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Seebrücke in Flammen
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eBook296 Seiten4 Stunden

Seebrücke in Flammen

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Über dieses E-Book

Myrna hat ihren Mann verlassen und ist verschwunden. Ihre Schwester Luisa gilt als tot, ihre Leiche wurde aber nie gefunden.
Lediglich ein paar Haare konnte man damals am Strand sicherstellen. Doch die ver- meintliche Tote ist quicklebendig und hat sich unerkannt im leer stehenden Kino der berühmten Seebrücke des Kaiserbades eingerichtet. Überall in Heringsdorf kommt es zu Einbrüchen und Brandstiftungen – und nach dem Mord an einer Altenpflegerin ver- sucht jemand, die Brücke in Brand zu setzen. Hängt alles mit einer geplanten Shop- übernahme auf dem Usedomer Wahrzeichen zusammen. Oder hat es etwas mit dem Feuer im Jahre 1958 zu tun, bei dem das alte Bauwerk vernichtet wurde? Eines steht fest: Luisa muss es aufklären. Und ihre Schwester finden!
SpracheDeutsch
HerausgeberHinstorff Verlag
Erscheinungsdatum1. Feb. 2017
ISBN9783356021288
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    Buchvorschau

    Seebrücke in Flammen - Elke Pupke

    entfernte.

    1

    »Wo ist denn nun die berühmte Heringsdorfer Seebrücke?«

    Maja Vogelsang blickte ihre Kundin, die ihr diese Frage im schönsten sächsischen Dialekt gestellt hatte, erstaunt an. »Hier! Sie stehen mitten drauf«, erklärte sie etwas zögernd, nicht ganz sicher, ob die Frage ernst gemeint war.

    »Häh? Das ist doch keine Brücke, das ist eine Einkaufspassage.«

    »Genau! Die Passage auf der Seebrücke. Gehen Sie einfach weiter, durch die Tür da vorn, dann kommen Sie auf einen Steg, dann zur Mittelplattform, da sind auch Läden, dann wieder Steg, vorn an der Spitze befinden sich ein Restaurant und der Schiffsanleger. Das Ganze liegt über dem Wasser und heißt deshalb Seebrücke.«

    »Na so was, unter einer Brücke stelle ich mir etwas ganz anderes vor«, erklärte die Urlauberin vorwurfsvoll. Sie sah sich in dem kleinen Laden um, nahm ein paar Dinge in die Hand, legte sie wieder hin und verließ ihn dann kopfschüttelnd.

    Die Verkäuferin schaute ihr kurz hinterher, dann blieb ihr Blick an einer jungen Frau hängen, die gerade an dem Geschäft vorbeischlenderte. Sie war mittelgroß und schlank, das Gesicht hatte sie zur anderen Seite gewendet, aber Maja hatte sofort das Gefühl, sie zu kennen, und war sich dessen ganz sicher, als die Frau mit beiden Händen von hinten in das lange blonde Haar griff, es mit der rechten Hand zu einem Pferdeschwanz bündelte und dann wieder auseinanderfallen ließ. Diese Geste kannte sie. Auch den bewusst lässigen Gang, der Selbstbewusstsein vortäuschen sollte. Vor ihrem inneren Auge sah sie kurz ein hübsches, junges Gesicht mit einem trotzigen Mund und flackerndem Blick. Aber sie konnte das Bild nicht festhalten und als die Frau unter den anderen Leuten, die auf der Seebrücke flanierten, verschwand, wollte sie am liebsten hinterherlaufen.

    ›Wer war das?‹ Sie ärgerte sich, weil es ihr einfach nicht einfiel. Es musste jemand sein, den sie gut kannte, aber längere Zeit nicht gesehen hatte. Vielleicht aus ihrem Heimatdorf? ›Hoffentlich kommt sie noch einmal vorbei‹, dachte sie. Die Neugier ließ Maja mal wieder keine Ruhe.

    Eine ältere Frau riss sie aus ihren Gedanken. »So einen Laden hatte ich früher auch. Auf der alten Seebrücke.«

    »Wirklich? Das ist ja interessant. Das muss doch dann wohl in den Fünfzigern gewesen sein, oder?«, entgegnete Maja.

    »Stimmt!« Die zierliche weißhaarige Dame lächelte wehmütig. Eigentlich war es nicht ihre Art, fremde Menschen anzusprechen, aber die freundliche Verkäuferin gefiel ihr.

    Maja war auch nicht mehr ganz jung mit ihren 55 Jahren, die Dauerwelle, die sie sich von keinem Friseur ausreden ließ, verlieh ihr ein etwas altbackenes Aussehen und auch die Kleidung konnte nicht gerade als modisch durchgehen, was zum Teil ihrer vollschlanken Figur geschuldet war.

    Es waren gerade keine weiteren Kunden im Laden und Maja schien tatsächlich interessiert, deshalb erlaubte sich die ehemalige Verkäuferin, ausführlich in ihren Erinnerungen zu kramen. »Mein Laden war ganz ähnlich wie dieser, auch nicht sehr groß, wir haben Andenken verkauft, vieles aus Muscheln oder Schildplatt, echten und künstlichen Bernsteinschmuck, Gläser und Schalen mit Wappen, Ostseebilder – lauter Kitsch eben, aber die Gäste haben das damals gern mitgenommen. Wir hatten auch noch Strandspielzeug: Eimer und Förmchen, Schwimmringe und Wasserbälle.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Am 27. Juni 1958 war es, den Tag vergesse ich nie. Ich hatte vormittags Ware bekommen und einige Wasserbälle aufgeblasen, um festzustellen, ob sie die Luft halten. Abends habe ich sie dann auf dem Feuer tanzen sehen. Die ganze Seebrücke hat lichterloh gebrannt. Sie war ja nur aus Holz. Und unter den Geschäften, in den Hohlräumen, haben wir die Verpackungen aufbewahrt. Ja, da brauchte man nur ein Streichholz ranhalten.« Sie seufzte tief. »Das war wirklich schlimm. Ganz Heringsdorf stand unter Schock. Es war eine so schöne Seebrücke, die schönste in Deutschland, hieß es. Und das Wahrzeichen der Insel Usedom. Sie war auch schon 500 Meter lang, damals was ganz Besonderes, Einmaliges. In der Form war sie ähnlich wie diese, aber mit hohen, spitzen Türmen und vielen Schnitzereien verziert. Aber, na ja«, sie lächelte freundlich, »diese ist auch schön. Und Ihr Laden gefällt mir. Sie haben viel schönere Sachen als wir damals.«

    »Hat man die Brandstifter eigentlich gefasst?«, fragte Maja noch schnell, denn jetzt betraten einige Kunden den Laden.

    »Ja, es waren Jugendliche aus dem Ort. Sie sind ins Gefängnis gekommen.«

    Die Verkäuferin hätte gern noch mehr über die alte Seebrücke erfahren, aber die Frau winkte ihr noch einmal kurz zu und verließ das Geschäft. ›Ich müsste Valentin mal fragen‹, dachte Maja. ›Der weiß bestimmt mehr darüber. Die fremden Reiseleiter erzählen den Gästen doch nur Unsinn.‹

    Während Maja eine Kundin abkassierte, sah sie durch die Scheibe erneut die junge Frau, die ihr vorhin so bekannt vorgekommen war. Sie stand jetzt vor dem Schaufenster des Schmuckladens. Plötzlich drehte sie den Kopf zur Seite und zog die Schultern hoch, so als wollte sie nicht erkannt werden. Ja, das war es, das Auffällige an dieser Passantin. Sie wollte nicht erkannt werden, schien sich zu verstecken, aber auch viel Zeit zu haben. ›Jedenfalls ist es keine Touristin‹, dachte Maja, ›und ich kenne sie! Wenn ich nur mal ihr Gesicht sehen würde. Irgendwas stimmt nicht mit ihr, da bin ich mir ganz sicher.‹

    Am Abend, als die Verkäuferin zu Haue im Sessel ihre müden Füße massierte, fiel es ihr plötzlich ein. ›Das war eine von den Ludwig-Schwestern! Myrna oder Luisa. Sie sind sich ziemlich ähnlich, waren es jedenfalls immer.‹ Maja war mal gut mit ihnen befreundet gewesen, hatte sie aber schon lange nicht mehr gesehen. Sie ahnte nicht, dass sie die eine ihrer ehemaligen Freundinnen auch nie wiedersehen würde.

    2

    Luisa bummelt durch das große Einkaufscenter mitten in Hamburg. Sie wirft einen sehnsüchtigen Blick in einen Backwarenshop, geht aber schnell weiter. Wie gern würde sie jetzt einen Kaffee trinken! Aber dafür kann sie kein Geld ausgeben, es reicht ohnehin nicht mehr lange. Um sich abzulenken, geht sie in ein Modegeschäft, sieht sich Kleidung an und nimmt sogar ein paar Teile mit in eine Kabine. Sie zieht eine Hose an und betrachtet sich im Spiegel. ›Sieht toll aus‹, stellt sie fest, ›ich bin wieder richtig schlank geworden. Armut ist eine ziemlich wirksame Diät.‹ Frustriert verzichtet sie darauf, die anderen Kleidungsstücke anzuprobieren. Sie kann sie sich ohnehin nicht leisten, und etwas zu stehlen, das traut sie sich nicht.

    Als sie in Richtung Ausgang schlendert, blickt Luisa in zwei bekannte Gesichter und grüßt unwillkürlich. Sofort zuckt sie erschrocken zusammen und geht schnell weiter, ohne sich umzudrehen. Erst an der anderen Seite des Ladens bleibt sie hinter einem Regal stehen und holt tief Luft. Sie spürt ihr Herz bis in den Hals schlagen. Nach einer Weile späht sie vorsichtig um die Ecke. Dann schleicht sie sich langsam zurück. Warum nur hat sie so reflexhaft gegrüßt? Sie sieht die beiden immer noch an der Stelle stehen, an der sie sie getroffen hat. Luisa zieht sich die Kapuze ihres Pullovers über den Kopf und geht hinter einem Kleiderständer so nah wie möglich heran. Sie muss unbedingt wissen, worüber sie reden, ob das Ehepaar sie erkannt hat.

    Sie steht jetzt dicht hinter ihnen, nur durch eine Reihe Blusen von den beiden getrennt. Die Frau deutet immer wieder mit dem Finger in die Richtung, in die Luisa verschwunden ist und redet lebhaft auf ihren Mann ein. Warum ist sie nur so aufgeregt? Endlich kann Luisa das Gespräch verstehen.

    »Das kann sie nicht gewesen sein, du weißt genauso gut wie ich, dass Luisa tot ist. Meinst du, sie spukt hier in Hamburg durch die Kaufhäuser?«

    »Aber ich habe sie doch genau gesehen. Und sie hat sogar gegrüßt. Sie hatte die gleiche Jacke an wie immer. Nur die Haare trägt sie jetzt kurz.«

    »Vielleicht war es Myrna. Die beiden sahen sich doch ziemlich ähnlich.«

    »Also, ich bitte dich. Ich kann doch Myrna und Luisa unterscheiden.«

    ›Das solltest du‹, denkt Luisa, ›nachdem wir zwanzig Jahre lang Nachbarn waren. Aber wieso denkt der alte Trottel, dass ich tot bin?‹

    »Die Leiche wurde doch wohl nie gefunden«, überlegt die Frau jetzt, und Luisa, die sie nicht sehen kann, erinnert sich, wie die dürre Blondine ihre spitze Nase rieb und wie ihre Augen blitzten, immer dann, wenn sie im Dreck ihrer Nachbarn wühlte. »Wahrscheinlich wurde sie gar nicht ermordet, sondern ist mal wieder einfach abgehauen. Das würde ihr auch ähnlich sehen!«

    ›Ermordet? Das wird ja immer schöner. Wie kommen die darauf, dass ich ermordet wurde? Das ist doch makaber.‹ Luisa bekommt eine Gänsehaut. Sie hört noch etwas von einem Boot und einem Leichenhund, aber die beiden gehen jetzt langsam weiter und Luisa bleibt wie versteinert stehen.

    3

    Am Nachmittag bummelt Luisa durch die Stadt. Es nieselt ein wenig, ist aber zum Glück recht warm für diese Zeit im späten Herbst. Immerhin ist es schon Ende November, richtig kalt war es für ein paar Wochen im Oktober geworden. Gewohnheitsmäßig sieht sie in jeden Abfallkorb, findet heute aber nur eine einzige Pfandflasche. Sie ist immer noch aufgeregt über ihr Erlebnis vom Vormittag.

    ›Wenn ich doch nur mit Myrna reden könnte! Sie wird doch wohl nicht auch denken, dass ich tot bin?‹ Dieser Gedanke erschreckt Luisa so, dass sie unwillkürlich stehen bleibt. Ein Mann rempelt sie an und schimpft. Sie tritt zur Seite und setzt sich auf eine Bank an einer Bushaltestelle. Fieberhaft überlegt die junge Frau, wie sie ihre Schwester erreichen kann. Es gibt keine andere Möglichkeit, sie muss nach Hause zurückkehren! Eigentlich war es ihr schon lange klar. Sie kann nicht hier in Hamburg überwintern, ohne Unterkunft, ohne Geld, ohne Papiere. Seit Monaten schläft sie im Auto, und nicht einmal das gehört ihr. Es ist Myrnas alter Golf, aber sie durfte ihn schon immer nutzen, und ihre Schwester wollte ihn ihr ohnehin schenken.

    Der Entschluss steht fest. Luisa ist jetzt sogar erleichtert, dass sie es nicht mehr hinauszögern kann. Im Gegenteil, jetzt will sie so schnell wie möglich nach Hause, auf die Insel Usedom.

    ›Ob das Auto noch fährt, wenn sie denn endlich einmal die Batterie aufladen lässt?‹ Sie könnte beim ADAC anrufen und sich als Myrna ausgeben, die ist dort Mitglied. Aber vielleicht verlangen die einen Ausweis zu sehen. Oder sie spricht einfach einen Autofahrer an, der einen netten Eindruck macht, und bittet um Starthilfe. Und dann? Luisa muss nicht in ihr Portemonnaie sehen, um zu wissen, dass sie noch genau 52,63 € besitzt. Damit bekommt sie das Auto nicht einmal vollgetankt und auf keinen Fall reicht es bis nach Usedom. Soll sie einfach so weit fahren, wie sie kommt, und es dann per Anhalter weiter versuchen?

    Ein gelber Reisebus fährt an die Haltestelle. Postbus liest Luisa. Spontan springt sie auf und spricht den Busfahrer an. »Fahren Sie zufällig auf die Insel Usedom?«

    »Zufällig nicht. Aber planmäßig.«

    »Und wann?«

    »Um 15.30 Uhr.« Er sieht auf die Uhr. »Also in einer Stunde und vierzig Minuten. Und dann wieder übermorgen.«

    »Und was kostet das?«

    »15 €. Aber so einfach geht das nicht. Sie müssen die Fahrt buchen. Übers Internet oder …«

    »Bitte«, unterbricht Luisa den jungen Mann und blickt ihn flehend an, »ich muss unbedingt auf die Insel, so schnell wie möglich. Gibt es denn gar keine Möglichkeit, dass ich heute mitfahren kann?«

    »Na ja«, der Fahrer überlegt kurz, dann zuckt er mit den Schultern, »der Bus ist sowieso halb leer. Also von mir aus. Was ist mit Gepäck?«

    »Ich wohne gleich um die Ecke. Ich hole meine Sachen und bin pünktlich wieder hier, okay?«

    Ihr Golf steht auf dem Hinterhof eines großen Mietshauses, zwischen einem anderen Autowrack und einem halbzerfallenen Schuppen. Anscheinend ist noch niemandem aufgefallen, dass hier jemand übernachtet. Luisa ist immer wieder froh, dass die Kinder heute nicht mehr draußen spielen, sondern ihre Abenteuer bei Computerspielen suchen. Trotzdem sieht sie sich gewohnheitsmäßig um, bevor sie hinter den Schuppen zur Fahrerseite des Autos schlüpft.

    Einen Moment lang bleibt sie sitzen und überlegt. Sie weiß, sie kann es nicht hinausschieben, sie muss zurück. Ihre Sehnsucht ist unbändig, nach Myrna, nach richtigen Gesprächen mit Menschen, die sie kennt. In den letzten Monaten hat sie manchmal tagelang kein Wort gesagt. Und wenn, dann waren es belanglose Bemerkungen zu fremden Leuten. Sie wird wahnsinnig, wenn sie noch lange allein bleibt. Aber da ist immer noch die Scham, die Angst, sich im Heimatdorf zu zeigen. Das schafft sie nicht, sie kann keine Fragen beantworten, bevor sie mit Myrna gesprochen hat.

    ›Am besten wäre es, wenn mich niemand erkennt‹, denkt sie. ›Ich muss mein Aussehen verändern.‹ Sie greift in das Handschuhfach. Tatsächlich, da ist die schwarze Haarfarbe, die sie gleich am ersten Tag in Hamburg gekauft und dann völlig vergessen hat. Ohne noch lange zu überlegen, greift sie nach der Packung und steigt hastig aus, dann beugt sie sich noch einmal ins Auto und zieht ein paar Kleidungsstücke hervor, die auf dem Rücksitz unter einer Decke verborgen waren. Schnell läuft sie über den Hof zu einem flachen und heruntergekommenen Nebengebäude, dessen Eingangstür schon etwas schief in den Angeln hängt. Ein großer Wasserkessel steht hier, der von unten beheizt werden kann, sogar Holz liegt noch in einer Ecke. Sie hat sich aber nie getraut, hier ein Feuer anzuzünden, irgendjemand hätte den Rauch sehen und die Feuerwehr rufen können. In dieser alter Waschküche hat sie sich monatelang nur mit kaltem Wasser gewaschen, froh, dass der Wasserhahn in der Ecke noch funktionierte. Sie zittert vor Nervosität, als sie jetzt die Packung aufreißt und die Anleitung liest. Zwanzig Minuten einwirken lassen – das muss sie schaffen! Vielleicht reichen auch fünfzehn Minuten, ihr Haar ist sehr fein. Zum Glück hat sie es schon vor Wochen kurz geschnitten.

    Nachdem die Farbe aufgetragen ist, zieht Luisa sich um. Sie hat absichtlich ihre Schwangerschaftskleidung gegriffen, jetzt zieht sie mehrere Pullover übereinander, dann die weite Hose und eine große Bluse darüber. ›Nein‹, denkt sie dann, ›das sieht komisch aus, damit falle ich nur auf. Außerdem schwitze ich mich tot im Bus.‹ Schnell streift sie einen Pullover nach dem anderen wieder ab, sieht auf die Uhr und spült ihre Haare gründlich aus. Dann zieht sie die enge Jeans wieder an.

    Wieder im Auto sieht sie in den Spiegel, erschrickt und lockert die nassen Haare mit den Fingern ein wenig auf. Macht sie die dunkle Tönung so blass? Oder ist es die Aufregung? Dann stopft sie hastig die Kleidungsstücke in eine Reisetasche. Sie kontrolliert das Handschuhfach, da liegt noch Myrnas Handy, das sie einsteckt. Die Flasche mit dem Leitungswasser kommt in die Tasche und noch etwas Unterwäsche. Jetzt liegt nur noch Sommerkleidung auf dem Rücksitz. Sie zieht die Wolldecke darüber und steigt aus. Dann dreht sie sich noch einmal um und holt die Decke aus dem Auto. Die anderen Sachen schiebt sie auf den Boden, zwischen die Sitze. Sie verschließt die Türen und läuft nach einem Blick auf ihre Armbanduhr zur Straße. ›Irgendwann muss ich zurückkommen und das Auto holen. Erst mal nach Hause!‹

    4

    Der gelbe Bus ist nicht ganz voll, Luisa hat eine Sitzbank für sich allein. Ihr Blick schweift über die karge Landschaft, unwillkürlich fällt ihr Heinrich Heine ein, für den sie als Jugendliche geschwärmt hat: »Im traurigen Monat November war’s«. Wie lange hat sie keine gute Literatur mehr gelesen! In den vergangenen Monaten hat sie sich die Zeit mit Taschenbüchern vertrieben, die die Leute irgendwo abgelegt hatten. Einmal hat sie ein paar wirklich gute Bücher aus einem Papiercontainer gefischt. Richtig, die liegen immer noch im Auto, sie hat sie unter einen Sitz geschoben.

    Im zurückliegenden Winter, als sie noch auf Usedom lebte, hat sie nur gelesen, was sie für wertvoll hielt, die deutschen Klassiker, aber auch Remarque, Dürrenmatt, Thomas Mann, Fontane und Tucholsky. Manches im Flüsterton, anderes halblaut, die schönsten Gedichte und auch Hemingways »Der alte Mann und das Meer« hat sie ihrem Baby laut vorgelesen. Wenn klassische Musik einem Kind im Mutterleib gut tut, warum dann nicht Worte, die Freude machen und Wohlbefinden erzeugen? Wenn nicht, bekommt es wenigstens eine gebildete Mutter.

    Es war eine so schöne Zeit, vielleicht die beste ihres Lebens. Alle waren lieb zu ihr, nicht nur Myrna, die hat sich immer gekümmert. Robin vor allem, ihr schöner, kluger, heiß geliebter Mann. Sie haben sich so auf das Kind gefreut, sich so sorgfältig vorbereitet, sie hat auf ihre Gesundheit geachtet, alles war bestens, sie konnte es kaum erwarten, ihren Sohn im Arm zu halten. Gut, die Geburt dauerte sehr lange, die Schmerzen waren beinahe unerträglich, aber sagt man nicht, wenn das Kind da ist, wäre das alles vergessen? Was ist eigentlich passiert?

    Zuerst war alles wie erwartet, sie empfand Liebe und Zärtlichkeit, Stolz und ein überschwängliches Mutterglück. Endlich konnten sie nach Hause, der kleine Linus war kerngesund, er würde sich wohlfühlen in seinem Nest, seiner perfekten kleinen Welt. Ihm würde es an nichts fehlen, er sollte wohlbehütet aufwachsen, nicht so wie Luisa, die ihren Vater nicht gekannt und ihre Mutter viel zu früh verloren hatte.

    Aber er fühlte sich nicht wohl – er quengelte, er weinte, er schrie, sobald Luisa ihn in sein Bettchen legte. Also trug sie ihn mit sich herum. Wenn er einmal kurz einschlief, meist kurz nach dem Stillen, nutzte sie die Zeit, um schnell zu duschen. Manchmal kam sie den ganzen Tag nicht dazu. Sie hatte keine Zeit zum Kochen, aber sie hatte ohnehin keinen Hunger. Sie war völlig erschöpft, konnte sich auf nichts konzentrieren, eigentlich gar nicht mehr klar denken. Am liebsten hätte sie sich in ihr Bett verkrochen und nur noch geweint. Aber das Baby brauchte sie. Immer, ununterbrochen, Tag und Nacht. Robin war keine Hilfe. Er kam abends von der Arbeit nach Hause und wusste gar nicht, wen er zuerst trösten sollte, seine Frau oder sein Kind. Seine ständigen Redensarten – »Das ist normal.«, »Das geht vorbei.«, »Das geht allen Müttern so.« – reizten Luisa noch mehr. Als sie keine Milch mehr hatte, war sie erleichtert. Das Stillen war ihr unangenehm, manchmal schmerzhaft. Außerdem konnte sie jetzt, wenn sie dem Kind sein Fläschchen gab, kontrollieren, wie viel es trank und konnte Hunger als Ursache für das unablässige Schreien ausschließen. Und endlich konnte sie auch Tabletten gegen ihre ständigen Kopfschmerzen nehmen.

    Im Bus sitzend denkt Luisa zum ersten Mal intensiv über diese Zeit nach. Fast genau ein halbes Jahr ist es her und bisher konnte sie die Erinnerung an die ersten vier Wochen nach der Geburt ihres Sohnes erfolgreich verdrängen. Sie war nur eine dunkle Wolke in ihrem Gehirn, unwirklich wie ein Alptraum, manchmal ein Schreck, wenn sie unwillkürlich in einen Kinderwagen blickte oder ein Baby weinen hörte. Heute weiß sie, sie hätte Hilfe suchen, zu einem Arzt gehen müssen. Aber sie konnte ja nicht mal mit Robin darüber sprechen. Sie hat es versucht, aber er hat sie nur verständnislos angeblickt. Myrna hätte die Verzweiflung ihrer kleinen Schwester sicher gespürt, aber die hatte gerade selbst mehr als genug um die Ohren. Nach einem Autounfall, den sie verschuldet hatte, lagen sie und ihr schwer verletzter Mann lange im Krankenhaus. Dann waren sie endlich wieder zu Hause, aber Luisa konnte mit Myrna nicht über ihre Sorgen reden. Joe saß von nun an im Rollstuhl. Die beiden mussten umbauen, ihren Alltag völlig neu organisieren – dagegen erschienen Luisas Probleme so unbedeutend.

    Der Bus fährt jetzt durch Rostock, die Hälfte der Strecke ist bereits geschafft. Luisa betrachtet die hell erleuchteten Straßen und erinnert sich, dass sie früher in jedem Jahr mit Myrna hierher zum Weihnachtsmarkt gefahren ist. ›Ja, richtig! Es ist bald Weihnachten.‹ Im vorigen Jahr hat sie sich noch vorgestellt, wie toll es wohl sein würde, mit ihrem Kind Weihnachten zu feiern. Wie viel mag der Kleine davon schon mitbekommen? Sie sieht immer noch das kleine, schreiende Bündel vor sich, mit rotem Gesicht und offenem Mund, mit den Fäustchen in der Luft fuchtelnd, das sie am liebsten geschüttelt hätte, nur damit es einmal still wäre.

    Jetzt weiß sie wieder, warum sie damals geflohen ist. Es war panische Angst. Angst vor sich selbst, dass sie ihrem eigenen Kind etwas antun und ihm ein Kissen auf das Gesicht drücken oder es fallen lassen würde, nur damit es einmal ruhig wäre – irgendetwas Schlimmes, etwas Nichtwiedergutzumachendes. Oder sich selbst, sie hatte schon eine Packung mit Schlaftabletten in der Hand. Dann hätte auch ihr Kind ohne Mutter aufwachsen müssen. Aber vielleicht wäre das am besten für den Kleinen. Sie ist eine schlechte Mutter. Sie kann ihr eigenes Kind nicht lieben. Manchmal hat sie es gehasst und dann hat sie sich selbst gehasst für dieses Gefühl. Mit wem hätte sie darüber reden sollen? Über ihren Verdacht, das Baby wäre im Krankenhaus verwechselt worden, es war ihr so fremd, so empfindet man doch nicht für seinen eigenen leiblichen Sohn. Nein, sie ist einfach nicht normal, psychisch gestört, wahrscheinlich hätte man ihr das Kind weggenommen, um es vor ihr zu schützen. So ist es wenigstens bei seinem Vater, und Myrna kümmert sich sicher auch um ihren Neffen, so wie sie sich immer um ihre kleine Schwester gekümmert hat.

    Darüber hat sie aber erst viel später nachgedacht. Damals im Mai war es ein spontaner Entschluss. Der Kleine hatte den ganzen Tag geschrien, sie hatte Kopfschmerzen, die Tabletten halfen nicht mehr. Dann kam Robin nach Hause. Er nahm den Kleinen auf den Arm, redete leise zu ihm und das Kind war ruhig. Es schien sogar zu lächeln, unfassbar.

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