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Die Brut
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eBook389 Seiten5 Stunden

Die Brut

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Über dieses E-Book

Amerika, 2074. Des Mordes verdächtigt, befindet sich Avery zusammen mit ihren neuen Begleitern auf der Flucht. In den Staaten branden Rebellionen auf, denen sie sich anschließen möchten – wären da nicht Averys Trauer um Skar, die Sehnsucht nach dem Splittern und die Zweifel einer hoffnungslosen Zukunft. Kann der fremde Nomade ihnen helfen und die einzelnen Keime zu einer Gruppe vereinen, oder verrennen sie sich in der wahnwitzigen Idee, Frieden bringen zu wollen?
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum5. Dez. 2014
ISBN9783958307360
Die Brut

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    Buchvorschau

    Die Brut - Julia Mayer

    Julia Mayer

    Die Brut

    OLD SOULS II

    © Julia Mayer, 2013

    oldsouls@gmx.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Dieses Werk darf nicht ohne schriftliche Erlaubnis und nicht ohne Mitwissen der Autorin vertrieben, kopiert oder verwendet werden.

    © Cover made by Andra Dehelean

    Pictures used as cover from:

    Time flies by Victoria Audouard

    http://victoriaaudouard.deviantart.com

    E-Book-ISBN: 978-3-95830-736-0

    Verlag GD Publishing Ltd. & Co KG, Berlin

    E-Book-Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    Avery

    Ich habe über die Erinnerungen nachgedacht, die sich wie dünne Schatten um meine Knochen wirbeln. Sie flüstern mir zu und knabbern an meinen Ohren, so als würden sie mich zurück in die Bibliothek ziehen wollen. All die Lust, die ich zu dem Zeitpunkt verspürt habe, vermischt sich mit der Todesangst. Nicht nur die Angst um Skar, sondern auch die um mich selbst und um die Menschen aus der Erinnerung. Ich weiß, es war der Körper des Jungen in dem ich steckte, und doch denke ich, dass ich damals in Wahrheit das Mädchen habe sein müssen. Wenn ich mich genug anstrenge, kann ich den Jungen deutlich vor mir sehen, mit den weichen Wangen und dem spitzen Kinn. Seine schmalen, mandelförmigen Augen und die langen Wimpern in dem zarten Gesicht, als würden sie den schamlosen Blick vertuschen wollen.

    Ich kann mich als Spiegelung in seinen Augen sehen und spüre seine Hände, wie sie meine runde Hüfte packen, wie sich Fingernägel krallen und Feuer zwischen uns nistet.

    Ich habe darüber nachgedacht, wer er wohl war und was er in mir gesehen hat. Alles, was ich jetzt endlich verstehe, ist, dass die Fremden nicht seinen Blick teilten, nicht seinen Frieden wollten. Und dass es ihre Hände waren, die sich mit unserem Blut vollsogen.

    Ich glaube, ein Echo dieser Liebe und dieser Angst in meinem Leben zu verspüren. Vielleicht ist dieses Leben nur eine blasse Kopie der vergangenen Zeiten, die von den Nachbeben der Erinnerungen lebt. Denn ich kann nach wie vor die zarten Gefühle wie einen Hauch von Schmetterlingsflügeln in mir spüren – die Sicht wird vage und verschwimmt, wenn ich zu verstehen versuche, wer wir damals gewesen waren. Der Dunst alter Leben zieht sich über unsere Körper und zahlreiche Fehler haften mir an. Alles, was bleibt, sind die Worte: Ich ängstige mich, bitte bleib?

    Kapitel 1

    Für unbestimmte Zeit

    Wie der Himmel sich wölbt, so gebe ich mich dem Universum hin. Lasse das Rennen sein und schleiche, fühle mich durch die Mitte des Lebens. Und der Kern unseres Daseins, er mag mich noch empfangen. Er kann uns alle noch halten.

    »Okay, schnell!«, wispert Cosima und drückt die Tür zur Vorratskammer auf. Mit einem Rucksack bewaffnet, stibitze ich mich von Regal zu Regal und stopfe von allem etwas herein, wobei ich darauf achte, sättigende Lebensmittel und Wasser den süßen und delikaten Speisen vorzuziehen. Nervös blicke ich immer wieder über die Schulter hinweg zu Cosimas Hand, mit der sie die Tür einen minimalen Spalt weit offen hält, während sie aufmerksam Schmiere steht.

    Wir können nicht einfach ohne neuen Proviant gehen und so fest mir die Angst auch in den Knochen sitzt, folge ich dennoch Cosimas Anweisungen. Nun, da ich als Mörderin in den Nachrichten zu sehen gewesen bin, hat sich unsere Situation verschlechtert. Ich vertraue darauf, dass Cosima uns hier heraus bringt und einen Plan hat. Himmel, sie muss einfach einen Plan haben!

    Während sich Cash in der Garderobe nach festem Schuhwerk umsieht, packe ich meinen Rucksack und spüre einen Schauer über meinen Rücken laufen, sobald aus dem Flur auch nur das leiseste Geräusch an meine Ohren dringt.

    Als ich den Rucksack mit den frischen Lebensmitteln zugeschnürt und auf meinen Rücken gehievt habe, tippe ich Cosima auf die Schulter und sie lässt mich wieder aus der Kammer heraus. Im abgedunkelten Flur warten wir mit angehaltenem Atem auf Cash, der nur eine zähe Minute später die Treppe hinauf hechtet. Schuhe, Schlafsäcke, Decken und ein paar kleinere, in diesem Moment undefinierbare, Gegenstände in den Armen. Er schüttelt verneinend den Kopf, als Cosima fragt, ob ihn jemand bemerkt hat, dann schleichen wir uns durch die Flure Richtung Haustür. Dabei müssen wir erneut an dem Saal vorbei, in dem noch gespeist und laut musiziert wird – hoffentlich nicht ahnend, dass sie eine Mörderin für die Nacht aufgenommen haben.

    Mir dreht sich der Magen bei dem Gedanken um, doch wir haben keine Zeit, um meinem ängstlich hektischer werdendem Atem auf den Grund zu gehen. Alles passiert so schnell, dass ich nicht einmal mehr die Zeit finde, darüber nachzugrübeln. Schon stehen wir vor der Tür, schalten kurzerhand so viele Lichter wie möglich ab und entschwinden in die kühle Nacht, deren Luft sich wellenartig über unsere Körper spült. Wir bleiben nicht stehen, sondern werden von Cosima stetig vorangetrieben, die mit Leichtigkeit ein rasantes Tempo vorlegt. Wir machen nicht einmal eine Pause, als meine Lungen zu brennen beginnen und der Rucksack bei jedem Schritt hart in meinen Rücken fällt. Nach und nach sind es Cash und ich, die zurückfallen und keuchen – der Schweiß steht auf unseren Gesichtern und der Atem flimmert schmerzhaft durch meine Brust, während Cosima ihr Tempo nur geringfügig drosselt.

    »Es ist nicht mehr weit«, muntert sie uns leise auf, als wir das Clangebiet hinter uns lassen und das Licht der vereinzelten Häuser nicht mehr in unseren Augen schmerzt. »Wir schlagen unser Lager am besten im Wald auf«, sagt sie, »und halten Wache, falls sie uns … nun, verfolgen sollten.« Wir sind uns nicht sicher, ob jemand unsere Abreise bemerkt hat, ob sie überhaupt um diese Uhrzeit noch einmal die Nachrichten einschalten und ob sie mich erkennen würden. Auf dem Foto war ich ein wenig jünger, meine Haare waren gepflegter, mittlerweile befinde ich mich in einem verwahrlosten Zustand, den auch die Dusche am frühen Abend nicht hat verbessern können. Doch es ist unverkennbar mein Gesicht gewesen, das die Nachrichten gezeigt hatten, mit meinem Namen, meinem Status und meiner Familie, die nun auch weiß, dass ich den Kontinent gewechselt haben muss.

    Ich weiß schon längst nicht mehr, was ich tun soll und ob es nicht vielleicht besser wäre, aufzugeben und das Ende zu akzeptieren. Selbst wenn ich nun die Phase wechseln sollte, bin ich doch noch immer eine Mörderin. Wieder einmal hat das Leben mir bewiesen, dass es nicht besser wird. Es geht immer noch eine Stufe tiefer, eine Ebene unter dem, was ich zuvor schon für eine Hölle gehalten habe.

    Die Nacht ist lichtlos, lediglich die Quallenlichter in unseren Händen, die Cash zusammen mit den Decken und Schuhen aus der Garderobe gestohlen hat, spenden uns ein wenig Licht. Als wir die ersten Bäume erreichen und der Boden unter unseren Füßen knirscht und weicher wird, verlangsamen wir unsere Schritte und verfallen in ein normales Tempo. Cash schließt zu mir auf und schultert seine Decken ächzend neu. Schweigend mischen wir uns unter den Nebel und ich fühle mich wie ein nervöses Tier, von dessen Körper Dampfschwaden in die kühle Nacht aufsteigen.

    Sobald wir die ersten Bäume passiert haben, fängt es an zu nieseln und vereinzelte Tropfen fallen eisig auf uns nieder. Bevor sich unsere Sachen mit Wasser vollsaugen können, verfallen wir wieder in einen Laufschritt. Der Regen kriecht mir nach und nach in den Kragen und vermischt sich mit meinem Schweiß.

    Laub bleibt an unseren Füßen haften und es riecht nach aufgeweichter Erde um uns herum. Durch den Regenschleier und das dadurch nötig werdende Blinzeln werden wir langsamer. Ich weiß schon nicht mehr, wonach wir eigentlich suchen und will gerade zu Cosima aufschließen, um sie zu fragen, wohin wir noch rennen sollen, als sie stehen bleibt und sich mit einer an die Rippen gepressten Hand zu uns umdreht. Nachdem sie ein paar Mal heftig Luft geholt hat, deutet sie auf einen Felsen, der in einer Seite des abfallenden Hügels zu unserer Linken ruht und durch die geknickten Wipfel der Bäume ein wenig trockenen Platz spendet. Wir flüchten uns darunter und treten das hohe Gras platt, ehe wir unsere Decken und Schlafsäcke ausbreiten. Als wir fertig sind, jagt ein letzter Schauer über den Wald und die Tropfen platzen Blasen werfend am Rand des Felsens auf den Boden – nur ab und zu weht der Wind ein paar wenige Reste in unsere Richtung. Sonst befinden wir uns an einem geeigneten Ort, geschützt von den dicht stehenden Bäumen und dem Felsen, der uns in seinen trüben Schatten taucht. Ich lehne mich schwer atmend zurück. Den Schlafsack im Nacken und mit kalter Haut. Cosima greift nach meinem Arm und hakt sich bei mir unter. Ihre Lippen sind bläulich und in der Nässe, mit dem strähnigen Haar, sieht sie noch blasser und ausgemergelter aus als normalerweise schon.

    »Was machen wir jetzt?«, frage ich, sobald ich wieder ein wenig Atem geschöpft habe und der Regen zu einem sachten Hintergrundgeräusch geworden ist. Es wird dunkler und dunkler, selbst die Quallenlichter spenden kaum noch Licht und mir wird mulmig zumute bei dem Gedanken, zu rasten.

    »Wir sollten uns ausruhen. Vielleicht … etwas schlafen«, antwortet Cosima und räuspert sich. »Was meinst du, Cash?« Doch dieser zuckt nur mit den Schultern und steht von der Decke auf, wobei er sich deutlich beugen muss, um mit dem Kopf nicht gegen die dunkle Unterseite des Felsens zu stoßen. Über diese haben sich silbrige Lichtflecken – von den Quallen ausgehend – ausgebreitet.

    »In Ordnung. Dann bleiben wir hier, bis es wieder etwas heller wird«, beschließt sie trocken und wie auf Kommando entrinnt ihr ein schweres Gähnen. »Bleibst du wach und übernimmst die erste Wache, Cash?« Zur Antwort grummelt der Angesprochene ein wenig, doch ich kann sein Gesicht im Dunkeln nur vage erkennen und lasse mich zu leicht von Cosima einlullen, die ihre dreckigen Schuhe abstreift und in ihren Schlafsack schlüpft – genau so, wie sie ist, mit nassen Sachen und feuchten Haaren, die wild von ihrem Kopf abstehen. »Komm«, wendet sie sich leise an mich, »Wir brauchen die Ruhe. Cash weckt uns schon, wenn er auch ein wenig schlafen will.« Ich nicke widerstrebend und will eigentlich noch fragen, was wir in der Zukunft machen, die nach dieser Nacht kommt, und wie es weitergehen soll. Ich wage es jedoch nicht.

    Was soll das? Warum schützen Cash und Cosima mich? Wieso schicken sie mich nicht fort? Doch meine Zunge liegt schwer in meinem Mund vor Angst und Kälte, die sich mit jeder Sekunde fester in meine Knochen setzt und mich zum Zittern bringt. Also folge ich Cosimas Beispiel und lasse die Knoten in meiner Zunge Knoten sein, während meine Gedanken in meinem Kopf zu einem festen Knäul werden.

    Meine Füße fühlen sich an wie Eisklumpen, als ich mit ihnen in den Schlafsack schlüpfe und die Zehen bewege, ohne sie überhaupt spüren zu können. Es dauert etwas, bis der Schlafsack sich eng an meinen Körper anlegt und die Thermosensoren ihre Pflicht erfüllen, während sich das Kissen automatisch unter meinem Kopf mit Luft füllt und sich an meine Kopfform anpasst. Sofort geht es mir ein wenig besser und ich bin froh, Cosima und Cash zu haben, die an Dinge denken, die mir entfallen. So wie Skar auch immer an alles gedacht hat, indes ich ihm nur gefolgt bin. Ohne ihn hatte ich Angst, aufgeschmissen zu sein. Mittlerweile habe ich mehr Angst, Cash und Cosima zu verlieren. Meine momentanen Begleiter sind zu meinem neuen Halt geworden und der Gedanke, sie könnten mich allein lassen oder fort schicken oder ausliefern, raubt mir den Atem und lässt ein fieses Stechen durch meinen Körper jagen, das mich dazu bringen will, in Tränen auszubrechen.

    Also konzentriere ich mich auf Cosimas Atem in meinem Rücken – auf den einzigen Laut, der mir ein sicheres Gefühl gibt und mich ein wenig beruhigt, während das Geräusch leiser Tropfen und knackender Äste an meine Ohren dringt.

    Ab einem gewissen Punkt kannst du nicht mehr kontrollieren, wohin deine Gedanken dich lenken. Du kannst nicht mehr entscheiden, ob du schläfst oder wach bist, weil sich alles deiner Macht entzieht. Der Moment kurz vor dem Wegdämmern gehört dazu. Das ist es, was mir die größte Angst beschert: Kontrollverlust. Wenn das Leben wie ein fliegender Teppich unter den Füßen wegrutscht und die Knie gen Boden gehen, ohne einen Halt finden zu können. Dann wünsche ich mir, ich könnte meine Finger an die Zeiger der Uhr legen und sie halten und alles stoppen, was mein Herz zum Rasen bringt. Doch ich kann es nicht. Niemand kann das. Und der Schlaf macht es nicht besser. Der Schlaf macht alles echter, was man während der Wachphasen noch als Trugschluss abwerten kann. Der Schlaf bringt mich dazu, zu realisieren, dass mein Leben mich nicht will, dass niemand mich will und die Erde den Boden verflucht, auf dem ich wandle.

    Die Orientierungslosigkeit, als ich schließlich wieder aus dem Schlaf erwache wie aus einem dunklen Moor, weil jemand an meiner Schulter rüttelt, hat etwas Wohltuendes. Sie ist erfüllt von einer Unschuld, für die mir die Worte zum Beschreiben fehlen. Doch sobald mir unsere heikle, momentane Lage wieder bewusst wird, trifft mich die Realität wie ein Schlag auf eine entzündete Vene.

    Es presst mir den Atem aus der Lunge, sodass ich unkontrolliert auffahre und den Reißverschluss meines Schlafsackes mit einer heftigen Bewegung aufreiße. Die kühle Morgenluft umfasst meine Lunge schlagartig und ich berge meinen Kopf zwischen den Knien, um wieder zu Atem zu kommen.

    »Bist du wach?«, höre ich ein vages Raunen in meinem Rücken und blinzle zu Cash hinauf, der schräg von mir in seinem Schlafsack sitzt, eine Zigarette zwischen den Fingern balanciert und mich mit der anderen offenbar wach gerüttelt hat. Das Grau des anbrechenden Morgens liegt wie ein Farbfilter auf seinem Gesicht und die Strahlen der Sonne scheinen sich aus dem einzigen Grund in unsere Richtung zu verirren, um in seinem wirren, dunklen Haar aufblitzen zu können.

    »Jetzt ja«, erwidere ich auf seine Frage und streiche mir verlorene Strähnen aus dem Gesicht, ehe ich mich etwas drehe, um ihm beim Reden ins Gesicht zu schauen. Mit den Händen halte ich dabei meine Knöchel im Schneidersitz umfasst, um nicht aus Versehen hintenüber zu kippen. »Wo hast du die denn her?«, frage ich und deute auf seine Zigarette, die Rauchfäden in das kühle Morgengrauen legt.

    »Mitgehen lassen. Aus dem Clanhaus.« Cash zuckt mit den Schultern und dabei raschelt das Tütchen in seinem Schoß, von dem ich nicht fragen muss, was darin ist und woher er es hat.

    Vor einiger Zeit scheine ich aufgehört zu haben, es schlecht zu finden, mich zu betäuben. Jedenfalls durchzuckt mich augenblicklich das Verlangen, nach der Tüte zu greifen und eines der hauchdünnen Blättchen auf meiner Zunge zergehen zu lassen. Was heißt eines – vielleicht auch gleich zwei oder drei. Cashs Augen folgen meinem Blick und seine Finger heben langsam die Tüte auf. Er wiegt sie ganz kurz in den Händen und wirft sie schließlich zaghaft in meine Richtung, damit ich sie unbeholfen auffangen und den Inhalt begutachten kann.

    »Lass Cosima das nicht sehen, hm?«, raunt er mir zu und unsere Blicke treffen sich kurz. Mit schmerzhafter Ehrlichkeit erwidere ich seinen forschenden Blick. Nachdem ich zwei Blättchen an meinen Gaumen gelegt habe, verstecke ich das Tütchen in meinem Schlafsack und sehe Cash dabei zu, wie er sich auf seiner Decke ausstreckt und den Schlafsack hochzieht, die Augen wieder geschlossen. Langsam erhebe ich mich von meinem Lager, strecke mich und springe von meiner Decke auf die von Cash. Ich knie mich an seine Seite und schmiege mich mit meinem ganzen Gewicht an seinen Körper – drücke mein Kinn gegen seine Schulter, bis er mir Einlass in seine Arme gewährt und ein seichtes Lachen die seltsame Stimmung zwischen uns mit Spannung erfüllt.

    »Danke.« Unsere Wangen schmiegen sich aneinander und sein Atem gleitet an meinem vorbei, doch wir lassen uns nicht los und seine Achseln drücken sich fest um meine Schultern, als würde er Halt an mir finden. Dabei bin ich es, die nach Halt sucht und Energie aus der Wärme saugt, die sich zwischen unseren Körpern bildet.

    Die Vergänglichkeit eines jeden Augenblickes kann Stimmungen brechen, und auch in diesem Moment ist es so, dass wir uns voneinander lösen und er meinem Blick ausweicht. Doch das ist genau der Grund, weshalb ich mich ihm so verbunden fühle, weshalb ich lieber mit ihm schweige, als mit Cosima zu reden. Er drängt mich nicht, er lässt mich sein und er bietet an, ohne zu zwingen, weil er es nicht wagt, zu nahe zu kommen. Und ich weiß nicht warum ich gerade jetzt nach solch einer Nähe suche und traue mich nicht, es zu analysieren.

    Bei Skar war alles fremd und ein unbekanntes Gebiet, wenn es darum ging, ihm nahe zu kommen … Bei Cash ist es anders. Nicht einfacher und doch von einer Natürlichkeit, die mich ebenso zu verunsichern scheint wie ihn.

    »Ich weck dich, schlaf jetzt lieber«, räuspere ich mich und er lehnt sich wieder zurück, seine Beine an meinen Beinen. Ich setze mich im Schneidersitz an seine Seite und werfe seinen Zigarettenstummel den Hang hinab, ehe ich mir eines der Quallenlichter nehme und es ein wenig schüttle, damit es Licht abgibt.

    Der Morgen schleicht herbei und die Kälte wird nur langsam zu einer angenehmen Wärme. Während das Grunge mich benebelt, wandert die Sonne durch die Äste der Bäume und bald schon brennt ihr Licht in den Augen und auf der Haut. Von einigen Zweigen fallen letzte Tropfen als Zeugen des Regens zu Boden. Cosima liegt immer noch fest in ihren Schlafsack gewickelt da und ich warte ein wenig ab und beobachte den Wald und das Gestrüpp, durch das wir in der Nacht hergekommen sind. Wirklich geschützt sind wir hier nicht und doch schwebt an diesem Ort eine Art Harmonie in der Luft, die mich zur Ruhe kommen lässt.

    Cash hat einen unruhigen Schlaf, immer mal stößt sein Bein gegen meines oder seine Wange rutscht auf dem Kissen hin und her. Vielleicht träumt er genauso schlecht wie ich, denke ich. Vielleicht ist er auch in Erinnerungen gefangen, die ihn weiterbringen sollen und es doch nicht tun. Ob er sich davor fürchtet zu sterben, ohne die Wiedergeburt erreichen zu können? Ich weiß es nicht und ich weiß auch nicht, ob ich es jemals wagen werde, ihn danach zu fragen.

    Als das Grunge beginnt, in meinem Körper kleine Feuerstellen zu entfachen, die sich von Knochen zu Knochen hangeln, stehe ich auf und lockere meine Beine ein wenig. Unter dem Felsen herrscht ein kühler Schatten, während im direkten Licht, zwischen den Bäumen mit den weniger breiten Kronen, die Hitze unnachgiebig auf die Haut stößt. Ich rolle mit den Schultern und wage mich ein paar Schritte von unserem Lager fort, doch nicht zu weit, denn je mehr ich mich von Cosima und Cash entferne, umso unheimlicher wird mir der Wald mit dem trüb gefärbten Moos und den gelben Farnspitzen, zirpenden und schnatternden Vögeln und knackenden Ästen, als würde jeden Moment ein Tier vor meine Nase springen und mich zu Tode erschrecken. Ein Wald in all seiner Fremdheit.

    Als ich zum Lager zurückwanke, blinzelt Cosima aus ihrem Schlafsack zu mir herauf. Ihre Piercings am Haaransatz wölben sich, als sie gähnt und sich langsam aufrichtet. Ich greife nach meinen Schuhen und klopfe am Rand des Felsens den Dreck ab, ziehe danach meine Socken aus und schüttle auch diese aus, bevor ich beides wieder anziehe.

    »Warte«, ruft Cosima mir zu und wühlt in unserem Lagerhaufen, der aus den Rucksäcken besteht, die wir mit uns hergetragen haben, bis sie ein paar feste Lederschuhe zutage fördert, die Cash gestern ebenfalls gestohlen haben muss. »Zieh die an. Die sind besser als deine seltsamen Turnschuhe.«

    Zögernd greife ich nach ihnen und hänge doch mit dem Blick noch an meinen alten Turnschuhen, die Skar damals irgendwo für mich aufgetrieben hat. Wenn man auf der Flucht ist, gehen die Sachen leicht kaputt und alles wird wahnsinnig schnell dreckig. Nicht immer steht einem eine Dusche oder fließendes Wasser zur Verfügung, um sich und seine Sachen zu waschen.

    Einen nostalgischen Wert haben die Schuhe für mich definitiv, einerseits auf positive und andererseits auf negative Art und Weise. Denn der Gedanke an Skar löst nicht nur ein Gefühl in mir aus, sondern einen ganzen Wirbelsturm, der sich nicht legen will. Also setze ich mich wieder auf meine Decke, baue beide Schuhpaare vor mir auf und beobachte Cosima dabei, wie sie ebenfalls ein Paar der guten, gestohlenen Schuhe anzieht und dann ihren Schlafsack aufrollt.

    »Weckst du Cash?«, fragt sie mich und ich nicke, doch dann beschließe ich, vorher noch meine Fragen zu stellen. Ich will Cash nicht ausschließen, doch ich habe das Gefühl, dass es einfacher ist, wenn ich vorerst nur sie frage.

    »Werden wir den ganzen Weg zu deiner Wohnung laufen? In die Stadt?« Ich achte darauf, nicht so laut zu sprechen, um Cash nicht zu wecken. »Ich meine, das ist doch unser Ziel, nicht wahr? Oder … hat sich etwas geändert?«

    »Es hat sich nichts geändert«, antwortet Cosima hastig und hält in ihrer Bewegung inne, kurz bevor sie den Schlafsack endgültig zuschnüren kann. »Wir gehen zurück und werden einen Weg finden, dir zu helfen.« Sie schenkt mir ein schiefes Lächeln, das mich überzeugen kann, dann schnürt sie den Schlafsack fest und reibt sich mit der Handfläche über den kurzgeschorenen, schwarz-roten Schädel. »Hast du etwa Angst, dass wir dich im Stich lassen?« Ihre Augen schnellen zu mir, als würde sie jede meiner Reaktionen prüfen wollen. »Das brauchst du nicht! Das weißt du doch! Cash ist … nun ja, Cash, er wird nichts unternehmen, weder etwas Positives, noch etwas Negatives. Aber ich … ich bin auf deiner Seite, das weißt du doch, nicht wahr?« Sie tritt auf mich zu und lässt sich kurzerhand mir gegenüber im Schneidersitz nieder.

    »Auf der Seite einer Mörderin?«, frage ich zweifelnd und kann das Beben nicht von meiner Stimme fernhalten.

    »Auf der Seite einer Freundin, die einen Fehler begangen hat. Außerdem war es Notwehr. Das war es doch?«

    »Ja. Ich … ich weiß nicht. Ich war … high«, gebe ich zu und weiß es ist das Grunge, das mich ehrlich werden lässt. Kurzerhand halte ich wieder den Mund und presse die Lippen aufeinander, als könnte es mich davon abhalten, mehr zu erzählen. Dabei schwindet die Vernunft mit jedem Gramm, mit jeder Sekunde – und das ist es, was mir wahnsinnige Angst in die Knochen jagt.

    »Es war Notwehr!«, bestimmt Cosima laut und blickt zu Cash hinüber, der sich auf seiner Decke regt und die Arme in die Luft streckt, so als würde er die Sonne vom Himmel klauben wollen. »Wach auf, Nichtsnutz!«, ruft sie laut zu ihm herüber und er legt die Hände auf dem Gesicht ab, das er uns langsam zugewendet hat.

    »Komm jetzt, hör auf darüber nachzudenken. Du bist nicht schuldig. Weder für das eine, noch für das andere sollte dich jemand in Rechenschaft ziehen. Ich pass auf dich auf! Und uns wird schon etwas einfallen.« Mit diesen Worten stemmt sie sich wieder auf die Füße und erklärt das Thema als beendet.

    Ich weiß nicht, wie sie es schafft, die Zweifel fortzuwischen, doch sobald sie anfängt, uns anzustacheln und dazu zu drängen, schnell unsere Sachen zu packen, damit wir weiterreisen können, höre auch ich für kurze Zeit auf, mir Sorgen darüber zu machen. Ihre Anwesenheit macht mich zumindest ein klein wenig stärker.

    Kapitel 2

    Ein Jungblut im Dunkel, ein Greis im puren Licht

    Taubheit. Am ganzen Körper umschließt mich das Nichts, als wären meine Knochen federleicht und mein Fleisch aus Wolkenstoff gemacht. Hinter den Lidern ist schon lange nichts mehr ruhig. Alles dreht sich und doch schaffe ich es, zu gehen und nicht in mich zusammenzusacken. In der Hitze flirren die Gedanken noch haltloser durch den schweren Kopf – denn bei der morgendlichen Wärme ist es nicht geblieben. Sie wurde abgelöst durch eine pralle, alles zum Kochen bringende Sonne, die sich schwer auf unsere Gesichter drückt. Cosima bemüht sich, uns durch Schatten zu führen und sich mithilfe des Koordinators einen Überblick zu verschaffen. Derweil versuchen Cash und ich, uns – mit Grunge im Blut – nichts anmerken zu lassen. Doch selbst aus dem Augenwinkel sehe ich den Schweiß auf Cashs Gesicht ausbrechen, seine Adern, die hervortreten und die Blässe, die sich zusammen mit einer seltsamen Leichtigkeit auf sein Gesicht geschoben hat. Und ich weiß, er ist mein Spiegelbild.

    Ich fühle mich leer und taub und die Haut flammt unter den Achseln, als würde dort ein eigenes, kleines Feuer brennen, das niemand löschen kann und welches sich von dort züngelnd auf jeden Millimeter meines Körpers ausbreitet.

    Während wir anfangs noch durch das Gestrüpp gewandert sind, leitet Cosima uns nach einiger Zeit zu einem sandigen Pfad, auf dem es angenehmer zu wandern ist, auch wenn es vielleicht unachtsam sein mag, sich auf den Präsentierteller zu begeben.

    Als die Sonne ihr glänzendes Licht über uns ausbreitet, ist selbst Cosima zu erledigt, um sich noch durch hügelige Waldgegenden zu schlagen und Büsche entzwei zu biegen. Sie hält den Koordinator locker in ihrer rechten Hand und fächelt sich mithilfe des Shirts ein wenig frische Luft zu.

    Ich benutze ihren Rücken als Fixpunkt – und als würde sie das spüren, dreht sie sich immer mal um oder wendet nur den Kopf, um sich zu vergewissern, dass Cash und ich noch hinter ihr her stolpern.

    Schließlich entflieht ihren Lippen ein leichtes Seufzen und sie wartet, bis ich sie eingeholt habe und ebenfalls stehen bleibe. Cash stützt sich müde mit den Händen an den eigenen Knien ab und atmet tief durch.

    »Geht's?«, fragt Cosima und betrachtet Cash mit von Müdigkeit gezeichnetem Gesicht. Er nickt zur Antwort, sagt jedoch nichts.

    »Können wir eine Pause machen?«, frage ich hoffnungsvoll und sie nickt.

    »Okay, aber nicht hier auf dem Weg. Lasst uns noch ein wenig in den Wald gehen, wo wir geschützter sind. Vor … nun, egal, ihr wisst schon, was ich meine.« Dass der Weg sicherer vor Tieren ist, ist uns bewusst, doch das ist nicht die Sicherheit, die uns wichtiger ist. Was passiert, wenn uns Häscher erwischen, ist unklar und doch malen wir es uns in unseren Köpfen als grausamer aus. Dabei weiß ich nicht, ob ich oder meine beiden Begleiter es dann besser haben würden. Mich würden sie wahrscheinlich einfach töten, um den Keim zu tilgen. Doch Cosima? Als Verräterin? Was würde ihr angetan werden? Und Cash? Der nichts macht und keine Treuebekundungen ausspricht – würde er durch seine bloße Anwesenheit ebenfalls als Verräter gelten?

    Ich weiß es nicht und die Wärme und Anstrengung zermürbt mein Denken. Wir machen uns wieder auf und stapfen seitlich in den Wald hinein, peilen einen spitzen Winkel zu unserem Pfad an, um sowohl vorwärts als auch seitwärts zu kommen.

    Sobald wir weit genug entfernt sind, um den Pfad nicht mehr im Blickwinkel zu haben und auch selbst durch die Bäume vom Pfad aus nicht gesehen werden können, setzen wir unsere Rucksäcke und Decken ab, um uns auf ihnen niederzulassen.

    Cosima kramt aus dem Proviant ein paar trockene Rauchwürste, Brot und Äpfel hervor und schneidet jedem mithilfe eines stumpfen Messers ein Stück vom Brot ab. Zu Beginn sitzen wir stumm und essen, lassen das Licht sich mit dem Schatten abwechseln und die Wärme Kreise ziehen. Erst, als wir den gröbsten Hunger und Durst mit Essen und Wasser gestillt haben, werden wir gesprächiger. Cosima sagt, dass wir vielleicht in einer der umliegenden Städte ein Auto oder einen Flieger bekommen können, sodass wir nicht den ganzen Weg laufen müssen. Doch wenn ich daran denke, dass wir nach wie vor in ein und demselben Wald von heute Morgen sind, habe ich das Gefühl, als wäre die nächste Stadt einen Marsch von mehreren, anstrengenden Wochen entfernt.

    In den stillen Zeiten, in denen keiner von uns dreien etwas sagt, verspüre ich den Drang, reden zu müssen. Und ich tue es auch, obwohl ich über meine eigenen Worte stolpere.

    »Ich hatte in der Bibliothek … ein paar Erinnerungsflashs«, beginne ich behutsam und doch bringt der direkte Themenwandel die Ruhe in unserer Gruppe zum Kippen.

    »Aber du hast nicht die Phase gewechselt«, stellt Cash fest und wirft mir einen ruhigen Blick zu. Ich weiß, er will mir damit helfen, während Cosima sofort zu fragen anfängt und weniger behutsam vorgeht.

    »Was hast du gesehen? Hat Skar auch etwas gesehen?«

    »Nein«, antworte ich und zucke mit den Schultern, um die Eiseskälte zu vertreiben, die sich bei der Erwähnung von Skar durch meine Brust schleicht. »Nein, es ging einzig und allein um meine Erinnerung … er … ich weiß nicht, er hat mir … nie von seinen Träumen erzählt.«

    Cosima stößt heftig den Atem aus, den sie angehalten hat und kratzt sich seitlich am Hals.

    »Was hast du denn gesehen?« Diesmal ist ihre Stimme sanfter und weniger aufdringlich und ich lasse mich dazu hinreißen, ihr zuzulächeln, damit sie sich nicht schlecht fühlt. Ich verstehe, was sie von mir will. Ich weiß, dass das ihre Art mir zu helfen ist, auch wenn mich das Reden darüber beunruhigt und tief im Inneren entwurzelt.

    »Ich … bin mir nicht sicher. Es ist alles vermischt. Die Realität und … die Erinnerung. Ich war

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