellt, darunter verschiedene Fotos sowie die Tagebücher zweier Zeitzeuginnen, die während der 1950er und 1960er Jahre in St. Martin untergebracht waren.

    Die historischen Bildquellen als Erkenntnismittel

    Obwohl Bildquellen bereits im Zusammenhang mit den schriftlichen Quellen und den einzelnen Quellenbeständen Erwähnung gefunden haben, sollen sie an dieser Stelle noch einmal als eigenständige Erkenntnismittel herausgehoben werden. So sollen Bilder nicht lediglich als Illustration dessen dienen, was anhand von Textquellen herausgearbeitet wurde. Vielmehr gerinnt im Bild spezifisches Wissen über sozialen und kulturellen Sinn, das sich nicht gleichermaßen über Sprache transportieren lässt oder das nicht gleichermaßen textlich überliefert wurde. Daher können Bilder das Wissen aus Texten kontrastieren und erweitern. Um mit Bildern als Quellen zu arbeiten, muss der Nutzungskontext in der Entstehungszeit berücksichtigt werden: Zeitgenössische Konventionen in Bezug auf die Herstellung, Inszenierung und Verwendung von Bildern sind der soziale Kontext von Bildproduktion.

    In der Studie kommen verschiedene Bilder zum Einsatz, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen. Zum Ersten werden Reproduktionen verschiedener historischer Gebrauchsschriftstücke (z.B. Aktenstücke, Zeitungsartikel, Gesetzestexte) abgebildet. Sie sollen die verschiedenen Texturen des Fürsorgeerziehungsregimes, die den AutorInnen als Quellengrundlage gedient haben, für die LeserInnen veranschaulichen. Zum Zweiten werden die vier untersuchten Landeserziehungsheime jeweils in einer eigenen Bildstrecke gezeigt. Die darin enthaltenen Bilder lassen sich in der Mehrheit als Funktionsfotografien bzw. Funktionsgrafiken bezeichnen, die das Gebäude der Anstalt in der Landschaft inszenieren. Sie folgen dabei hinsichtlich der Gestaltungsmerkmale ganz klar den Konventionen ihrer Zeit, indem sie den Raum ohne Menschen zeigen und die Schönheiten einer vermeintlich idyllischen Landschaft hervorheben. Bei den Fotografien kommt hinzu, dass sie in der Regel als Werbematerial in den verschiedenen Vereinspublikationen zum Einsatz kamen. Das Interesse an diesen Bildern besteht darin, dass sie – besser als jeder Text – die bauliche Entwicklung der Anstalten aufzeigen können und so Kontinuitäten und Wandel in der Strukturierung des (Anstalts-)Raumes und der darin enthaltenen Gebäude deutlich werden lassen. Dies gilt auch für die Baupläne, die an einigen Stellen abgebildet sind. Zum Dritten werden zwei Fotoserien herausgehoben, die im Erziehungsheim St. Martin während der 1970er Jahre entstanden sind: Der Fotograf Gert Chesi und der Sozialarbeiter Klaus Madersbacher konnten die Erlaubnis erwirken, im Heim zu hospitieren und den Alltag der Mädchen fotografisch zu dokumentieren. Für die Studie ausgewählt wurden einerseits die Bilder, die die Mädchen bei der Arbeit in der Wäscherei, Büglerei und Näherei der Anstalt zeigen, sowie andererseits die Bilder, die den mit Inschriften der Mädchen überzogenen Innenraum des Karzers dokumentieren. Beide Serien zeigen Innenansichten des Erziehungsheims St. Martin. Doch folgen auch die Fotos der Mädchen bei der Arbeit etablierten Bildprogrammen, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert entwickelten und Heimkinder im Heim stets in Gruppen bei einer gemeinsamen Beschäftigung zeigten, selten als Gruppenfoto in der Art von Klassenbildern, nie jedoch als Einzelperson in der Art eines Porträts. Durch die Kombination (Triangulation) dieser Fotos mit Interviewausschnitten verdichtet sich ihre Aussagequalität als Bildquellen, denen nun genau die individuellen Aussagen konkreter Personen gegenüberstehen. Den Karzerfotos hingegen wohnt eine subversive Kraft inne, denn hier sprechen die Stimmen der Mädchen aus dem Karzer zum Betrachter, zur Betrachterin der Bilder. Sie lassen die Mädchen sowohl als Gruppe wie auch als Individuen hervortreten. Mit dem Beschreiben der Karzerwände bezeugten die Mädchen ihren Widerstand gegen die Bestrafungspraktiken im Heim, denn dieses gehörte selbstverständlich zu den Verboten in der Hausordnung. Kurz nachdem die Bilder entstanden waren, wurden die Wände des Karzers überstrichen. Somit liegen hier einzigartige Dokumente vor.

    Die Quellenlage zur Geschichte der Landeserziehungsheime

    Mit der Erarbeitung der Strukturgeschichte der Landeserziehungsheime hinsichtlich ihrer Genese, ihrer Verortung in der regionalen Jugendfürsorgegeschichte sowie ihrer spezifischen heiminternen Regelwerke wurde mehrheitlich Grundlagenforschung betrieben. In allen vier Fällen handelt es sich um die erste systematische Erforschung über die gesamte Zeit ihres Bestehens. Mit Ausnahme des Erziehungsheims Jagdberg, für dessen frühe Zeit bereits eine erste umfassendere Untersuchung vorlag, basieren die Erkenntnisse vollständig auf der Erschließung und Synthese historischer Quellen. Die Überlieferungssituation zu den einzelnen Heimen stellte sich allerdings als sehr heterogen heraus. Das hat Auswirkungen auch auf die Strukturgeschichten. Im Folgenden wird die Quellenlage für die einzelnen Landeserziehungsheime im Detail beschrieben und dargestellt, welche Quellen auf welche Weise Eingang in die Studie gefunden haben.

    Jagdberg/Schlins

    Die Quellenlage zur Landeserziehungsanstalt Jagdberg in der Zweiten Republik ist in ihrer Geschlossenheit sowie ihrem Zeitumfang einzigartig. Die penible Aktenführung und Dokumentation der historischen AkteurInnen im Landeserziehungsheim Jagdberg, die bis zur Reprivatisierung im Jahr 1999 beibehalten wurde, hinterließ der Forschung einen nahezu geschlossenen Aktenbestand.12 Der Erhaltungszustand der Quellen ist hervorragend und die Erschließung durch das Vorarlberger Landesarchiv vorbildlich. Im Rahmen der vorliegenden Studie, welche das gesamte Panorama der Landesheime der Wohlfahrtsregion Tirol und Vorarlberg zu erschließen hatte, konnte naturgemäß keine vollständige wissenschaftliche Bearbeitung dieses außergewöhnlich dichten Aktenmaterials erfolgen. Auch aus diesem Grund schiene eine eigene Längsschnittuntersuchung zum Jagdberg weiterhin möglich und nötig.

    Um die Strukturgeschichte des Heimes für die Zeit nach 1945 nachzuzeichnen, wurde vorwiegend auf die allgemeinen Dokumente des Jagdbergbestandes zurückgegriffen, und zwar insbesondere auf die Rechenschaftsberichte des Heimes, die für die Jahre 1947 bis 1999 geschlossen vorliegen, sowie auf die Protokolle der Erzieherbesprechungen (1974–1996). Diese erlauben die Erhebung quantitativer Daten, unter anderem hinsichtlich der Belegfähigkeit sowie der jährlichen Belegung des Heimes, der Herkunft und des familiären Hintergrunds der untergebrachten Buben sowie der Einweisungsgründe. Zugleich dienen sie als unverzichtbare Quelle für Informationen zur Organisation und Verwaltung, zu den baulichen Umstrukturierungen sowie zu pädagogischen Überlegungen (z.B. Herabsetzung der Gruppengrößen, Erziehungsmaßnahmen in Einzelfällen) der Einrichtung. Dabei ist zu beachten, dass diese Schriftstücke die Perspektive der Institution und deren handlungsmächtiger AkteurInnen wiedergeben.

    Neben den Quellen aus dem Jagdbergbestand wurden für die Bearbeitung der Jagdberger Heimgeschichte nach 1945 auch die „Handakten" Manfred Schnetzers herangezogen. Eine weitere verwendete Quelle stellen die Heimzeitungen dar, welche ab 1969 halbjährlich von den ErzieherInnen des Jagdbergs sowie den untergebrachten Buben herausgegeben wurden. Sie sind in gesammelter Form bis einschließlich 1981 in der Vor arlberger Landesbibliothek einzusehen. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit diesem Medium, das der Anstalt vorrangig als Plattform einer positiven Außendarstellung diente, unter anderem aber auch Informationen über interne Strukturveränderungen (Umbaumaßnahmen etc.) sowie Veranstaltungen (Sommerlager, jährlich stattfindende Feste und Feiern etc.) oder Besuche (u.a. von ehemaligen Heimkindern) liefert, ist anzuraten. Mithilfe der Zeitungen könnte unter anderem der Frage der Selbstwahrnehmung sowie -darstellung des Heimes gründlich nachgegangen werden. Vereinzelt finden sich in diesem Bestand auch heimkritische Beiträge der untergebrachten Buben. Um die Perspektive des langjährigen Trägers des Heimes, des Landes Vorarlberg, verstärkt in die Strukturgeschichte der Anstalt nach 1945 einfließen zu lassen, wurden Akten aus dem Bestand der Abteilung IVa des Amtes der Vorarlberger Landesregierung (Landesjugendamt) gesichtet und bearbeitet. Nicht zuletzt wird die Darstellung auch durch die Perspektive der ZeitzeugInnen erweitert. Diese trat in den Interviews, die das ForscherInnenteam führte, als Erinnerungen zutage.

    Auf die Landes-Sondererziehungsschule Jagdberg, deren Verwaltung und Leitung 1960 von der Leitung des Landeserziehungsheimes Jagdberg getrennt wurde, wird in der Strukturgeschichte des Heimes nicht vertiefend eingegangen. Sie war zwar räumlich neben dem Erziehungsheim situiert und stand im regen Austausch mit der Erziehungseinrichtung. Dienstrechtlich war sie jedoch autonom und nicht der Abteilung IVa, sondern der Abteilung IIa (Schulabteilung) des Amtes der Vorarlberger Landesregierung unterstellt. Somit handelt es sich um eine eigenständige Institution mit spezifischen Regelwerken, an die sich folglich spezifische Fragestellungen anschließen. Die eingehende wissenschaftliche Befassung mit der Schule auf dem Jagdberg bedeutet, dass zum einen das Aktenmaterial des Bestandes Jagdberg im Vorarlberger Landesarchiv gesichtet, zum anderen gänzlich neues Quellenmaterial erhoben und analysiert werden muss.

    Bedeutsam für die Aufarbeitung der Frühgeschichte (1886–1938) der Einrichtung ist der Bestand des Vorarlberger Kinderrettungsvereins, der im VLA aufbewahrt wird. Darin finden sich unter anderem Sitzungsprotokolle des Vereins, Teile des Schriftverkehrs mit Vertretern der Vorarlberger und Tiroler Landesregierung sowie Verträge und vereinzelte Zeitungsartikel. Die Unterlagen geben für die Jahre 1880 bis 1936 Aufschluss über die Organisation und Verwaltung des Vereins sowie der von ihm geführten Heime Jagdberg (Schlins), Marienheim (Bludenz), Viktorsberg und Schloss Hofen (Lochau). Eine weitere wichtige Quelle stellen die jährlich herausgegebenen Stenographischen Sitzungsberichte des Vorarlberger Landtages dar, die ab dem Jahr 1861 vollständig in der Vor arlberger Landesbibliothek einzusehen sind. Anhand dieser lassen sich die politischen Debatten, die um die Anstalt Jagdberg sowie dessen Träger entbrannten, nachzeichnen. Die vom Vorarlberger Kinderrettungsverein herausgegebenen Jahresberichte sowie der 1910 publizierte Jubiläumsbericht fließen ebenfalls in die Frühgeschichte des Heimes ein. Ausgewählte Artikel der Tageszeitung Vorarlberger Volksblatt,13 deren Ausrichtung als katholisch-konservativ einzustufen ist, wurden ergänzend verwendet; ein Medium der Sozialdemokraten, etwa die Vorarlberger Wacht, konnte fallweise als Kontrast hinzugezogen werden.

    Unterlagen zur Aufarbeitung der Geschichte des Gauerziehungsheims Jagdberg, als welches die Einrichtung während der NS-Zeit geführt wurde, finden sich zum einen im Jagdbergbestand des VLA, zum anderen im Aktenbestand der Gauselbstverwaltung Tirol-Vorarlberg des TLA. Entgegen den Erwartungen muss das dort gesichtete historische Schriftgut für das Erziehungsheim Jagdberg als lückenhaft beschrieben werden. Um eine umfassendere Darstellung des damaligen Heimes, seiner Korrespondenz mit VertreterInnen der Jugendfürsorge sowie seiner Einbettung in das regionale Wohlfahrtswesen zu ermöglichen, wären zusätzliche Recherchen notwendig. Zur Schließung der Lücken könnte eine eingehende Sichtung und Analyse des Quellenmaterials vorgenommen werden, das im Archiv der Österreichischen Provinz der Don-Bosco-Schwestern14 in Salzburg (AÖFMA) sowie in den Beständen des Provinzialrates der Salesianer Don Boscos in Wien (AWP) aufbewahrt wird. Auch wäre zu erwägen, die Bestände der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) im Bundesarchiv Berlin zu konsultieren, wobei auch hier eine umfassendere Sichtungsarbeit, als sie für die vorliegende Studie möglich war, notwendig wäre.

    St. Martin/Schwaz

    Die Rekonstruktion der Geschichte des Erziehungsheimes St. Martin erweist sich aufgrund der fehlenden Sach- und Zöglingsakten des Heimes, die nach derzeitigem Kenntnisstand skartiert wurden, als schwierig. Somit müssen die benötigten Informationen zum Heim aus anderen Quellen erschlossen werden. Maßgeblich genutzt wurde hierfür der Bestand des Tiroler Landesjugendamtes (Abteilung Vb). Durch dessen fragmentarischen Charakter – beispielsweise existieren Tätigkeitsberichte des Erziehungsheimes St. Martin nur für den Zeitraum 1967 bis 1976 und 1985 bis 1990, Akten zu den baulichen Veränderungen nur für den Zeitraum 1950 bis 1967 usw. – kann das Verwaltungsschriftgut der dem Heim übergeordneten Behörde

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