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Spiel auf Zeit: NS-Verfolgte und ihre Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung
Spiel auf Zeit: NS-Verfolgte und ihre Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung
Spiel auf Zeit: NS-Verfolgte und ihre Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung
eBook505 Seiten5 Stunden

Spiel auf Zeit: NS-Verfolgte und ihre Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung

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Über dieses E-Book

In eindringlichen Porträts ausgegrenzter NS-Verfolgter, die für unaufgearbeitete Verbrechen des Nationalsozialismus stehen, schildern die preisgekrönten Reportagen des Autorinnen-Duos deren bis heute andauernden Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung. Die Politik der Bundesrepublik Deutschland gilt in der öffentlichen Wahrnehmung weltweit als Modell einer gelungenen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Dabei hat die Mehrheit der NS-Verfolgten nie eine Entschädigung erhalten.
»Nina Schulz und Elisabeth Mena Urbitsch haben es sich zur Aufgabe gemacht, die ›offenen Rechnungen‹ der deutschen Erinnerungspolitik an Einzelschicksalen darzustellen« (Irene Stuiber in der Laudatio zur Verleihung des Alternativen Medienpreises 2015).
SpracheDeutsch
HerausgeberAssoziation A
Erscheinungsdatum28. Juli 2016
ISBN9783862416219
Spiel auf Zeit: NS-Verfolgte und ihre Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung
Autor

Nina Schulz

Mein Name ist Nina und ich lebe meine Leidenschaft als Kochbuchautorin mit vollem Herzen aus. In jeder Zeile meiner Bücher steckt meine unerschütterliche Begeisterung für die Kunst des Kochens. Mit jedem neuen Kochbuch, das ich veröffentliche, teile ich meine Liebe zum Essen und meine persönlichen Geschmacksexperimente mit einer stetig wachsenden Leserschaft. Meine Rezepte sind darauf ausgelegt, dass jeder sie leicht nachkochen kann, unabhängig von seiner Erfahrung in der Küche. Ich gebe detaillierte Anleitungen und praktische Tipps, damit jeder die Freude und den Stolz erleben kann, ein köstliches Gericht aus eigenen Händen zu zaubern.

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    Buchvorschau

    Spiel auf Zeit - Nina Schulz

    2014.

    Slowenien Warum Tone Kristan Angela Merkel nicht zu ihrer Wiederwahl gratuliert Die slowenische »Vereinigung der Okkupationsopfer 1941–1945, Kranj« erinnert seit Jahren daran, dass Deutschland bisher keine Entschädigungen für ihre Zwangsarbeit und Verschleppungen gezahlt hat.

    Tone Kristan im Büro der slowenischen »Vereinigung der Okkupationsopfer 1941–1945, Kranj«

    Damals hat Tone Kristan Angela Merkel gratuliert. Zur gewonnenen Bundestagswahl 2009. Mit einer Flasche Sliwovitz. Und sie an die ausstehenden Entschädigungszahlungen erinnert. Die Antwort des Bundeskanzleramtes: Der Sliwovitz sei von guter Qualität. Das war alles. Kein Wort zu den Entschädigungsforderungen, um die die slowenische »Vereinigung der Okkupationsopfer 1941–1945, Kranj« (Združenje Žrtev Okupatorjev 1941–1945, Kranj) seit 1997 kämpft.

    Der 84-jährige Initiator und ehemalige Präsident des Vereins, Tone Kristan, beugt sich in einem der schwarzen Kunstledersessel des Konferenzraums nach vorne, faltet die Hände und schmunzelt, während er die Anekdote erzählt. Er trägt eine helle Hose, ein sportliches, kariertes Kurzarmhemd und eine schwarze Schiebermütze. An diesem Morgen im August 2013 sind sechs weitere Mitglieder der Vereinigung in die Räume der Stadtverwaltung in Kranj gekommen. Im Erdgeschoss befindet sich ihr Büro, zwischen dem der Jugendorganisation »Jugendslowenien-Mladina Slovenije« links und dem des Partisanenverbandes rechts. Die Einrichtung ist spärlich. Auf einem der Holzschreibtische aus den 1970er Jahren steht prominent ein Faxgerät. Computerbildschirm und Drucker sind mit kurzen Decken abgehängt. Kleine Magneten mit der Queen Mary 2, dem Hamburger Hafen und dem Leuchtturm von Westerhever schmücken den Kabelkanal an der Wand. Holzvertäfelung an den Seitenwänden. Kassettendecke aus Styropor. Der Büroraum ist zu klein für das Treffen, deswegen gehen wir in das Konferenzzimmer nebenan.

    Zu Beginn der Sitzung werden historische Fakten richtiggestellt. Bisher galt Hitlers Rede in Maribor am 27. April 1941 als Auftakt der nationalsozialistischen Vernichtungs- und Vertreibungspolitik in Slowenien. »Macht mir dieses Land wieder deutsch«, hatte der Befehl gelautet. Jetzt hat Tone Kristan erfahren, dass Hitler die Rede in Graz gehalten hat. Am 26. April 1941. Das nehmen die Anwesenden interessiert zur Kenntnis. Die meisten von ihnen sind erst im Exil geboren, in den Lagern. Sie erinnern sich nur an den Rücktransport nach Jugoslawien. Die Viehwaggons. Die Freude, als sie wieder ihre eigene Sprache sprechen und hören können. Slowenisch.

    Allen Anwesenden ist es wichtig, dass an die Okkupationszeit von 1941– 1945 und die Vertreibung erinnert wird. »Warum gibt es Krieg? Warum hat der Krieg diese Grausamkeiten mitgebracht?«, wirft Janko K. als Fragen auf. Antworten gibt es keine. »Sie sind noch nicht zu Ende diskutiert«, sagt er. Auf der einen Seite stehe das Interesse zu erinnern. Auf der anderen das zu vergessen. Auch in Slowenien. Die ehemaligen Kollaborateure nützten immer noch jede Möglichkeit, die Kommunisten und die Partisanen zu beschimpfen. »Es ist unmöglich, das voneinander zu lösen. Immer gibt es beim Erinnern ein Kontrainteresse. Mit den wechselnden Regierungen kommt eine andere Politik. Deshalb sind Historiker und Historikerinnen wichtig, die die Dinge bearbeiten«, führt er aus. Deutschlands Umgang mit den slowenischen Entschädigungsforderungen charakterisieren die Anwesenden als »unhöflich«. »Deutschland soll die Entschädigungen bezahlen. Und Frau Merkel sich für die Verzögerung entschuldigen und anerkennen, dass wir Opfer sind.« Von 180.000 Opfern geht die Vereinigung aus. Tone Kristan ist eines von ihnen.

    Orte des Geschehens

    In einer bewaldeten, bergigen Gegend im Südosten Sloweniens befinden wir uns am Ort des Geschehens. Tone Kristan erzählt anschaulich, genau. 13 Jahre ist er alt, als er alles verliert. Er putzt gerade das Fahrrad der Familie, als die Deutschen über die Alpen anfliegen. »Ab da war an Fahrradfahren nicht mehr zu denken.« Jetzt steht er in der Morgensonne auf einem Balkon. Dort, wo früher sein Elternhaus stand. Deutet mit seinem rechten Zeigefinger gen Horizont. Richtung Alpen. Dort, wo heute die Grenze zwischen Österreich und Slowenien verläuft. Ein Reh springt aufgescheucht aus den Rebstöcken. Rauchschwalben jagen durch die Luft nach Insekten, zwitschern während ihrer akrobatischen Flugübungen. In der Ferne rattert eine Zementmaschine. Ein Hahn aus Ton ziert die Giebelspitze der kleinen Scheune gegenüber. Er ist das Markenzeichen der Region. Die ländliche Legende dazu: Kein Mädchen singt schöner als unser Hahn. Der Belag der Straße ist hier oben aus Schotter. Gewunden führt sie vorbei an Apfelbäumen, Weinbergen, Wäldern, Gewächshäusern. 100 Kilometer südöstlich von Ljubljana in Slowenien. Idyllisch wirkt der Landstrich. Fast friedlich.

    Anfang April 1941 zieht hier und im Rest des ehemaligen Jugoslawiens der Krieg ein. Monate später stoppt ein Laster mit deutschen Soldaten vor dem Haus der Familie Kristan. Es ist der 25. Oktober 1941. Das Mittagessen steht auf dem Tisch. »Sie haben eine Stunde, um ihre Sachen zu packen und auf dem LKW zu sein.« So lautet der Befehl. Das Mittagessen bleibt unangerührt. Der jüngere Bruder möchte den Hund mitnehmen. Verboten. Tone Kristan hat den Sommer über gearbeitet, gespart, sich ein neues Paar Schuhe gekauft. Die nimmt der örtliche Kollaborateur, der »Dolmetscher«, mit. Am Hauseingang liegen drei Decken. Tone greift geistesgegenwärtig danach. Rollt sie zu einem Bündel zusammen. Für die Fahrt. Für die Mutter. Deren Wirbelsäule ist gebrochen. Gerade erst ist sie nach einem achtmonatigen Krankenhausaufenthalt nach Hause gekommen. Er denkt an die Schlaglöcher. An die Schmerzen der Mutter. Dann sieht die Familie ihr Zuhause zum letzten Mal.

    Die Gebiete Sloweniens, die unter nationalsozialistische Herrschaft geraten, sollten besonders schnell und gründlich »germanisiert« werden. Die slowenische Sprache wurde ausgelöscht. Menschen rassistisch untersucht. Registriert. Nach der NS-Rassentheorie klassifiziert. Selektiert zur »Eindeutschung«

    Im Südosten Sloweniens, dort, wo früher Tone Kristans Elternhaus stand.

    im »Altreich« oder vertrieben in andere Länder, damit »Volksdeutsche« an ihre Stelle treten. Festgenommen. Verhört. Deportiert. In Konzentrationslager gebracht. In Straflager. In Arbeitslager. Ermordet.¹

    Nummern

    In der Nachmittagssonne thront das restaurierte Brestanica, die ehemalige Reichenburg, auf dem Berg über der Straße, am Fluss Save. Tone Kristan hält an, steigt aus, deutet auf das Schloss. Seine rechteckige Brille tönt sich im Sonnenlicht. Im Oktober 1941 kommt Familie Kristan in die damalige Reichenburg, die zur Sammelstelle umfunktioniert ist, zum zentralen Durchgangslager für die Deportationen der slowenischen Bevölkerung. Dort wird alles erfasst. Dort übergeben sie ihre Ausweise. Ihre Wertpapiere. »Dann haben wir eine Blechnummer um den Hals gekriegt. Ab da waren wir keine Menschen mehr, nur noch Nummern.« Eine Nummer. Eingestanzt auf einer Metallmarke. Mit Paketband um den Hals befestigt. Tone bekommt die Nummer 2422. Er und seine Familie verlassen Brestanica nach zwei Tagen, mit dem zweiten Transport, der nach Deutschland geht. Heute kommentiert Tone Kristan sarkastisch: »Die Reichenburg war für den Export und Import.« Dank der Überredungskunst des Vaters, der auf die angeschlagene Gesundheit seiner Frau aufmerksam macht, bekommen sie ein Abteil im Personenwagen und müssen nicht in die Viehwaggons. Die drei Decken dienen als spartanische Schutzpolster für die Mutter. Nach zwei Tagen fast ohne Verpflegung kommt Familie Kristan am 1. November 1941 in Breslau an. Um ein Uhr nachts. »Nach einigen Tagen habe ich das erste Mal wieder eine Uhr gesehen. Die Bahnhofsuhr in Breslau werde ich nie vergessen.« Sie werden wieder auf LKWs verladen und über die Oder gefahren. »Es war kalt wie Teufel.« Für ihn und seine Familie beginnt ein langer Leidensweg durch verschiedene Lager. Als »Volksdeutsche Mittelstelle« werden die Lager für die Vertriebenen im Deutschen Reich bezeichnet. 249 gibt es davon in Deutschland, 45 in Schlesien und 11 in Österreich.²

    Sie landen im Lager in Breslau, einem ehemaligen Kloster, bekommen Strohsäcke, suchen sich einen Platz in einem großen Raum. »Die Polizei drückte immer mehr Leute in den Raum. Das war fürchterlich. Wir haben dort fast aufeinander gelegen. Hatten Hunger und Durst. Kinder haben geweint. Andere gejammert.« Sie müssen das Gebäude für die Deportierten einrichten, Mobiliar verschieben, den Hof sauber machen. Dann erstellen die Behörden Listen mit arbeitsfähigen Personen und ihren Qualifikationen. Zwei Monate sind sie dort. Am 16. Januar 1942 wird Tone Kristan dem Gartenbaubetrieb Rabin zugeteilt, arbeitet am Rand der Stadt, am Hauptfriedhof, ohne Bezahlung. Als Tagesration bekommt der 13-Jährige »ein Stück Brot, durch das man hindurchsehen konnte, manchmal einen Apfel«. Im Sommer beobachten er und seine Kollegen, wie Soldaten und Gefangene auf dem Friedhof ein großes Loch graben. Erklären können sie es sich nicht. Bis eines Tages LKWs vorfahren. »Und dann waren darin Menschenleichen. Das waren viele. Es war ein Massengrab.« Er und seine Kollegen haben Glück. Sie werden nicht gesehen.

    Am 20. Januar 1943 wird er ins Lager Juppendorf verlegt, das ehemalige Schloss Guhrau, und im Ort mit zwei Kollegen dem Elektrobetrieb Max Schumann zugeteilt. Seine Kollegen werden nach einem Monat versetzt. Zuerst verhält sich sein Chef brutal und unmenschlich. Dann arbeitet er aber immer mehr mit Tone Kristan zusammen, holt ihn nachts mit seinem Motorrad, einer alten Puch 250, aus dem Lager ab, wenn wieder einmal die Elektrik in der örtlichen Molkerei ausfällt. Kristans Chef arrangiert, dass Tone Kristan in das Haus der Familie umziehen darf. Die Auflage: wöchentliche Meldung bei der örtlichen Polizei. Kontrollen am Arbeitsplatz finden ebenfalls statt. »Aber ich war zufrieden. Sie haben mich nicht wie irgendeinen Clochard behandelt. Die jüngere Tochter hat mir Deutsch beigebracht. In dieser Situation habe ich noch Glück gehabt.« Mit seinem Chef elektrifiziert er Höfe und Häuser, außerdem sind sie für die Betriebswerke zuständig. Er lernt, wie Drähte bezeichnet werden, was der Unterschied zwischen einer Zwick- und einer Kombinationszange ist, wie ein Drahtdurchmesser berechnet wird. Auf einmal heißt es umsiedeln. Tone Kristans Eltern und Bruder sollen nach Klein-Kloden. Ein erneuter Bruch. Er hat Angst und will mit. Dann erfährt er, dass es nur zehn Kilometer entfernt ist, und bleibt.

    Für jede Bombe gelacht

    Und dann sind da wieder die Schuhe. Seine zerschlissenen Modelle erregen das Mitleid des Dorfschusters. Er verspricht ihm neue, besorgt das Material. Bevor sie fertig sind, nähert sich die Front, die Familie wird erneut umgesiedelt. »Dann war es nichts mit diesen Schuhen. Da bin ich wieder pleite geblieben.« Am 15. Mai 1944 treffen sie in Wernigerode im Harz ein. Dort sind sie im Kloster »Margaretenhof« untergebracht. In der Fabrik »Reiswunderwerk«, die ein Kaffee-Ersatzmittel herstellt, beginnt Tone Kristan als Elektroinstallateur. Untergebracht ist er auf dem Gelände der Fabrik, um Tag und Nacht arbeiten zu können. Bei Fliegeralarm laufen er und seine Freunde in den Wald und nicht in den Bunker. Sie sehen sich an, wie die Flieger bombardieren. »Ich habe für jede Bombe gelacht.« Seine Freude fällt auf: Er muss zur Polizei nach Wernigerode, wird verhört, geschlagen, wenn die Antwort falsch war. Drei Mal muss er zur Polizei. Einmal kommt ein älterer Offizier herein, als er beim Verhör schreit, und fragt, was los sei. Tone Kristans Antworten stellen ihn zufrieden. Er wird zurück in die Fabrik gebracht. Ein anderes Mal holt ihn der Betriebsleiter bei der Polizei ab, weil er ihn dringend braucht. Nun folgt ein Geheimpolizist Tone Kristan auf Schritt und Tritt, beobachtet ihn, sucht seine Freunde heim, verleumdet ihn bei der Polizei, bereitet seine Festnahme vor. Aber Tone Kristans Arbeit wird so geschätzt, dass es vorerst nicht dazu kommt.

    Nazi-Gegner, mit denen er in Kontakt steht, unterrichten ihn Anfang April 1945 über seine drohende Verhaftung. Sie bringen ihn in der Nacht in Sicherheit. An einen geheimen Ort in der Nähe von Lautenthal, Ilsenburg. Drei Tage vor der Ankunft der englischen Soldaten erreicht er Lautenthal und findet dort seine Eltern und seinen Bruder. Mehrere Wochen bereiten die Engländer die Rückkehr der Vertriebenen vor. Schließlich halten sie sich vier Tage am Bahnhof von Goslar auf, stellen selbst einen Zug aus Vieh- und Personenwagen zusammen. Kommen nach Braunschweig, von wo aus die Züge nach Jugoslawien starten. Am 15. August 1945 fahren sie los. Bei ihrer Ankunft zu Hause gibt es nichts mehr. »Als wir 1945 zurückkamen, gab es nicht einmal Stroh zum Drauflegen. Da hat sich der Scherz entwickelt: Machen Sie ein paar Züge bereit, dass wir zurückfahren und Stroh holen können.« Nachdenklich fügt er hinzu: »So ist das Leben weitergegangen. Es war nicht allzu viel Schönes. Aber wir haben überlebt. Sogar lange.«

    In Tone Kristans Appartement. Links oben eine Zeichnung des Elternhauses, darunter die des Hauses, das er mit seiner Frau bewohnte.

    Franc Rovan in der Küche seines wiederaufgebauten Elternhauses.

    Ausblicke

    Seine Augen blitzen hinter der Brille. Wenn er einen Witz macht und auf die Reaktion wartet. Wenn sich ein Scherz anbahnt nach den präzisen Schilderungen des Schreckens. Wenn er lacht. »Das Leben ist sowieso schon schweinehart. Da sollte man, soweit es möglich ist, Spaß haben. Ich schaue auf die guten Dinge.« Er setzt an: »Wenn ich zurückblicke« und macht eine Pause. »Da bleibe ich besser stehen.« Gelegentlich verdunkelt sich seine Augenpartie. Legt er die Stirn in Falten. Zieht die Augenbrauen zusammen. Wenn er von den Verletzungen erzählt. Von den Demütigungen. Wenn er angestrengt nachdenkt, sorgsam seine Antworten abwägt. Mitunter streicht er mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel. Tone Kristan hat viele offene Fragen: »Habe ich mit meiner Familie und den anderen Vertriebenen nach Deutschland, Serbien, Kroatien und Bosnien nach dem deutschen Gesetz das Anrecht auf eine Entschädigung? Wenn dem so ist, werden wir sowohl für das materielle wie das immaterielle Leid entschädigt, das uns zugefügt wurde?« Diese Fragen beschäftigen nicht nur Tone Kristan. Sie beschäftigen viele Menschen in Slowenien.

    Auf dem kleinen Bauernhof, der sich an den Fuß eines Hügels schmiegt und in einer Kurve des Sopota-Tals am Fluss liegt, bellt ein Husky und kündigt den Besuch an. Franc Rovan, der heutige Präsident der Vereinigung, wartet im Wohnzimmer des alten Wohnhauses. Er ist ein hochgewachsener, hagerer Mann mit kurzem, weißem Haar und blauen Augen. Das schwarz-weißblau karierte Hemd steckt in einer hellen Hose. Seine beiden Brüder Willi und Stanko sind ebenfalls zu Hause. Willi hat sich die Hüfte gebrochen und stützt sich auf Krücken. Franc Rovan hilft ihm jetzt auf seinem Hof, den der Bruder nicht weiterbetreiben kann. Zehn Milchkühe stehen noch in einem schmalen, langgestreckten Stall. Sie sind bereits verkauft. Die Nachmittagssonne spendet dort ein wenig Licht. Vor dem Stall erzählt Franc Rovan, wie ihm die Blüten der Brennnesseln zum Verhängnis wurden. »Als wir am 9. September 1945 auf unseren Hof zurückgekommen sind, war alles zerstört. Dort standen nur noch Brennnesseln. Ich dachte, die Blüten wären weiße Rosen. Ich lief auf sie zu, griff hinein, verbrannte mir die Hand und weinte nur noch. Ich war damals dreieinhalb Jahre alt.« Es gab kein Baumaterial, kein Essen, keine Form der Unterstützung. Fast vier Jahre brauchte die Familie, um den Hof wieder aufzubauen. »Niemand hat eine Entschädigung bekommen. Keine materielle Entschädigung. Wir bekommen heute eine Rente, aber die bezahlen wir uns selbst. Vom Okkupator haben wir nichts bekommen.« In der bescheidenen Küche des Hauses hängt ein gemaltes Bild von einem Walnusskuchen, dem populären Potica. Im Radio neben der Eckbank läuft Popmusik. Franc Rovan und Tone Kristan berichten von den Anfängen ihrer Organisation.

    Am 21. August 1997 gründet sich die Vereinigung in Kranj. Der Auslöser: Wegen des guten Verhältnisses zwischen Deutschland und Slowenien fordert das kleine Balkanland keine Entschädigung von der Bundesrepublik. Aber die Verfolgten und Überlebenden fordern Entschädigungen: für die materiellen und immateriellen Schäden. Dafür setzt sich die Vereinigung seither ein. Am 8. Januar 1998 schicken sie den ersten Brief an die deutschen Behörden und fordern eine Entschädigung. Die Reaktion: Aufruhr und Abwehr auf deutscher Seite. Antworten von allen Seiten, per Mail, per Brief, dass Deutschland alles bezahlt habe, sie alles bekommen hätten, nicht mehr berechtigt seien. »Sie dachten, in Slowenien sei irgendjemand verrückt geworden, und haben sich gefragt, von wo wir gekommen sind. Als ob vorher kein Slowenien dagewesen wäre«, erzählt Tone Kristan eindringlich.

    Franc Rovan fällt ihm ins Wort. »›Wer sind Sie?‹, haben sie uns ständig gefragt.« Joschka Fischer sagt ihnen, wenn ihre Regierung ihre Sache übernehmen würde, könnten sie reden. Aber mit einem Verein der Zivilgesellschaft seien solche Verhandlungen nicht möglich. Zwei Mal schreibt der Anwalt der Vereinigung den Präsidenten Sloweniens an und bittet um ein Treffen mit ihm und Tone Kristan. Dazu kommt es nicht. Es folgen Briefwechsel, Protestaktionen und ein Abschlussbericht des Bundestages. Die Bundesrepublik beruft sich auf die Kapitalhilfeabkommen und Kredite. »Aber Kredite sind keine Entschädigungen für die slowenischen Opfer«, kommentiert Tone Kristan. In einem seiner zahlreichen Schreiben an die verschiedenen Bundesregierungen listet er genau auf, was für Beträge die Vereinigung für die Opfer vorschlägt. Und er erinnert an die bereits geleisteten Entschädigungen. »Vergessen Sie nicht, dass schon mehr als zwei Drittel der slowenischen Opfer entschädigt wurden – mit Gräbern.«³

    In den 1950er und 1960er Jahren schloss die Bundesrepublik »Entschädigungszahlungen nach Osteuropa grundsätzlich aus«.⁴ Und eine diplomatische Klausel im BEG (§ 4) besagte, dass neben den Einschränkungen des Territorialprinzips nur diejenigen Anspruch auf Entschädigung hätten, die ihren Wohnsitz oder dauerhaften Aufenthalt in Staaten hatten, mit denen die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen unterhielt oder die sie so behandelte, »als ob mit ihnen diplomatische Beziehungen unterhalten worden wären« (BEG-SchlG § 238a). »Die diplomatische Klausel war eine entschädigungsrechtliche Form des Kalten Krieges.«⁵ Ausnahmen bildeten die Verhandlungen der Bundesrepublik mit Jugoslawien, die oft als »Brioni-Formel« wiedergegeben werden. Die Bundesrepublik konnte mit ihrer Interpretation von Devisen als indirekten Wiedergutmachungen weitere Entschädigungsforderungen aus Osteuropa abblocken. Aber diese Kapitalhilfeabkommen kamen nicht den Betroffenen von NS-Verbrechen zugute, wie Tone Kristan zu erzählen weiß.

    Am 10. März 1956 schloss die Bundesrepublik einen Vertrag mit Jugoslawien über die »wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Regelung von Ansprüchen auf Entschädigung für nicht realisierbare Restitutionen und von Ansprüchen gegen die deutsche Verrechnungskasse«.⁶ Der umfasste 300 Millionen DM, von denen 240 Millionen als Kredit galten. Am 25. April 1961 folgte ein Globalabkommen mit Jugoslawien über die Entschädigung von Opfern pseudomedizinischer Versuche, das am 7. September 1963 nachdotiert wurde.⁷ Details dazu sind nicht veröffentlicht. Am 20. Februar 1972 kam ein Kapitalhilfeabkommen mit Jugoslawien über 300 Millionen DM zustande.⁸ Dem folgte am 10. Dezember 1974 ein weiteres Kapitalhilfeabkommen, Brioni-Formel genannt, über 700 Millionen DM, um »noch offene Fragen aus der Vergangenheit durch langfristige Zusammenarbeit auf wirtschaftlichen und anderen Gebieten zu lösen«.⁹ Jugoslawien zahlte insgesamt 1,24 Milliarden DM an die Bundesrepublik zurück. Übrig blieben 60 Millionen DM, die den Opfern nationalsozialistischer Medizinexperimente zugute kamen. Slowenische Opfer erhielten davon 12 Millionen DM.¹⁰ Im Rahmen der sogenannten Hirsch-Initiative vom 4. und 5. Mai 1998 erhielten 1.600 ehemalige KZ-Häftlinge und gestohlene Kinder einmalig je tausend DM. Im Gesetz der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« wurden außer den KZ-Häftlingen keine slowenischen Opfer berücksichtigt. Erst nach Interventionen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wurden auch sogenannte gestohlene Kinder berücksichtigt. Willkürlich erhielten 9.505 Personen Entschädigungen für Zwangsarbeit (3.202 KZ-Häftlinge und gestohlene Kinder) und für materielle Schäden (2.342 Familien).¹¹ Tone Kristan merkt an, dass es 180.000 Opfer der Okkupation gibt, von denen heute nur noch 30.000 leben. Nach wie vor beruft sich die Bundesregierung auf ihre »erhebliche(n) Beiträge« zur Wirtschaftshilfe, mit denen »offene Fragen der Vergangenheit gelöst werden sollten«. Und führt ebenfalls die Hirsch-Initiative an. Das Fazit der Bundesregierung: »Darüber hinaus sieht die Bundesregierung keinen Handlungsbedarf.«¹²

    Werte

    Im slowenischen Parlament gibt es ebenfalls eine Diskussion zu Entschädigungen, die schnell in einen politischen Schlagabtausch zwischen Links und Rechts mündet. Da sagt Tone Kristan: »Und wo sind wir als Opfer?« Am 8. Mai 2002 protestieren sie vor dem Regierungsgebäude in Ljubljana. Das Resultat: Eine Regierungskommission will sich dem Thema widmen. Die ständigen Regierungswechsel untergraben jedwede Kontinuität der ebenfalls ständig neu besetzten Kommission. Zu Verhandlungen zwischen Slowenien und Deutschland kommt es nicht.

    »Es geht nicht um das Geld. Es geht um den Vertrag oder ein Gesetz über diese Entschädigung, in dem beschlossen wird, was wer pro Monat bekommt.

    Rittersaal im Posavje Museum in Brežice: Tone Kristan auf dem Weg zur Ausstellung über die Okkupationszeit.

    Es geht um einen Gegenwert. Eine materielle und immaterielle Entschädigung für unser Leid. Wir hatten nicht viel, aber das, was wir hatten, war für uns viel wert«, stellt Tone Kristan klar. Und fügt resigniert hinzu: »Nicht mal im Traum hätte ich daran gedacht, dass die deutsche Regierung darauf nicht reagieren würde. Ich war fest davon überzeugt, wie alle anderen, dass wir berechtigt sind. Ich kann mich mit verschiedenen Auffassungen auseinandersetzen, aber nicht beleidigt werden, nach allem, was passiert ist.«

    Am 22. August 2011 schreibt Tone Kristan einen Abschiedsbrief an die deutsche Regierung. Und wählt deutliche Worte: »Wir sind zutiefst verletzt über das, was wir in den letzten Jahren ertragen mussten. Die Enttäuschung über einen Staat, der sich für demokratisch, sozial und rechtfähig hält, ist groß. Wir sind fest davon überzeugt, dass wir eine materielle und immaterielle Entschädigung bekommen müssten, vor allem weil von den 180.000 Opfern nur noch 30.000 bis 35.000 übrig geblieben sind. Uns bleibt jetzt nichts anderes übrig, als dieses Kriegsleiden und die großen Schwierigkeiten, mit denen wir uns nach unserer Rückkehr auseinandersetzen mussten, als wir mit Schwielen und hungernd das Nötigste fürs Überleben aufbauen mussten, zu vergessen. Wir hoffen, dass die BRD mit diesem Kleingeld, das uns gehört hätte, reich werden wird. Wir haben für das Reich vier Jahre Sklaverei durchlitten. Ich habe mir gedacht, dass ich diese Geschichte niederschreiben muss, damit alle Bürokraten, die für dieses Fiasko verantwortlich sind, wissen, dass hier ein Volk existiert hat und noch immer existiert, das nicht wegen dem eigenen Verschulden viel durchlitten und verloren hat (nicht nur in materieller Hinsicht).«

    Er endet mit einer Erinnerung: »Ansonsten beende ich nach 13 Jahren mit diesem Brief die Korrespondenz mit den deutschen Behörden zu diesem Thema. Wir haben so viel durchlebt, also werden wir auch das, wenn auch mit einem faden Beigeschmack, überleben. Am Ende will ich noch einmal an die gültige gesetzliche Bestimmung erinnern, dass Kriegsverbrechen NIE VERJÄHREN!«¹³

    Erinnerungsorte

    Und wie gestaltet sich die Erinnerung an die Okkupationszeit von 1941–1945 in Slowenien? Verschieden. Das Posavje Museum in Brežice ist fast fertig renoviert. Und wirbt mit seinem imposanten Rittersaal für Hochzeiten. Unter säkularen, barocken Fresken stehen spiegelgleiche Stuhlreihen. Sie bieten Platz für 280 Gäste. So viele Besuchende hat die ehemalige Renaissance-Festung heute nicht. Die hellen, großzügig gestalteten Ausstellungsräume im zweiten Stock präsentieren eine Zeitreise von der Vorgeschichte bis in die 1950er Jahre. Vorbei an Äxten und Waffen aus dem Bronzezeitalter, Tongefäßen, Malereien, Porträts auf Staffeleien geht es weiter durch den Rittersaal. Schließlich gelangen die Besuchenden in einen Raum im Seitenflügel des Museums.

    Eng aneinandergereiht stehen dort fast zwei Meter hohe Informationstafeln. Im Eingangsbereich zeigen sie Fotografien von Nazigrößen. Darüber prangen rote Schriftzüge auf Deutsch wie »Verordnung« oder Hakenkreuze. Dazwischen gestreut sind Informationstexte auf Slowenisch und Englisch. Im Innenraum informieren Stellwände mit Fotografien von Partisanen und Berichten über ihren Widerstand. In den Ecken des kleinen Raumes das gleiche Darstellungsmuster. Fotografien auf Stellwänden. Mit Kindern auf Schulbänken, Menschen auf Lastwagen. Dazwischen Textpassagen zur Vertreibung, Erziehung und Arbeit im Exil. Ergänzt mit Originalen historischer Dokumente. In Vitrinen liegen Exponate. In einer: Armbinden mit der Aufschrift »Deutscher Volkssturm Wehrmacht«, Siegelringe, Gürtelschnallen der deutschen Infanterie. In einer anderen: eine Kamera, sogenannte Kennausweise, andere Dokumente der Deportierten. Tone Kristan deutet auf eine der Vitrinen. »Das sind die Metallmarken mit der Nummer, die wir bekommen haben. Die Nummer, auf die wir reduziert wurden.« Der Raum behandelt die Okkupationszeit von 1941–1945. An den Seitenflanken sind hinter Glas die Waffen der Partisanen zu sehen.

    Später, im Innenhof der Festung, kritisiert Tone Kristan die Ausstellung. »Natürlich brauchen auch Tongefäße ihren Platz, aber hier ist die Okkupationszeit ganz hinten, ganz versteckt in einen Raum gequetscht worden. Und nicht anschaulich präsentiert. Die einzelnen Sachen sind nicht gut sichtbar, sondern verdecken einander. Es wirkt so, als ob die Ausstellung unerwünscht ist.« Aber in diesem Schloss sei schließlich genug Platz. Er will einen Brief an die Museumsleitung schreiben. Die Malereien auf der Sonnenuhr im Innenhof der ehemaligen Festung blättern ab. Mit einigen Zeiten der jüngeren Vergangenheit scheint es die Museumsleitung nicht so genau zu nehmen.

    Die schmale Schotterstraße schraubt sich den Berg hinauf. Tone Kristan kennt die Serpentinen im Schlaf. Es geht zum Weinberg seines guten Freundes. Ivan erwartet bereits den Besuch. Zeigt bescheiden seinen Weinkeller, erklärt die Apparaturen, lächelt freundlich, zurückhaltend. Klopft an die Edelstahl-Behältnisse, kommuniziert so: Die sind nicht voll. Der Hagel vor einer Woche hat alle Reben seines Weinbergs zerstört. Drei Jahre wird es bis zur nächsten Ernte dauern. Ivan ist untröstlich. In der kleinen Küche hängen mehrere Auszeichnungen für seine Weine an den Wänden. Draußen stehen zwei solide Holztische. Sie sind bald mit Tischdecken in leichtem Grün dekoriert, die gelb-schwarze Blüten und Blumen zieren. Hier kann der Blick über die von den Alpen eingerahmte Tiefebene schweifen. Ein Adler kreist über den Weinbergen. Kohlweißlinge flattern um die Tomatenpflanzen. Der Wein wird in Karaffe und Krug kredenzt. Cviček, ein spezieller Rotwein aus mehreren Traubensorten, und Weißwein. Dazu frisches Weißbrot. Eine Käse- und Wurstplatte. Ivan und Tone kennen sich seit über 40 Jahren. Ivan ist auch in der Vereinigung organisiert. »Aber hier oben«, erklärt Tone Kristan, »da werden die Augen ganz schön gesund.« Beide lächeln und prosten sich zu. Na zdravje.

    Tone Kristan, der 84-Jährige, nimmt sich Zeit und fährt mit uns zu Orten der Erinnerung. Ljubelj liegt an einer belebten Straße in Slowenien. Kurz vor der österreichischen Grenze. Ab 1943 diente es als Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen. Am 3. Juni 1943 kamen die ersten Insassen an. Ihre Aufgabe: den sogenannten Loibl-Tunnel zu bauen, durch die Berggruppe der Karawanken. Am 4. Dezember 1944 fuhr das erste Auto durch den Tunnel. 1.039 Häftlinge waren bei der Befreiung durch Partisanen am 28. April 1945 noch im südlichen und nördlichen Teil des Lagers. Aktuell dient der Keller des Wirtshauses als Ausstellungsort. Dort schlägt Besuchenden ein modriger Geruch entgegen. In einer der Vitrinen liegt das Tagebuch des Partisanen Janko Tisler. Ein karierter Spiralblock im A7-Format. Fein säuberlich mit Bleistift beschrieben. Mit Plänen zur Befreiung von Gefangenen. Ein Exponat im kargen Keller von Ljubelj.

    Gedenkstätten

    Draußen führt durch Klee, Wiesenschaumkraut und Löwenzahn ein schmaler Trampelpfad vom Parkplatz zum Memorial. Inmitten der fünf Steine reckt ein Skelett seine Hände gen Himmel. Der Schriftzug »J’accuse« (Ich klage an) umschließt den Sockel der Statue. Eingestanzt auf Beton. Den Übergang zum Gedenkort auf der anderen Straßenseite soll ein Zebrastreifen gewährleisten. Mitten auf einer Schnellstraße in den Serpentinen. Tempolimit für die Passage: 60 km/h. Eine Überwachungskamera dient der Kontrolle. Vor einigen Jahren haben Unbekannte beide Erinnerungsorte verwüstet, Gedenktafeln entfernt und sie in die umgebenden Wiesen geworfen. Am Eingang des ehemaligen Lagers steht heute eine Informationstafel aus silbernem Metall. Schemenhaft ist der Lageplan zu erkennen. Der Rest ist ausgeblichen. Unlesbar. Grillen zirpen in der Mittagshitze. Das Fundament der früheren Lagerküche ist tiefergelegt. Ebenerdig stützen vier horizontale Querstreben den Bau. Im Inneren ein kleiner Grünstreifen. Wild gewachsene Tannen, wieder Wiesenschaumkraut, Alpenveilchen, Gräser. Gedenksteine aus Beton an den Wänden. Mit den Namen verschiedener Konzentrationslager. Darauf Steine. Darunter verrostete Metallhaken. Unter Ravensbrück hängt daran ein Kranz. Auf dem Boden steht ein elektronisches, blinkendes Grablicht. Eine Gedenkstätte ist hier seit langem geplant. Der Bürgermeister der Gemeinde kann fünfzig Prozent davon finanzieren. Der Staat soll den Rest aufbringen. Aber der fehlt. »Es ist schon traurig, wie es hier aussieht«, seufzt Tone Kristan und verschränkt seine Hände hinter dem Rücken. Leicht gebeugt geht er über das unebene Gelände, hält kurz inne und blickt auf.

    Ljubelj diente ab 1943 als Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen. Durch die Berggruppe der Karawanken mussten die Inhaftierten den sogenannten Loibl-Tunnel bauen.

    Die Fahrt geht weiter. Über »Ziegenstraßen«, so nennt Tone Kristan die Schleichwege durch die Berge. Abseits der Hauptstraßen. Begunje liegt 20 Kilometer südwestlich von Ljubelj, am Fuß der Karawanken. Von den Berghängen sind Kuhglocken zu hören. Im ehemaligen Schloss Katzenstein befindet sich heute eine Psychiatrie. Das Geiselmuseum (Muzej Talcev) ist im nordwestlichen Seitenflügel untergebracht. Dort richtete die Gestapo während der Besatzungszeit ein Gefängnis mit Folterkammer ein. Heute sind die Gefängniszellen zu einem Museum umgestaltet. Am Eingang ein schmaler Bereich mit Informationsmaterial. Dahinter links ein langer Gang, von dem zehn Zellen nach links abgehen. Alle gleich groß, ca. zehn Quadratmeter. Mit einer massiven Holztür, einem Guckloch, Eisenriegeln unten und oben. Außen am Boden kleine Holztüren, durch die die akustische Folter der Gefangenen stattfand. Vergitterte Fenster mit 24 Streben, sechs quer, vier längs. In den Zellen Ritzereien. Zahlen, Striche in einer fortlaufenden Reihe. 49 sind es in einer. Detaillierte Zeichnungen vom Gelände mit seinen Gebäuden. Ein Kopf im Profil. Ein Stiefmütterchen, andere Blumen. Nachrichten wie »Meine Liebe, ich denke an dich«. Gespaltene Herzen. In Zelle sieben steht »Memento Mori« (Bedenke, dass du sterben musst). An einigen Stellen blättert der Putz von den Wänden. Unter den Inschriften: Leisten mit LED-Leuchten. Darüber: Scheiben aus Plexiglas. In Weiß schimmern die Mitteilungen der ehemaligen Gefangenen hervor. Im Zellengang prangen in Schulterhöhe A3-Plakate. Mit dem immer gleichen Titel: »Bekanntmachung«. Objava. Auf Deutsch und Slowenisch. Darunter die vorgeworfene Tat. Dann folgt »Hingerichtet« oder »Zum Tode verurteilt«. Darunter die Namen der Verurteilten. Mit dem Zusatz am unteren Rand: Das Urteil wurde sofort vollstreckt. Mehr als 12.000 Menschen befanden sich hier in Haft. In der gesamten Oberkrain wurden etwa 1.200 Geiseln erschossen. Davon fast 900 im Schlossgarten des Gefängnisses.

    Zum Park mit

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