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Zehn Finger Hoffnung: Ein Kapuzineräffchen als Seelenretter
Zehn Finger Hoffnung: Ein Kapuzineräffchen als Seelenretter
Zehn Finger Hoffnung: Ein Kapuzineräffchen als Seelenretter
eBook345 Seiten4 Stunden

Zehn Finger Hoffnung: Ein Kapuzineräffchen als Seelenretter

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Über dieses E-Book

Ein schwerer Autounfall hat in Sekundenschnelle aus dem zwanzigjährigen Ned Sullivan einen Querschnittsgelähmten gemacht, dessen Leben buchstäblich am seidenen Faden hängt. Die Kunst der Ärzte rettet sein Leben, die Fürsorge seiner Familie hilft ihm über die ersten Wochen und Monate hinweg – das was kommt dann?
Ned braucht Betreuung rund um die Uhr. Ellen, seine Mutter, ist für ihn da, später verschiedene Pflegekräfte – doch wer kümmert sich um seine Seele. Über die Organisation Helping Hands erfährt Ellen, dass dieser Verein Kapuzineraffen trainiert, die bei Schwerkranken zur Hilfe eingesetzt werden. Von alltäglichen Handreichungen bis zu immer komplizierteren Aufgaben ersetzen diese Affen den Gelähmten die Finger. So kommt Kasey ins Haus. Und wird nicht nur ein Helfer für Ned, sondern auch ein Teil der Familie. Denn neben der praktischen Hilfe kümmert sich Kasey bald auch um Neds Psyche.
Neds Mutter Ellen Rogers hat die bewegende und mutmachende Geschichte, die in den USA ein großer Buchhandelserfolg wurde, aufgeschrieben.
SpracheDeutsch
HerausgeberLehmanns
Erscheinungsdatum30. Mai 2014
ISBN9783865416322
Zehn Finger Hoffnung: Ein Kapuzineräffchen als Seelenretter

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    Buchvorschau

    Zehn Finger Hoffnung - Ellen Rogers

    Ellen Rogers

    Zehn Finger Hoffnung

    Ein Kapuzineräffchen als Seelenretter

    Ins Deutsche übertragen von

    Victoria Kau und Viktoria Kleber

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar

    Alle Rechte vorbehalten

    Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

    © Ellen Rogers

    © für die deutsche Ausgabe Lehmanns Media, Berlin 2014

    Helmholtzstraße 2-9

    10587 Berlin

    Umschlagabbildung: Cary Wolinsky

    ISBN 978-3-86541-632-2

    www.lehmanns.de

    Für meine Mutter Lois „Nonnie" Rogers

    * 1. Mai 1921 † 1. Dezember 2013

    Sie hat uns allen so viel Liebe und Inspiration geschenkt.

    Für Marie-Christine und Urs Jaeger-Firmenich

    und die Stiftung Robmar.

    Ihre Großzügigkeit und Freundschaft

    bedeuten unermesslich viel für unsere Familie.

    Vorwort

    Als Ellen, Neds Mutter, das Buch „Kasey to the Rescue" vor knapp drei Jahren schrieb, war sie sich sicherlich nicht ganz bewusst, welch’ nachhaltigen Eindruck die außergewöhnliche Lebensgeschichte ihres gelähmten Sohnes mit seinem Kapuzieräffchen im Herzen vieler Menschen auslösen würde.

    Ich dagegen war mir immer sicher gewesen, dass ich eines Tages Neds Geschichte mit seinem Pflegetier Kasey über die Grenzen in die Welt hinaustragen würde, um so viele Herzen wie nur möglich zu gewinnen, sie Teil nehmen zu lassen an dem Licht der Hoffnung, der Zuversicht und ausstrahlender Kraft, welche der Glaube an wahre Wunder entfachen kann.

    Die Geschichte von Kasey und Ned, Ellen und ihrer bewundernswerten Familie illustriert ergreifend, wie die Beziehung zwischen Mensch und Tier ein Wunder vollbringen kann, indem sie verloren geglaubte Energien freischafft, Verzweiflung in Mut umwandelt und durch gegenseitigen Respekt – dem Menschen sowie dem Tier – Würde und Achtung schenkt und zurückgibt. Die einzigen Werte, die ein Leben ausmachen.

    Nicht alle Menschen haben Glück, nicht alle Menschen haben immer Glück ! Neds Geschichte lehrt uns unwiderruflich, dass es in einer Sekunde vorbei sein kann. Glück ist ein Geschenk, eine Gabe und eine Verantwortung. Menschen in ihrem Unglück zu helfen und ihnen ein bisschen Freude zurückzugeben beinhaltet den wahren Sinn meines Lebens.

    Ich hatte das Privileg, in eine Familie hineingeboren zu werden, zu der auch immer Hunde, Katzen und Pferde gehörten. Schon als kleines Kind war mir klar, dass Tiere unsere besten Freunde sind: sie tadeln uns nicht, wenn das Zeugnis schlecht ist oder wir eine Dummheit gemacht haben. Je älter ich wurde, desto mehr Tiere lernte ich kennen und desto besser verstand ich sie. Dank der bedingungslosen Liebe, die meine Mutter für ihren Hund empfand, konnte sie ihren Ehemann noch 17 lange Jahre überleben.

    Nach dem Tod meiner beiden Eltern spürte ich den innigen, spontanen Wunsch, eine Stiftung zu ihrem Gedenken zu gründen. In unendlicher Dankbarkeit war mir damals bewusst geworden, dass ich alles, was ich kenne und fühle, alles, was ich besitze, von meinen Eltern mitbekommen habe. Daher lag es mir am Herzen, ein Projekt zu Ehren meiner beiden Eltern auf die Beine zu stellen, welches Ihrer Lebensart und -weise entsprechen und gleichen sollte. Es lag mir nahe, eine Stiftung zu gründen, auf die meine Eltern stolz gewesen wären und welche Menschen in Not unterstützen sollte.

    Nach und nach reifte in mir die Idee, Tiere zur Unterstützung von Menschen einzusetzen. Die große Tierliebe meiner Eltern gaben mir die Sicherheit, dass ich auf dem richtigen Weg war. Dementsprechend ging es nur noch darum, das passende Leitmotiv zu finden.

    Es war sicher kein Zufall, als ich am 23. August 2003 von einer Sendung am Fernsehen gefesselt wurde, in der Kapuzineräffchen vom Hals abwärts Gelähmten zur Hand gingen. Dieser Tag war der Auslöser meiner Stiftung ROBMAR (benannt nach dem Namen meiner beiden Eltern ROBert und MARie-Louise), deren Grundstein 2007 gelegt wurde und deren Hauptzweck die Unterstützung von Organisationen ist, welche Tiere als „Helfer" für Menschen ausbilden (Human-Animal Bond).

    So lernte ich insbesondere die Organisation „Helping Hands" in Boston kennen, die Kapuzineräffchen darauf trainiert, Behinderte bei alltäglichen Handreichungen zu unterstützen.

    „Helping Hands" und die mittlerweile vielen anderen Organisationen, welche ROBMAR heute weltweit unterstützt, haben alle dasselbe, gemeinsame Ziel: durch den Einsatz und das Trainieren von Tieren ihre unschätzbare Hilfe und Fähigkeiten zu nutzen, um Menschen in schwierigen, unterschiedlichen Situation beizustehen – sei es Kranken oder Behinderten das alltägliche Leben zu erleichtern und erhöhte Lebensqualität zu bieten, oder durch die Spür- und Schnüffelfähigkeiten (beispielsweise der Hunde) bei Katastropheneinsätzen oder im medizinischen Bereich zu unterstützen. Mit großem persönlichem Einsatz und oft geringen, meist unzureichenden finanziellen Mitteln hängt jedoch das Gelingen ihres Erfolges rein von der Unterstützung und Großzügigkheit der Spender ab .

    Wenn ich heute auf das sechsjährige Werk von ROBMAR zurückblicke, weiß ich, den richtigen Weg im Sinne meiner Eltern eingeschlagen zu haben. Es wird mir jedoch immer mehr bewusst, wie viel es über die Beziehung und das Zusammenwirken von Mensch und Tier noch zu lernen und entdecken gibt .

    Menschen wie Ned und Ellen haben viel dazu beigetragen, mir Klarsicht über manche Fragen, die ich mir diesbezüglich stellte, zu verschaffen und die Richtigkeit meiner Annahmen zu bestätigen. Dies kam der Entwicklung meiner Stiftungstätigkeiten zu Gute. Jahr für Jahr Neds immensen Fortschritt erleben zu dürfen, seine ehemals erloschenen Augen wieder aufleuchten zu sehen, Ellens warmherzige Freundschaft zu teilen, motivieren und bekräfigen mich in meinem täglichen Bemühen, ROBMARs einzige Aufgabe auszuführen und mit Leidenschaft voranzutreiben.

    In manchen Fällen ist es nicht immer einfach, das öffentliche Bewusstsein für die Fortschritte in der „Mensch-Tier Bindung" zu schärfen. Oft gilt es, eventuelle Einschränkungen durch Landesgesetze oder bürokratische Hindernisse zu überbrücken und geeignete Wege zum Gelingen der verschiedenen, von ROBMAR sorgfältig ausgewählten Projekte zu finden. Doch wenn bei all diesen administrativen Hürden manchmal eine gewisse Entmutigung in mir aufsteigen will, dann habe ich spontan Ellen und Ned vor Augen und ihren unwiderstehlichen Lebenswillen: nie aufgeben oder klein beigeben, zuversichtlich daran glauben, und einfach weiterkämpfen !

    Danke Ellen, Danke Ned ! Danke an all jene, die entschlossen haben, mit mir in einem Boot zu sitzen und mitzurudern !

    Marie-Christine Jaeger-Firmenich

    Gründerin und Präsidentin

    www.fondation-robmar.ch

    Juli 2013

    Kapitel 1

    Von hier aus unmöglich

    Man sagt, Mutterschaft und Überlebensdrang sind die einzigen Urinstinkte, die bei allen Tieren vorkommen. Genau diese beiden spielten an jenem Abend zusammen, als ich über die Autobahn raste. Ich war auf dem Weg zum Flughafen und fuhr auch nicht langsamer, als mein Handy klingelte.

    „Megan?"

    „Mama, ich hab für dich einen Platz im Flugzeug nach Dallas bekommen!"

    „Also kein Direktflug nach Arizona?"

    „Nein, das ist von hier aus unmöglich!, antwortete Megan. „Dallas ist die einzige Möglichkeit. Du hast circa 40 Minuten, um zum Gate zu kommen, 45 Minuten, um den Anschlussflug nach Tucson zu erwischen. Du kommst noch vor Mitternacht an.

    „Alles klar, hauchte ich, während ich in die Tiefgarage einlenkte. Gott sei Dank für meine krisenfeste Tochter. „Dass du das hinbekommen hast, Megan. Danke!

    Ich erreichte die volle Flughafenhalle, mein Rollkoffer klapperte hinter mir her, ich rannte den schmalen Gang zum Flugzeug hinunter und drückte gegen heftiges Seitenstechen die geballte Faust seitlich in meinen Bauch. Als ich endlich meinen Koffer ins obere Gepäckfach hievte, versuchte ich mich daran zu erinnern, was ich überhaupt hineingeworfen hatte, bevor ich zur Haustür hinausgerannt war. Egal. Alles was zählte, war, den Flug zu erwischen. Nach Arizona zu kommen. Zu Ned zu kommen.

    Ich ließ mich in meinen Sitz fallen und atmete tief durch.

    Oh Gott. Wie konnte das alles nur passieren?

    Ich schaltete mein Handy aus und versuchte einen Ablaufplan in meinem Kopf zu entwerfen. Ich bin es gewohnt, diejenige zu sein, die immer alle Antworten parat hat. Ja, ich mochte es, genau diese Person zu sein. Tausend Mal zuvor war ich schon an Bostons Flughafen Logan International gewesen, um zu reisen, um Leute zu treffen – all diese Geschäftsreisen, jede einzelne „extrem wichtig".

    „Da muss ich unbedingt hin, hatte ich jedes einzelne Mal behauptet, „diesen Flug muss ich bekommen.

    Das Leben findet immer einen Weg, deine täglich hingeworfenen Wörter und Sätze auf seltsamen Wegen umzudeuten.

    „Meine Damen und Herren, hier spricht der Flugkapitän. Es sieht so aus, als ob es aufgrund einer Verkehrskontrolle in Dallas zu ein wenig Verzögerung kommt. Wir verlassen das Gate jetzt und warten auf weitere Anweisungen."

    „Oh… nein…"

    „Wir bitten um Ihr Verständnis und danken für Ihre Geduld. Wir sollten nicht mehr als eine Stunde Verspätung haben."

    Nein."

    Ich schloss die Augen und versuchte, denselben gefassten Gesichtsausdruck aufzusetzen, den ich schon neunzig Minuten zuvor für meine Tochter gemimt hatte. Sie war bei mir gewesen, als ich den Anruf erhalten hatte.

    Sind Sie die Mutter von Edward Sullivan?

    Am Tonfall der Stimme hörte ich sofort, dass etwas nicht in Ordnung war.

    Ja, ich… ich bin Ellen. Neds Mutter.

    Ich konnte hören, dass unsere Welt in wenigen Sekunden zusammenbrechen würde.

    Ihr Sohn hatte einen Unfall.

    Kritischer Zustand. Schwere Verletzungen. Hoher Blutverlust. Notfalloperation. Bitte kommen Sie sofort. Da Maddie nur meinen Teil der Konversation mitbekam, starrte sie mich geschockt an, ihr Gesichtsausdruck hatte sich in wenigen Sekunden von neugierig zu alarmiert gewandelt. Sie bedeckte ihren Mund mit der rechten Hand und schluchzte auf, doch ich konnte sie nur kurz in den Arm nehmen, dann sprang ich auf, um das zu tun, was getan werden musste.

    „Entschuldigen Sie?" Ich winkte einer Stewardess.

    „Ja bitte? Ihr höfliches Lächeln wand sich rasch zu einer besorgten Miene. „Ist alles in Ordnung?

    „Nein. Nein, gar nicht. Ich kann hier nicht eine Stunde warten. Ich muss in 45 Minuten in Dallas umsteigen. Ich muss weiter nach Tucson. Sofort. Heute Abend. Mein Sohn – er studiert dort. Er hatte einen furchtbaren Autounfall. Man sagte mir… Ich konnte die Worte nicht aussprechen, nicht einmal denken, doch ich zwang sie heraus. „Er wird diese Nacht vielleicht nicht überleben. Bitte! Wenn ich es nicht nach Tucson schaffe…

    Die Stewardess nickte und drückte meinen Arm. „Ich bin sofort wieder da."

    Sie ließ mich angeschnallt in meinem Sitz zurück, ich kämpfte damit, meine Panik herunterzuschlucken. Ich lehnte meinen Kopf an die kühle Fensterscheibe, drehte meine Ringe an meiner rechten Hand hin und her: einer für Megan, einer für Ned, einer ein Geschenk ihres Vaters zu unserem ersten Jahrestag. Ich setze mich auf und hielt Ausschau nach der Stewardess, während ich die Ringe meiner linken Hand drehte: ein Siegelring, den mir mein Vater zu meinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte, ein heller Goldring, der Hochzeitsring meiner Großeltern aus dem Jahr 1896. Wann immer ich nervös werde, spiele ich an meinen Ringen herum, drehe sie unzählige Male. So fühle ich mich mit meinem Leben und den Menschen, die ich liebe, verbunden. Doch jetzt schaute ich hinab auf meine Ringe und sah, wie sehr meine Hände zitterten.

    „Entschuldigen Sie?"

    Die Stewardess war zurück. „Der Kapitän gab mir dies hier für Sie."

    Sie reichte mir einen Zettel, der vom Bordbuch abgerissen worden sein musste.

    Die Flugverkehrskontrolle hat uns soeben erlaubt, unverzüglich nach Dallas/Fort Worth zu fliegen und Ihren Anschlussflug nach Tucson notfalls aufzuhalten. Ich bin ein gläubiger Mensch und möchte Ihnen mitteilen, dass die gesamte Crew für Sie betet. Gott wird einen Weg finden.

    Dieses Stück Papier besitze ich bis heute.

    Als wir in Dallas landeten, wartete der Pilot bereits am Ausgang des Flugzeugs auf mich, um mich persönlich zu meinem Anschlussflug zu begleiten. Noch immer steckt mir ein Kloß im Hals, wenn ich an seine Gutmütigkeit und seinen starken Arm denke, den er mir anbot, während wir in großen Schritten den Flughafen durchquerten.

    Solche Menschen sind ein Segen!

    Ich erreichte das zweite Flugzeug rechtzeitig und beeilte mich, auf meinen Platz zu kommen, um noch kurz Megan anzurufen.

    „Ich habe nur eine Sekunde, sagte ich zu ihr. „Alles in Ordnung so weit?

    „Maddie und ich haben Anna vom Sportfest abgeholt, antwortete sie. „Da waren noch so wahnsinnig viele andere Leute, aber wir haben sie gefunden.

    Große Schwestern sind ein Segen!

    „Habt ihr es ihr gesagt?, fragte ich. „Ist sie okay?

    „Sie ist… wir alle sind bestürzt. Aber wir haben hier alles im Griff. Du musst dich beeilen, Mama. Du musst zu ihm und dafür sorgen, dass er es schafft. Bitte, Mama, mach, dass er es schafft."

    Ihre Stimme zitterte vor Angst und Sorge, doch ich bin ein Typ, den nichts so leicht aus der Fassung bringt. Und so hielt ich mich an die üblichen tröstenden Worte:

    „Wir kommen durch, Megan. Alles wird gut. Ich habe Paula erreicht und sie ist schon in Phoenix los gefahren, also ist er…" Also ist er nicht allein, wollte ich sagen. Aber ich wusste, wie es tatsächlich aussah. Ned war mutterseelenallein in diesem Moment. Der Mann, der für immer mein kleiner Junge bleiben würde, war allein im Dunklen, uns trennten Berge, Wüsten und zwei unwahrscheinlich knapp aufeinanderfolgende Flüge. Gott sei Dank war da Paula, diese Art von Freundin, die innerhalb von Minuten ins Auto springt und knapp 200 Kilometer fährt. Sie ist der Typ, der gut in Krisenbewältigung ist. Genau wie ich.

    Ich bezeichne mich selbst als so was wie Tragödien-Snob.

    Ich habe bereits einige meiner Liebsten verloren, so leicht lasse ich mich daher nicht unterkriegen. Mit 24 heiratete ich im Wintergarten eines Krankenhauses, einen Flur entfernt von der chirurgischen Station, in der mein Vater um die letzten Monate seines Lebens rang. Bei meinem Mann, Ted Sullivan, wurde Krebs diagnostiziert, als unsere Tochter Megan gerade einmal zweieinhalb Jahre alt war und ich im achten Monat schwanger mit Ned.

    Ted verbrachte von da an für zwei Jahre die meiste Zeit in Bestrahlungsschächten und Infusionsstationen, unsere kleine Familie stets an seiner Seite, während er die schreckliche Chemotherapie, eine strapaziöse Operation und endlos lange und traurige Tage vor seinem Tod ertragen musste. Megan war vier und Ned 18 Monate alt, als sie ihren Vater und ich meinen Mann verloren.

    Meine zweite Heirat brachte mir zwei wundervolle Stieftöchter, Kerry und Mindy, und meine drei Jüngsten: Jake, Maddie und Anna Kokos. Doch unsere Patchwork-Familie wurde wieder entzweit, als Mindy mit 23 Jahren an Hautkrebs starb. Diesem erschütternden Verlust folgte eine schmerzhafte Scheidung. Meine Kinder und ich hatten erst seit Kurzem wieder Boden unter unseren Füßen.

    Immer wenn ich ein paar Tage nicht zu Hause, sondern auf Reisen bin, denke ich der Reihe nach an alle meine Kinder und das, was sie erreicht haben. Als jetzt das Flugzeug startete, schloss ich die Augen und sammelte meine Gedanken an sie:

    Megan, blitzgescheit und wunderschön mit ihren 25 Jahren, hatte vor wenigen Monaten Ron Holsinger geheiratet, einen waschechten Polizisten.

    Ned, 22 Jahre, hatte die grenzenlose Energie, den bezaubernden Charme und die blauen Augen seines Vaters.

    Jake, mein kleiner Riese, war 18 und stand kurz vor seinem Highschool-Abschluss.

    Die dreizehnjährige Maddie war gesegnet mit Kreativität und einem Auge für Mode.

    Und zu guter Letzt meine treue Seele Anna, zwölf und stark genug, sich in unserem hektischen, aber liebevollen Familienleben nicht unterkriegen zu lassen.

    Ich hatte mich, meine Kinder und zwei nicht immer unkomplizierte Hundewelpen in den sicheren Hafen eines neuen Hauses gebracht und organisierte von dort aus unser turbulentes Leben: ich managte die Hobbys meiner Kinder und gleichzeitig die Reisen und das alltägliche Geschäft meiner eigenen Marketing Consulting Firma, eine Herausforderung, die ich nach fast 30 Jahren in einem Hightech-Unternehmen suchte. Der Roger-Sullivan-Kokos-Holsinger-Familie – ein modernes Wunder aus Liebe und einem Drahtseilakt von Alltagsaktivitäten – ging es gut. Wir waren durch harte Zeiten gegangen und hatten sie hinter uns gebracht.

    Wir kommen auch jetzt durch, sagte ich mir. Wir müssen es einfach!

    Als ich an dem Abend auf der Intensivstation der Universitätsklinik in Tucson ankam, rechnete ich fest damit, Ned bewusstlos an einer Beatmungsmaschine zu sehen. Ich erwartete ein riesiges Spinnennetz aus Schläuchen, intravenösen Zugäng-en und Monitorkabeln. Lebenserhaltende Maschinen waren nichts Neues für mich, also dachte ich, ich wäre vorbereitet. Zumindest so gut, wie man es sein kann.

    Ich lag falsch.

    Ein massiver Rahmen aus Stahl stützte Neds Kopf und Schultern. Stabile Stangen hielten eine Art Metallkranz, der mithilfe von Schrauben an seiner Stirn und über seinen Ohren befestigt war. Anstelle der futuristischen High-Tech-Geräte, die man in einem modernen Krankenhaus erwartete, sah das hier eher nach mittelalterlichen Foltermethoden aus. Ich griff nach dem Bettgestell mit der einen, nach meiner Freundin Paula mit der anderen Hand.

    „Was… ist dieses Ding?"

    „Das nennt man Halo, sagte die Krankenschwester. „ Sie haben ihn im OP angelegt, um seine Wirbelsäule zu stabilisieren.

    Ich stand kurz vor einer Ohnmacht.

    Innerhalb des metallenen Halo sah Neds Gesicht erstaunlicherweise unversehrt aus. Er war ein bisschen aufgedunsen und eine Glasscherbe hatte eine kleine Wunde auf seiner Stirn hinterlassen. Die Schläuche in seinen Nasenlöchern, das Beatmungsgerät, das mit Klebeband an seinem Mund befestigt war und bis in seinen Rachen hinein reichte und diese Schrauben an der wuchtigen Vorrichtung, die mich an eine Bärenfalle erinnerte – all das erschien so surreal, so widerstrebend zu dem friedlichen Gesichtsausdruck meines schlafenden Sohnes.

    Dumpf und wie erstarrt versuchte ich, die Fragen in meinem Kopf zu sortieren und stellte die einzige, die in diesem Moment Sinn machte: „Wird er es schaffen?"

    „Niemand überlebt diese Art von Verletzungen, Ellen. Wir sind mit Ärzten in ganz Amerika in Kontakt, um jemanden zu finden, der mit einem solchen Fall Erfahrung hat." Mit der Zeit würde ich diese Art von Offenheit noch zu schätzen lernen. Aber das sollte noch dauern. Der Arzt fuhr fort, Fachwort an Fachwort zu reihen. Rückenmarksverletzungen. Schweres Schädel-Hirn Trauma. Organische Verletzungen. Bluttransfusion. Sogar Neds Milz war entfernt worden. (Wofür ist die überhaupt gut, fragte ich mich. Ist die wichtig? Aber der Arzt sprach schon weiter.)

    „Er ist momentan in einem künstlichen Koma, es ist also noch zu früh, um etwas mit Sicherheit zu sagen. Der Arzt befestigte mehrere Röntgenbilder und Kernspintomografien am Schaukasten. „Das, was uns wirklich Sorgen macht, ist der gebrochene Nacken.

    Es gab kein Missverständnis über das schwere Ausmaß der Verletzungen. Die Stärke des Aufpralls hatte ihn quasi enthauptet, hatte alles getrennt, was den Schädel an seinem Rückgrat befestigte. Das massive Schleudertrauma hatte den Blut- und Sauerstoffzufluss zu seinem Gehirn lang genug unterbrochen, um den Effekt eines Schlaganfalls auszulösen.

    „Sie können hier den Bruch der C1 und C2 Halswirbel sehen. Mit dieser Art von Rückenmarksverletzung bedeutet dies leider, dass er vom Nacken abwärts gelähmt sein wird. Nach realistischen Einschätzungen wird er sich nicht mehr bewegen, sprechen, geschweige denn eigenständig atmen können."

    Ich griff nach Paulas Arm und hoffte, dass genügend Sauerstoff in mein eigenes Hirn floss.

    „Wie stark genau das Rückenmark beschädigt ist, können wir erst feststellen, wenn die Schwellungen nachlassen. Was wir hier sehen, er deutete auf einige Bilder der Kernspintomografie des Kopfes, „macht uns jedoch noch größere Sorgen. Wenn das Gehirn im Schädel hin- und hergeschleudert wird, kann man ein sogenanntes axonales Shearing erkennen. Dies bedeutet die Verletzung einzelner Nervenzellen, die dazu führt, dass die Neuronen im Gehirn nicht mehr kommunizieren können. So lange er noch im künstlichen Koma liegt, gibt es für uns keine Möglichkeit, seine kognitiven Fähigkeiten zu überprüfen. Wenn er durchkommt, kann es sogar länger als ein Jahr dauern bis wir das ganze Ausmaß der Verletzungen kennen.

    Der Arzt fragte mich, ob ich weitere Fragen hätte – natürlich hatte ich die, ungefähr eintausend, aber ich schüttelte den Kopf.

    Ich dankte ihm. Er ging.

    Ich setzte mich auf einen Plastikstuhl. Paula setzte sich zu mir.

    Um uns herum schwirrte es wie in einem Wespennetz. Schrille Alarmgeräusche übertönten in regelmäßigen Abständen den Lärm der Maschinen. Das Rauschen des Beatmungsgeräts, das Zischen – immer dann, wenn die Blutdruckmanschette Luft abließ. Ich stand auf und schritt unruhig den engen Gang zwischen Fenster und den zahlreichen Maschinen, die meinen Sohn am Leben hielten, entlang. Paula sprach leise mit mir. Es waren ruhige Worte, die ich nicht wirklich verstand, die mir aber versicherten, dass meine Freundin da war.

    Wir durften nur eine Stunde auf der Intensivstation bleiben. Ich schielte auf meine Uhr. Irgendwo über der von trockenen Rissen durchzogenen Weite der Sanoran-Wüste hatte ich mich entschieden, die Uhrzeit nicht zu verstellen. Zu Hause war es drei Uhr morgens.

    Immer noch in der Zeitzone von Boston zu sein, gab mir das Gefühl, dass ich irgendwie mit meinen Kindern verbunden war. Ich war in der Zeit zurück gereist. Aber nicht so weit, wie ich hätte wünschen können.

    Ich checkte in mein Hotel ein. Dies würde mein Heim sein für die nächsten Wochen, von hier aus würde ich alles organisieren. Paula brachte Wein und ein wenig Essen in mein Zimmer.

    „Wie oft darf ich eigentlich Gott für meine Freunde danken?", fragte ich, während ich versuchte, mein Glas ruhig zu halten.

    „Da gibt es kein Limit", antwortete Paula lächelnd.

    Am nächsten Tag im Krankenhaus machte ich es mir bequem: ein paar Kissen auf den Stuhl, eine Decke über meine Schultern. Dort saß ich und starrte aus dem Fenster auf die Berge. Es klopfte sanft an der Tür und ein Polizist trat ein, der die persönlichen Gegenstände von Ned dabei hatte. Ein Schuh, Rucksack, Schlüssel, Geldbeutel und sein Handy. Ich nahm die mir vertrauten Dinge an mich und versuchte, sie irgendwie in die Situation einzuordnen.

    „Können Sie mir sagen… was passiert ist?"

    „Es war ein Unfall, in dem nur sein Auto involviert war, berichtete der Beamte. „Zeugen haben gesehen, wie er erst langsamer, dann aber ruckartig schneller wurde. Er raste bei etwa 65 Stundenkilometer in eine Mauer.

    Später würden Ermittler rekapitulieren, dass er entweder eingeschlafen sein musste oder einen kurzen Rückfall einer früheren Befindlichkeitsstörung hatte, die vor Jahren mit Medikamenten behandelt worden war.

    „War er… hat er irgendetwas gesagt?", fragte ich den Beamten.

    „Es tut mir Leid, aber ich war nicht am Unfallort. Im Protokoll aber habe ich nichts gelesen."

    Die Krankenschwester, die Neds Papiere überprüfte, blickte auf: „Ich habe gehört, dass ein Rettungssanitäter gesehen hat, wie er seine Beine bewegt hat."

    „Was bedeutet das?, keuchte ich. „Heißt das denn irgendetwas?

    „Na ja, sicher kann man nie sein, aber manchmal… könnte es bedeuten, dass er sie in Zukunft auch wieder bewegen kann. Aber das ist nur… Sie blickte wieder auf die Unterlagen. „Entschuldigen Sie, ich hätte nichts sagen sollen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das korrekt ist.

    Mir war völlig egal, ob es korrekt war oder nicht. Es war ein Funke Hoffnung, ein Grashalm, an den ich mich klammern konnte. Und den würde ich auch ergreifen! Ich war alleine gelassen worden mit einem Haufen an medizinischen Aussagen und verklausulierten Einschätzungen und ich brauchte etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Ein Grashalm, sogar ein Hälmchen winziger Hoffnung, würde mir reichen. Ich umschloss Neds Rucksack mit meinen Armen, erpicht darauf, an allem festzuhalten was noch übrig war von diesem jungen Mann voller Leben. Von einem jungen, noch so vielversprechenden Leben.

    Ich saß in meinem Stuhl, meinen Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, während ich die Helikopter auf dem Landeplatz dort draußen beobachtete – Landung, Abflug, und wieder Landung. Eine Endlosschleife ohrenbetäubenden Lärms und blutiger Krankenbahren, immer in Begleitung von aufgewühlten Angehörigen. Es würde nie wieder einen Rückweg in ein „normales" Leben geben.

    Von hier aus unmöglich.

    Aber irgendwohin wird es gehen. Und ich war fest entschlossen, den Weg ins Irgendwo zu finden.

    Kapitel 2

    Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter

    Kapuzineraffen haben einen verblüffenden und weisen Blick. Und Kaseys Augen sind perfekt proportioniert in ihrem zarten, aber dennoch ausdrucksstarken Gesicht. Ihr Köpfchen ist

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