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Ju Allambee: Mellis Reise auf den Kontinent der Weisheit
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eBook258 Seiten3 Stunden

Ju Allambee: Mellis Reise auf den Kontinent der Weisheit

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Über dieses E-Book

Der erste Teil einer Fantasiereihe zum Thema psychische Entwicklung und Grenzerfahrungen. Melli begibt sich auf die Reise ins große Unbekannte. Sie erlebt spannende Abenteuer, muss schwere Prüfungen bestehen und begegnet Wesen, die sie noch nie zuvor gesehen hat. Das alles lässt sie auf dem Weg zum Ziel menschlich reifen. Ein Buch für Fantasyfreunde und Interessierte ab elf Jahre.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Jan. 2017
ISBN9783961127832
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    Buchvorschau

    Ju Allambee - Astrid Schäfer

    Traum?

    Kein Morgen wie jeder andere

    Melli? Melliii! rief Mama aus dem Flur, Ich gehe mit Fips raus, eine Viertelstunde, frühstückst du zu Ende? Und Melli? ... Kratz nicht an der Butter....

    Ja, murmelte Melli und kratzte in Gedanken mit dem Messer schon Schiffe, Mäuse und Kamele in die Butter.

    Eigentlich hieß sie ja Melinda und war elf, aber Mama nannte sie Melli, seit sie denken konnte und sie nannte Mama Mams. Mams deswegen, weil die Frau im Lebensmittel-geschäft aus Holland kam und Ans hieß. Das fanden sie beide oberwitzig und Melli hatte Mama nach vielem Gelächter einfach umgetauft. Der einzige Mann im Haus war Fips, ein zotteliger, gutmütiger Mischling. Mit ihm ging Mams jeden Morgen an die frische Luft, während Melli gemütlich zu Ende frühstückte. Ihr Vater, das wusste Melli, war gegangen, als sie noch gar nicht geboren war, aber sie fragte Mams nie danach, denn dann bekam sie komische rote Flecken und ließ das Rührei anbrennen. Melli mochte kein angebranntes Rührei. Jedenfalls sagte Mams jeden Morgen, bevor sie die Tür hinter sich zu zog, dass Melinda nicht an der Butter kratzen solle. Aber an der goldgelben Butter, die soo einladend, glänzend und verformbar immer in der Mitte des Tisches stand, so dass man schon von weitem den Ansatz von Schildkröten, Tigern und Schnecken sehen konnte, an dieser Butter ging für Melli kein Weg vorbei. Na ja, Mams schimpfte sowieso nie, weil dazu auch gar keine Zeit mehr war, wenn sie durchgefroren mit Fips in der Tür erschien. Dann musste es nämlich schnell gehen, damit Melli rechtzeitig in der Schule und Mams pünktlich bei der Arbeit war.

    Melli mochte die Schule nicht besonders, sie fand es dort langweilig und sehr unbunt. Überhaupt war gerade alles  total langweilig. Ihre Freundin Sonny war vor den Ferien in eine andere Stadt gezogen und die große Lücke, die sie hinterließ, wurde in der Schule besonders deutlich. Also genoss sie die Minuten Aufschub jeden Morgen und zog die Butter unauffällig näher zu sich heran, bis die Tür hinter ihrer Mutter ins Schloss fiel.

    Aber heute war etwas anders, ganz anders... Schon vorhin, als Mama noch an ihrem Kaffee genippt und von ihrer Freundin erzählt hatte, rauschte ein kurzes Funkeln über die Butter, so dass Melli die Augen zusammen kneifen musste. Und jetzt schien sich das Messer, das sonst so leicht die Figuren und Formen in die Butter zog, zu sträuben. Es lag schwer wie Blei in Mellis Hand. Zögernd und seltsam berührt, verwischte sie Schiffe, Kamele und Mäuse und schob die Butter langsam, mit den Fingerspitzen, wieder ein Stück von sich fort.

    Und diesmal schien es ihr, als könne sie klar im Glanz des Fettes Berge, Seen und Wälder erkennen. Zwischen den Bergen bewegte sich ein kleiner Punkt, noch weit entfernt. Er kam näher und wurde größer und größer, genau wie Mellis Augen und ihr Mund, der sich langsam öffnete.

    Und was dann geschah, war so unglaublich, so fantastisch, dass sie alles wie einen kostbaren Schatz in ihrem Herzen einschloss und es erst viele Jahre später ihren eigenen Kindern erzählte.

    Es erhob sich aus der goldenen Butter ein kleiner Vogel. Melli sah ihn erst nur von hinten, die Schwingen eines Adlers und das funkelnde Gefieder. Nach einer Runde durch die Küche landete er direkt neben ihrer Kakaotasse. Als er die Federn schüttelte, wie am Ende einer langen Reise, verteilte sich glitzernder Staub auf Mellis Armen und Gesicht.

    Hatschi..., nieste Melli und wischte sich die schimmernde Nase, während sie staunend bemerkte, dass der schöne Vogel, der nun im Begriff war, vom Tisch auf den Fußboden zu hüpfen, zu wachsen begann. Er wurde zu einem stolzen, prächtigen Tier.

    Wer bist du?, hauchte sie.

    Er wandte seinen mächtigen Kopf. Melli sah einen gewaltigen Schnabel, der zu lächeln schien. Augen wie schwarze Perlen, die hinter ihrer Oberfläche Güte versprachen, schauten sie an. Wo das Licht in sie hinein fiel, schillerte ein Regenbogen. Als der Vogel zu sprechen begann, war seine Stimme kraftvoll, warm und tief, voller unbekannter Melodien.

    Ich bin Winston Nelson Archimedes Chesterton, aber du kannst mich einfach Wins nennen.

    Ach so..., lächelte Melli, Wins... und nun musste sie sogar grinsen, woraufhin Wins die linke Augenbraue hob und sie streng musterte.

    Wer hat dir denn diese vielen Namen gegeben?

    Mit den Augen verfolgte sie den Vogel, der sich ein paar Federn zurecht zupfte und ein wenig hin und her stolzierte. Währenddessen nahm er ständig an Größe zu, bis Melli zu ihm aufsehen musste. Sein Kopf beugte sich jedoch plötzlich zu ihr herab und sein Schnabel flüsterte:

    Eine gute Frage, jedes Lebewesen hat Fragen, die beantwortet werden wollen.

    Und dann um einiges lauter:

    Steig auf! Ich bringe dich nach Ju Allambee, auf den Kontinent der Weisheit!

    Ob es der Zauber des Augenblicks war? Oder der Ausdruck in Wins Augen? Für Melli bestand in diesem Moment kein Zweifel daran, dass es nichts mehr zu entscheiden gab, sie gehorchte einfach. Ohne nachzudenken machte sie sich auf den Weg, um auf den Rücken des riesigen Vogels zu gelangen. Sie kletterte durch die weichen und gleichzeitig kräftigen Federn, deren Schäfte ihr nun so dick vor kamen wie Äste, an denen sie sich festhalten konnte. Melinda spürte die Wärme, die der Körper des Tieres ausströmte und fühlte sich geborgen und sicher, als sie schließlich bis zum Flügelansatz empor gestiegen war. Dort konnte sie Wins Kopf und seine glänzenden Augen aus der Nähe betrachten, während er sich umdrehte und ihr zu raunte:

    Halte dich gut fest, es geht gleich los!

    Als es um sie herum zu rauschen und zu wogen begann, rief Melli erschrocken:

    Was ist das?, bis sie begriff, dass sie gemeinsam mit Wins zu schrumpfen begann.

    Die prächtigen Flügel neben ihr kamen in Bewegung und wurden ausgebreitet, um abzuheben. Das Mädchen fühlte nur einen leisen Ruck, als ihr neuer Freund sich vom Boden ab stieß. Kurz schreckte sie ein wenig zusammen und schaute den Bruchteil einer Sekunde zurück. Dann jedoch legte sie sich  eng an die warmen Federn, um bei jedem Flügelschlag gemeinsam mit dem Vogel kleiner und kleiner zu werden.

    Wins flog eine Runde durch den Raum und anschließend gezielt auf die Butter zu, in die er mit Melli eintauchen wollte.

    Oh nein, das wird bestimmt weh tun..., schoss es dem Mädchen durch den Kopf. Ängstlich hielt Melli die Luft an. Doch es war nicht das leiseste Zippen zu fühlen, eher ein weiches Schwappen auf der Haut, bevor sie klare Bergluft einatmete, der Wind ihr die Haare zerzauste und sie steile Felswände an sich vorbei fliegen sah.

    Jippi, jauchzte Melli mit dem Wind und breitete die Arme aus, während sie die Weite und Größe der Landschaft in sich aufnahm. Sie konnte sich gar nicht satt sehen an glasklaren Bergseen und schneebedeckten Gipfeln.

    Wo fliegen wir denn genau hin? Was machen wir dort?, rief sie nach vorne.

    Warte es ab und halt dich fest!, kam die Antwort zurück.

    Bald schon ließen sie das Gebirge hinter sich, das Land wurde flacher und die Luft wärmer. Wälder erstreckten sich unter ihnen. Sie wurden dichter und undurchdringlicher, so dass die Erde kaum noch zu sehen war. Wins flog einen ganzen Tag, doch Melli merkte es gar nicht, die Zeit lief anders in dieser Welt. Als es dämmerte, steuerte der Vogel auf eine winzige Lichtung zu und setzte zur Landung an. Sobald er sicher auf dem Boden stand, sprang Melli von seinem Rücken und purzelte auf einen dicken, grünen Moosteppich, auf dem sie sich der Länge nach ausstreckte.

    Oh, ist das weich, seufzte sie, so ein Moos gibt es bei uns gar nicht....

    Über sich, in den Zweigen der angrenzenden Bäume, konnte sie Eichhörnchen entdecken, die munter hin- und her sprangen. Vogelgesang umgab sie und als sie sich auf den Bauch drehte, entdeckte sie große Käfer mit schillernden Panzern in sattem Grün und leuchtendem Orange, die geschäftig über den Boden eilten. Melli beobachtete die Tiere fasziniert, bis sie müde wurde und ihr die Augen zu fielen.

    Als das Mädchen erwachte, schien es mitten in der Nacht zu sein. Sterne standen an dem Fleckchen Himmel, welches sie sehen konnte. Die Dunkelheit des Waldes war undurchsichtig geworden. Trotzdem fror sie nicht.

    Nanu, bemerkte Melli überrascht, es hat mich ja jemand zugedeckt, das habe ich gar nicht mit bekommen!

    Vorsichtig schob sie die Decke zur Seite und richtete sich auf.

    Ganz in ihrer Nähe knisterte und prasselte ein Feuer. Der Duft von Stockbrot und gebratenem Fleisch stieg ihr in die Nase. Knurrend meldete sich ihr Magen, doch sie konnte sehen, dass Wins nicht mehr allein war und so traute sie sich nicht, sich zu rühren. Der Vogel unterhielt sich im Schein des Feuers leise mit einer Gestalt, deren Körperbau durch einen langen Lodenmantel mit einer dichten Kapuze fast vollständig verhüllt wurde. Unter dem Mantel lugten jedoch ein paar merkwürdige Fellstiefel hervor.

    Der Länge nach haben die Füße eine normale menschliche Größe, aber ob es ein Mensch ist, was ich da sehe?, überlegte Melli.

    Die Seitenteile der Stiefel waren mit mehreren, übereinander liegenden Schnallen besetzt, in deren Mitte jeweils ein ovaler, hellblauer Stein saß. Auch Hände konnte das Mädchen ausmachen, lange, schmale Hände, die nun geschickt die Spieße mit dem Fleisch wendeten und das Brot von den Stöcken lösten.

    Melinda, Kind, komm zu uns, du wirst hungrig sein!, erlöste sie Wins aus der Erstarrung und sie stolperte verlegen zum Feuer, wo ihr die schlanken Hände Brot, Fleisch und eine bauchige Flasche reichten.

    Danke..., murmelte Melli schüchtern.

    Solch eine Flasche hatte sie noch nie gesehen und die Köstlichkeit und Frische des unbekannten Inhalts überraschte sie.

    Niemand redete und Melinda stellte keine Fragen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Wins schließlich das Wort ergriff. Melli entfuhr ein erleichterter Seufzer, denn sie fühlte sich verunsichert durch das lange Schweigen und die Undurchdringlichkeit der Kapuze. Jedes Mal, wenn ein Stück Brot oder Fleisch im Mantel verschwunden war, hatte sie versucht, einen Blick auf das darunter liegende, verborgene Gesicht zu erhaschen, doch es war ihr nicht gelungen.

    Das hier ist Celestino Fernandez, verkündete Wins, er hat die Erlaubnis bekommen, in diesem Zeitabschnitt unserer Welt die verborgenen Tore zu passieren. Deine Aufgabe ist es, ihn zu begleiten.

    Und bevor Melli auf seine Worte reagieren konnte, wandte er sich an die Gestalt im Mantel:

    Celestino, wir sehen uns morgen bei Sonnenaufgang, ich habe die kleine Dame noch vorzubereiten.

    Celestino nickte wortlos, erhob sich und verschwand ohne sich um zu drehen zwischen den Bäumen in der Dunkelheit.

    Melinda verfolgte ihn mit den Augen, so lange es möglich war. Gerade wollte sie Wins mit den Fragen überschütten, die in ihr brodelten, da befahl er ihr schon, einen brennenden Holzscheit aufzuheben und ihm zu folgen.

    Wins!, keuchte Melli, während sie ihm hüpfend über das Moos hinterher eilte, um ja niemanden zu zertreten, der in dem weichen Geflecht wohnte.

    Ich muss dich so viel fragen! Was hat Celestino unter der Kapuze und warum spricht er nicht und was sind die verborgenen Tore? Wo gehen wir hin und was machen wir morgen früh? Ist Celestino ein Mensch? Ist er nett?

    Wins lächelte, hielt aber erst an, als sie eine große Birke erreichten. Es schien die einzige Birke weit und breit zu sein, denn ihre weiße Rinde hob sich fast leuchtend von der sonstigen dunkelbraunen, zur Einheit gewordenen Masse ab. Berühre den Baum, deine Fragen werden sich gleich klären. sagte der stolze Vogel.

    Melli sah direkt in seine perlgleichen Augen, deren Tiefe noch tiefer zu werden schien. Sie spürte kribbelnde, erwartungsvolle Spannung in sich aufsteigen und die deutliche Gewissheit, dass hier an diesem weißen Stamm das Abenteuer erst richtig los ging.

    Bei Tschindellika

    Langsam hob sie die Hand und berührte mit den Fingerspitzen die glatte, kühle Rinde. Sogleich begann das Weiß zu verschwimmen, es hob ein Wabern und Zittern an. Melli sprang erschrocken mit einem Satz zurück.

    Wins, was passiert hier!, platzte es entgeistert aus ihr heraus.

    Der Holzscheit rutschte aus ihrer Hand und erlosch sofort, als er den abendfeuchten Boden berührte. Melli hielt sich die Augen zu, bis Wins ihre Schulter aufmunternd mit dem Schnabel anstupste, da lugte sie vorsichtig durch ihre Finger und sah, was passiert war. Der dünne Baum hatte sich verbreitert, eine Öffnung gebildet und gab nun den Blick auf einen schmalen, niedrigen Gang frei. An den kahlen Wänden hingen winzige, bunte Laternen, hinten führte eine enge Treppe in die Tiefe.

    So, hörte sie Wins sagen, hier trennen sich vorerst unsere Wege. Steige dort hinunter, du wirst alles finden, was du brauchst, nur Mut.

    Aber warum kommst du nicht mit? Wir haben uns doch gerade erst kennen gelernt! rief Melinda ängstlich und etwas verzweifelt und nun hörte sie ihn das erste Mal lachen.

    Ein dunkles, kullerndes, hopsendes Geräusch tief aus seiner Kehle, das seine Antwort fast erstickte.

    Ganz einfach Kind, ich passe nicht hindurch.

    Dann breitete er schnell seine Flügel aus und verursachte einen Sturm, als er abhob. Melinda war gezwungen, Schutz in dem engen Gang zu suchen. So bemerkte sie gar nicht, wie nah sie schon der ersten Treppenstufe war, als die weiße Rinde wieder zusammen waberte und sie im Inneren des Baumes ein schloss. Melli war allein.

    Nein! Wins!, keuchte sie entsetzt.

    Zunächst versuchte das Mädchen instinktiv wieder hinaus zu gelangen und hämmerte mit den Fäusten von innen gegen das Holz, doch als sie einsah, dass der Baum nicht mehr nachgab, drehte sie sich um und betrat entschlossen die steile Treppe.

    Na gut, sagte sie laut, um sich Mut zu machen, dann will ich mal sehen, wo du hin führst.

    Über ihr hingen kleine Äste und verschlungene Röhren, die irgendwo im Nichts zu verschwinden schienen. Wasser lief in kleinen Rinnsalen die Wände entlang. Eine Horde Kellerasseln stob vor ihren Füßen auseinander. Die Stufen senkten sich kurvig wie eine Wendeltreppe in die Tiefe. Melli begann hinab zu steigen. Sie lief und lief, eine Windung und noch eine.

    Ist diese Treppe etwa endlos?, dachte sie gerade, als ihr plötzlich angenehm vertraute Düfte in die Nase stiegen.

    Zimt und Nelken, aber auch Lavendel und das Aroma von frischem Basilikum und Zitronenmelisse konnte sie riechen. Hier unten wohnt ja jemand!, staunte sie.

    Neugierig beschleunigte sie ihre Schritte. Und tatsächlich, der Abstieg endete nach wenigen Stufen.

    Vor ihr lag ein kleiner Tunnel, an dessen Ende Melli eine Hauswand erkennen konnte. Zwei kleine erleuchtete Fenster und eine Haustür waren das einzig Sichtbare, der Rest der Behausung schien komplett mit dem Holz des Baumes verschmolzen zu sein. Melinda schlich sich heran und lugte vorsichtig zwischen den karierten Gardinchen hindurch. Sie sah eine niedliche, wundersame Stube. Einen runden Teppich in der Mitte, einen gemütlichen Ohrensessel an der Seite, ein hohes Regal mit allerlei seltsamen Krimskrams und wohl hunderte von Büchern. Auf der anderen Seite stand ein altmodischer Ofen und dort, links, war noch eine Tür, die sich gerade jetzt öffnete.

    Huch!, entfuhr es Melli, doch rasch presste sie sich die Hände vor den Mund.

    Heraus kam eine kleine, runde Frau mit roten Pausbacken und einer ziemlich großen Knollnase. Kleine blaue Augen hatte sie und ein gepunktetes Kopftuch auf dem Kopf, das gerade verrutschte. Ein rotes Eichhörnchen turnte munter und frech auf ihrem Haupt herum. Schnell und geschickt hatte sie es mit ihren knubbeligen Händen gepackt und in ihrer Schürzentasche verstaut, wo es so lange herum wühlte, bis sein verstrubbeltes Köpfchen wieder oben heraus guckte. Limetto, schimpfte sie, benimm dich!.

    Anschließend schlurfte sie in riesigen Pantoffeln zum Ofen, rührte in einem großen Topf und begann ein lustiges Lied zu singen. Die Melodie war so fröhlich, dass Melli sie gleich leise mit summte, bis sie den Text verstand und ihr klar wurde, dass diese kleine, urige Frau längst wusste, dass sie hinter dem Fenster stand. Noch einmal hörte sie:

    Tschin, Tschin, Tschindellika,

    selten zu sehen, doch immer da,

    hörst du es rascheln und knistern im Wald,

    ist es Tschindellika, wachsam und alt.

    Ohren hören, Augen sehen,

    Boten huschen übers Moos,

    will ein Menschlein in die Wälder,

    zieht es in der Frühe los.

    Und ist sein Weg auch noch so weit,

    Tschindellika weiß schon Bescheid.

    Tschin, Tschin, Tschindellika,

    selten zu sehen, doch immer da,

    hörst du es rascheln und knistern im Wald,

    ist es Tschindellika, wachsam und alt.

    Flüstern, singen, hört man Stimmen,

    Asseln laufen auf und ab,

    die Trepp` hinab, sie ist fast drinnen,

    nun drückt sie sich das Näslein platt.

    Da staunst du Mädchen, hübsch und fein,

    Tschindellika holt dich herein!

    Prompt pustete ein derart starker Wind durch den Gang, dass die kleine Haustür mit einem heftigen Ruck auf geschleudert wurde und Melinda wie ein hilfloses Herbstblatt, mit Purzelbaum und Überschlag, unsanft auf den runden Teppich geschubst wurde. Das Kind rappelte sich auf, schob die langen, zerzausten Haare vor den Augen auseinander und schaute direkt in das breit lächelnde Pfannkuchengesichtchen von Tschindellika und die blinkenden Knopfaugen von Limetto. Er bewegte sein Näschen heftig schnuppernd auf und ab. Melli riss sich zusammen, sagte höflich Guten Tag und streckte die Hand aus, die von Tschindellika genommen und äußerst kräftig geschüttelt wurde.

    Gutes Kind, gutes Kind, genau richtig bist du!, murmelte die alte Frau und zog flink ein Maßband aus der Schürzentasche.

    Sie packte Melli resolut bei den Schultern, drehte sie nach links und rechts, bog sie nach vorne und hinten, danach betastete sie ihre Füße und vermaß ihren Kopf. Limetto wieselte derweil in Melindas Taschen herum, wirbelte durch ihre Haare und knabberte an ihren Ohren. Melli hatte nicht genug Zeit, um ärgerlich zu werden, fragte sich aber ernsthaft, wie sie bei dieser merkwürdigen Frau Antworten auf ihre Fragen erhalten sollte. Doch da ließ diese von ihr ab, sah ihr freundlich in die Augen, pflückte das Eichhorn aus ihren Haaren und sagte liebevoll:

    Verzeih' meine Eile, gutes Kind, aber uns bleibt nur wenig Zeit bis zum Sonnenaufgang und ich möchte dir alles mitgeben, was ich Wertvolles für dich habe. Schau, da drüben, im Regal, dort stehen sieben erdfarbene Bücher, die dich auf deiner Reise begleiten. Nimm' das Erste mit dem weißen Siegel. Das ist deine Kleidertruhe. Nur du kannst sie öffnen, niemand sonst.

    Melli suchte das Buch und fuhr mit den Fingern erst über den weichen Ledereinband, dann über das Siegel. Anschließend drückte und drehte sie es vorsichtig, bis sie ein leises Geräusch vernahm und der Verschluss sich mühelos öffnen ließ. Auf der Stelle hüpfte das Buch aus ihrer Hand und begann zu wachsen, wie sie es bei Wins schon gesehen hatte. Als es groß genug war und schon an die anderen Möbel stieß, konnte Melli es wie eine Truhe öffnen, um die Kleidung zu bestaunen, die sich ordentlich und gepflegt vor ihr ausbreitete.

    Als erstes entdeckte sie die Fellstiefelchen, hellkaninchengrau, mit übereinander liegenden Schnallen und hellblauen Steinen. Eine genaue Nachbildung

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