Der befreite Jesus: Unterwegs zum erwachsenen Christusglauben
Von Wolfgang Pauly
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Über dieses E-Book
Jesus ist eingemauert in Dogmen und Kirchenrituale, die eine lebendige Erfahrung mit ihm erschweren, wenn nicht gar verhindern. Jesus wird bedeutungslos, weil er in festgefahrenen kirchlichen Lehren begraben ist.
Einen Zugang zu Jesus neu zu bahnen ist das Anliegen des Buches von Wolfgang Pauly. Wie kann man in unserer Zeit von einem Menschen reden, der in der antiken Welt gelebt hat, dessen Leben nach ihren Bedingungen überliefert und gedeutet wurde? Kann ein Mensch, der so tragisch gestorben ist, heute noch Maßstäbe setzen für ein sinnvolles, gelingendes Leben?
Das Bild Jesu wird von Übermalungen und Traditionen befreit, um einen erwachsenen Christusglauben möglich zu machen. Die Frage, wer Jesus für einen selbst ist, kann einem niemand abnehmen. Und doch ist diese Frage lebensentscheidend. Paulys Buch hilft, einen eigenen Glauben an Jesus zu finden und an ihm orientiert heilsam zu leben.
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Der befreite Jesus - Wolfgang Pauly
Über dieses Buch
Kann Jesus heute noch maßgeblich sein?
Jesus ist eingemauert in Dogmen und Kirchenrituale, die eine lebendige Erfahrung mit ihm erschweren, wenn nicht gar verhindern. Jesus wird bedeutungslos, weil er in festgefahrenen kirchlichen Lehren begraben ist.
Einen Zugang zu Jesus neu zu bahnen ist das Anliegen des Buches von Wolfgang Pauly. Wie kann man in unserer Zeit von einem Menschen reden, der in der antiken Welt gelebt hat, dessen Leben nach ihren Bedingungen überliefert und gedeutet wurde? Kann ein Mensch, der so tragisch gestorben ist, heute noch Maßstäbe setzen für ein sinnvolles, gelingendes Leben?
Das Bild Jesu wird von Übermalungen und Traditionen befreit, um einen erwachsenen Christusglauben möglich zu machen. Die Frage, wer Jesus für einen selbst ist, kann einem niemand abnehmen. Und doch ist diese Frage lebensentscheidend. Paulys Buch hilft, einen eigenen Glauben an Jesus zu finden und an ihm orientiert heilsam zu leben.
Über den Autor
Prof. Dr. Wolfgang Pauly, geboren 1954, stammt aus Sulzbach/Saar. Studium der katholischen Theologie, Philosophie und Germanistik an den Universitäten in Saarbrücken, Tübingen und Trier. Lehramt für Gymnasien, Diplom-Theologe, Akademischer Direktor am Institut für katholische Theologie an der Universität Koblenz-Landau, Abteilung Landau. Arbeitsschwerpunkte Dogmatik, Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen (in Auswahl): »Abschied vom Kinderglauben. Ein Kursbuch für aufgeklärtes Christsein« (2008, 3. Auflage 2012); »Martin Buber. Ein Leben im Dialog« (2010); »Geschichte der Christlichen Theologie« (2008); »Wahrheit und Konsens. Die Erkenntnistheorie von Jürgen Habermas und ihre theologische Relevanz« (1989).
Für Katharina Weingärtner und Christine Mohrbacher
Einleitung
Jesus von Nazareth ist tot. Er starb vor fast 2000 Jahren im Alter von etwa 35 Jahren im von den Römern besetzten Palästina einen qualvollen Tod am Kreuz. Diese Art grausamen Sterbens war damals keine Seltenheit. Im Jahr 71 vor Christus waren 6000 Aufständische um den Gladiator Spartakus in einer Schlacht mit dem römischen Heer gefangen genommen und gekreuzigt worden. An der Via Appia von Rom zum Hafen in Ostia hatte Kreuz neben Kreuz gestanden. Der Aufstand war damit beendet, Spartakus weitgehend vergessen – wenngleich sich immer wieder kleinere revolutionäre Gruppen – wie zum Beispiel 1919 in Deutschland nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs – mit ihm und seinen Ideen identifizierten. Und auch »in der Gegenwart gibt es Tausende von Personen, deren Tod dem des Jesus von Nazareth sehr ähnlich ist und deren Todesgründe – also jene, die ihre Henker nennen – der Anklage gegen Jesus ähneln« (Sobrino 1998, S. 94).
Jesus aber ist über 2000 Jahre unvergessen geblieben. Ob von ihm so gewollt oder nicht, es ist eine globale Gemeinschaft von Menschen entstanden, die die Erinnerung an ihn in Wort und Tat wachhält. Ab der dritten Generation nach seinem Tod haben Autoren und Redakteure systematisch mündliche und bereits schriftlich vorliegende kleine Quellen gesammelt und sie zu einem zusammenhängenden Text zusammengefügt. Es kam ihnen dabei in ihrer unterschiedlichen und teilweise sogar widersprüchlichen Darstellung nicht auf die formale Richtigkeit der dargestellten Fakten an. Sie wollten vielmehr zeigen, dass dieser Jesus auch nach seinem Tod für die Menschen in deren jeweiliger Lebenszeit von Bedeutung ist. Deswegen nannte zuerst der »Markus« genannte unbekannte Autor seine Darstellung »Evangelium«: »Frohe Botschaft«. Gleichzeitig deutete er – wie später auch die anderen Evangelisten – die Person und das Werk des Jesus von Nazareth für sich und seinen Leserkreis. Alle Autoren der biblischen Schriften haben Jesus selbst persönlich nie kennengelernt. Zu ihrer Deutung gebrauchten sie Titel aus ihrem jeweiligen kulturellen und religiösen Umfeld, obwohl Jesus selbst diese für sich wohl nie beanspruchte hatte: »Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes« (Mk. 1, 1).
Was hat Menschen über zwei Jahrtausende an diesem Jesus interessiert? Was hat sie so begeistert, dass sie seinen Lebensvollzug auch auf die eigene Lebenspraxis anwandten und ihm nachfolgten? Warum rufen auch heute Menschen in aller Welt Jesus an in Momenten des Glücks oder auch der Verzweiflung? Warum benennen im Jahr 2011 in einer repräsentativen Umfrage in den USA die Befragten Jesus als die zweitwichtigste Person der Weltgeschichte nach Abraham Lincoln und weit vor Martin Luther King und Mahatma Gandhi (Public Policy Polling, Raleigh/Nord Carolina)? Was macht ihn so bedeutend, dass selbst das deutsche Magazin »Der Spiegel« diesem Jesus ein Sonderheft widmete (Der Spiegel, Nr. 6/2011)? Und warum wissen trotz einer unübersehbaren Fülle von Informationsquellen umgekehrt viele bei einer genaueren Nachfrage so wenig über ihn und über die Geschichte der Deutung seiner Person und seines Werkes?
Wie alles im menschlichen Leben war auch die Berufung auf Jesus im Laufe der Zeiten zweideutig. In seinem Namen engagieren sich Menschen seit fast 2000 Jahren für andere; viele gaben ihr Leben für andere hin. Umgekehrt eroberten Menschen mit Berufung auf ihn fremde Länder und versklavten und töteten die dort Lebenden.
Bis zur Gegenwart ist das öffentliche Leben des westlichen Kulturkreises von Jesus und der ihn verehrenden Glaubensgemeinschaft gezeichnet. Er prägt den Jahreskalender sowie gemäß seiner jüdischen Herkunft auch die Struktur der Woche mit dem Sabbat oder dem Sonntag als Höhepunkt. Das Kreuz als Zeichen seines schmerzhaften Todes hängt in Schulen und Gerichtsgebäuden, es steht als »Gipfelkreuz« auf vielen Bergen.
Obwohl auch heute viele Menschen ihr Leben nach den Maßstäben, die von ihm überliefert sind, ausrichten, geraten Jesus und seine Botschaft bei anderen immer stärker in Vergessenheit. Oder er wird einerseits zur Kultfigur verkitscht, andererseits zum romantischen Mythos verharmlost.
Wie kann man in Zeiten der Postmoderne von einem Menschen reden, der unter den Bedingungen der antiken Welt gelebt hat und dessen Leben unter deren Bedingungen überliefert und gedeutet wurde? Wäre es überhaupt ein Verlust, wenn er nach 2000 Jahren vergessen und damit endgültig tot wäre? Kann ein Mensch, der so tragisch gestorben ist, heute noch Maßstäbe setzen für ein gelungenes und glückliches Leben?
Fragen über Fragen. Und dabei ist es gerade das Kennzeichen der globalen und zugleich äußerst differenzierten Einheitswelt der Gegenwart, dass es auf so unterschiedliche Fragen keine eindeutigen und für alle gültigen Antworten geben kann. Zudem können Antworten auf Fragen der persönlichen Existenz nicht einfach aus vorgegebenen Zusammenhängen abgeleitet werden. Jeder, der so grundlegende Fragen nach dem Gelingen des Lebens stellt, ist mit seinem ganzen Wesen in die Antwort mit eingebunden, wenn diese nicht einfach fremdbestimmt sein soll. Sowenig andere für ihn leben können, sowenig können andere oder eine Institution ihm die Antworten seines Lebens präsentieren.
Teil 1: Was können wir wissen?
Der historische Jesus
Die späte Suche nach dem historischen Jesus
Bis ins 18. Jahrhundert hätte man die Frage, was vom Leben und Werk des Jesus von Nazareth als historisch gesicherte Erkenntnis gelten kann, als unverständlich abgetan, wenn nicht gar als Blasphemie verurteilt. Die Texte des Neuen Testaments und insbesondere die Evangelien lieferten Geschichten und Daten, die als göttlich offenbart galten. Eine Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus als Vorbild eines an Gott glaubenden Menschen und dem Christus, an den selbst geglaubt wurde, schien unmöglich. Erst die westeuropäische Aufklärung mit ihrer Betonung der Vernunft ließ einen analytischen Vergleich der einzelnen Evangelien zu, der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen ihnen offenlegte und damit auch immer stärker zwischen der historischen Person und dem Inhalt des Glaubens unterschied. Ziel dieser Bemühung sollte der Nachweis sein, dass die biblische Überlieferung nicht unvernünftig sei, sondern dass die beschriebenen Geschichten zumindest in ihren Grundaussagen auch der Historie entsprächen. Insofern sollte historische Sicherheit auch die Sicherheit im Glauben fördern.
Dieses Anliegen war nicht ungefährlich. Das Judentum der Neuzeit zeigt ein eindringliches Beispiel dafür, wohin es führen kann, wenn Quellenkritik und Textvergleich der biblischen Schriften zu Anfragen und Erkenntnissen führen, die traditionelle Deutungen und Machtstrukturen infrage stellen. Als 1670 der große jüdische Gelehrte Baruch de Spinoza (1632-1677) seinen »Theologisch-politischen Traktat« veröffentlichte, konnte er dies nur anonym tun. Wer wie Spinoza die Autorschaft des Mose für die fünf Bücher Mose hinterfragte und eine lange Entwicklungsgeschichte dieser Texte sowie viele unbekannte Autoren postulierte, der musste mit starker Kritik und Publikationsverbot rechnen – was 1674 für den »Traktat« auch eintrat. Nach dem Bekanntwerden seiner Autorschaft musste Spinoza seine Amsterdamer Synagoge verlassen.
Im Christentum wagte es der Hamburger Orientalist Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) zu seinen Lebzeiten überhaupt nicht, seinen literarischen und sprachlichen Vergleich der Evangelien der Öffentlichkeit zu übergeben. Erst zehn Jahre nach seinem Tod publiziert Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) einen ersten Teil dieser umfangreichen Untersuchung, jedoch auch wiederum ohne den Namen des Autors zu nennen. Gerade die ersten drei Evangelien, die ursprünglich anonym waren und erst später den Autoren Markus, Matthäus und Lukas zugeordnet wurden, zeigten laut Reimarus einen Jesus, der mit seinem Anspruch auf Messianität gescheitert ist. Um dieses Scheitern zu kaschieren, stahlen nach Reimarus die Jünger den Leichnam und schufen mit den Erzählungen vom Auferstandenen die Voraussetzung für die Entstehung des Glaubens an den jetzt als Messias-Christus verehrten Jesus.
Viele weitere ähnliche Schriften folgten. Der protestantische Theologe und Dichter Johann Gottfried Herder (1744-1803) erkennt in seinem 1798 erschienenen Werk mit dem Titel »Vom Erlöser der Menschen. Nach unseren drei ersten Evangelien« die Wundergeschichten des Neuen Testaments nicht als historische Vorgänge. Ihre Aussagekraft liege nach Herder vielmehr darin, als »Ehrengefolge« die Bedeutung Jesu auszumalen.
Als David Friedrich Strauß (1808-1874) in seinem »Leben Jesu« (1835) behauptete, das Leben des historischen Jesu sei für den Glaubensvollzug überhaupt irrelevant, kostete ihn das die Berufung auf eine Dogmatik-Professur in Zürich. Die neutestamentlichen Attribute Jesu – wie zum Beispiel seine Benennung als Gottessohn – sind für Strauß Ausdruck der höchsten und vornehmsten Idee des menschlichen Denkens. Sie sind Deutungen, Interpretamente und nicht historische Fakten.
Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt, um von der Bedeutungslosigkeit des historischen Jesus für den Glauben zu dem Schluss zu kommen, dass ein historischer Jesus überhaupt nie existiert hätte. Bruno Bauer (1809-1882) erkennt in seinen Büchern »Kritik der evangelischen Geschichte des Johannes« (1840) und »Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker« (1841/1842) in Jesus das romanhaft geschilderte Bild eines entrechteten und ausgegrenzten Menschen. Es bleibt für Bauer allerdings die Hochachtung vor dieser Romanfigur, die auch ohne historische Verankerung das Leid und Elend der Menschen anschaubar macht.
Geschichte verläuft nie geradlinig und eindimensional. Viele Philosophen und Dichter sahen in der Aufklärung mit der starken Betonung der Vernunft eine Vernachlässigung der emotionalen Seite des Menschen. Zudem verlaufen geistige und kulturelle Prozesse nicht unabhängig von ihren gesellschaftspolitischen und auch ökonomischen Rahmenbedingungen. Nicht wenige Menschen sahen in der Thronbesteigung Napoleons die Ziele der Französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verraten. Enttäuscht wandten sie sich in der nachfolgenden Zeit in ihren eigenen Arbeiten den Mythen, Märchen und Träumen zu. Die so entstandene Romantik betonte in Musik, bildender Kunst und Literatur das Gefühl anstelle der Rationalität. »Herz« statt »Kopf« lautete nun die Parole.
Dies gilt auch für die Theologen und religiösen Schriftsteller jener Zeit. Exemplarisch für diese romantische Wende vom »Kopf« zum »Herzen« ist Clemens Brentano (1778-1842). Neben seinen zahlreichen eigenen Werken, seinen Märchen und Liedern beschäftigte er sich auch mit den Visionen der Mystikerin Anna Katharina Emmerich (1774-1824). Ausführlich notierte er deren Schilderungen des Lebens Jesu und insbesondere ihre Nachempfindung der jesuanischen Leidensgeschichte, die weit mehr Details liefert als die biblische Tradition. Für viele Leser sind diese visionären Aufzeichnungen damals wie heute ein willkommener Ersatz für bisher schmerzhaft vermisste historische Berichte und Beweise.
Als 1906 der Pfarrer, Organist und später weltbekannte Mediziner Albert Schweitzer (1875-1965) in einem umfangreichen Werk die »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« beschreibt, kann er im Vorwort nur feststellen: »Dieses Buch kann zuletzt nicht anders, als dem Irrewerden an dem historischen Jesus, wie ihn die moderne Theologie zeichnet, Ausdruck zu geben, weil dieses Irrewerden ein Resultat des Einblicks in den gesamten Verlauf der Leben-Jesu-Forschung ist« (Schweitzer 1977, Bd. I, S. 27). Somit ist es »der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könne ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück« (Schweitzer 1977, Bd. II, S. 620). All die zahlreichen Versuche, möglichst viele historisch unbestreitbare Fakten aufzuzeigen, scheiterten bereits an der dürftigen Quellenlage. Zudem ist es – wie Schweitzer zu Recht feststellt – gar nicht die Absicht der biblischen Quellen, Fakten zu benennen, sondern Glaubenszeugnisse zu überliefern, um dadurch erneut Glauben zu wecken.
Auch nach Albert Schweitzer ging die Diskussion um den historischen Jesus weiter. Der evangelische Exeget Ernst Käsemann (1906-1998) stellte 1954 fest: »200 Jahre lang hat die kritische Forschung den historischen Jesus aus den Fesseln kirchlicher Dogmatik zu befreien gesucht, um am Ende des Weges zu erkennen, daß ein solcher Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt war, weil wir nur durch die urchristliche Predigt und die damit verknüpfte kirchliche Dogmatik überhaupt etwas von dem historischen Jesus erfahren und diesen gar nicht mehr säuberlich und einigermaßen ausreichend vom gepredigten und geglaubten abheben können« (Käsemann 1970, S. 189). Der Plan, das exakte Leben des Jesus von Nazareth zu rekonstruieren, ist trotz aller vielfältigen Versuche gescheitert. Gleichwohl ist diese Frage nicht einfach auszublenden. Denn: »Die Frage nach dem historischen Jesus ist legitim die Frage nach der Kontinuität des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten« (Käsemann 1970, S. 213).
Zwar standen »auf katholischer Seite die Ampeln für die Leben-Jesu-Forschung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf Rot. Die Rückfrage nach Jesus geschah bis dahin unter dem traditionalistischen ideologischen Vorzeichen« (Selvatico/Strahm 2010, S. 42). Mythische Ausgestaltungen des Lebens und der Botschaft Jesu von Nazareth beanspruchten häufig historische Faktizität. Diese Diagnose bestätigt sich bis hin zu aktuellen Publikationen (vgl. Ratzinger/Benedikt XVI. 2007/2011/2012).
Andererseits haben auch katholische Exegeten die Enzyklika »Divino afflante Spiritu« von Papst Pius XII. aus dem Jahre 1943 ernst genommen. Sie haben die dort geforderten Methoden der Quellenkritik, der Sprachanalyse und des religionsgeschichtlichen Vergleichs bei der wissenschaftlichen Untersuchung biblischer Schriften in ihren eigenen Studien angewandt. Die Frage nach dem historischen Jesus galt ihnen als legitim und als Korrektiv gegenüber einer dogmatischen Vereinnahmung: »Der Ansatz beim Menschen Jesus von Nazareth ist also nicht nur aus methodischen Gründen gerechtfertigt, sondern auch aus theologischen Gründen; denn es gibt keine neutestamentliche Aussage über Jesus, die sich nicht auf dieses Subjekt bezöge, die also rein spekulativ ohne Rücksicht auf den geschichtlichen Jesus gemacht worden wäre. Gegenstand des neutestamentlichen Christuszeugnisses ist nicht ein Himmelwesen, das in menschlicher Verkleidung eine Zeitlang auf Erden weilte, sondern der Mensch Jesus« (Blank 1972, S. 78).
Dieser Mensch Jesus von Nazareth ist somit bis heute zu Recht Gegenstand der historischen und der theologischen Forschung (vgl. Theissen/Merz 1996; Schröter 2001; Strotmann 2012). Die Bedeutung des historisch Feststellbaren für den Glaubensvollzug der Menschen ist allerdings eine andere Frage.
Die historischen Fakten
Im Gegensatz zu vielen Äußerungen, die auch in der Zeit nach Bruno Bauer die historische Existenz des Jesus von Nazareth bezweifelten oder kategorisch abstritten, kann dessen Existenz nach wissenschaftlichen Kriterien heute nicht mehr bestritten werden (vgl. Walter 2012, S. 159 ff.). Zu den Zeugnissen der Bekenntnisliteratur des Neuen Testaments kommen auch außerbiblische Quellen. Der von der römischen Familie der Flavier adoptierte jüdische Schriftsteller und Historiker Josephus beschreibt in seinem Werk »Jüdische Altertümer« im Jahr 93/94 Jesus als Initiator einer jüdischen Sekte. Dessen historische Existenz wird vorausgesetzt, obgleich Flavius Josephus keine biografischen Details liefert, die über die in den Evangelien bereits genannten hinausgehen. Der römische Chronist Tacitus (55-125) erwähnt die ersten Christen bei seiner Darstellung des Brandes von Rom im Jahre 64 n. Chr. In diesem Zusammenhang schreibt er, dass diese innerjüdische Sekte auf einen »Christus« genannten Gründer zurückgeht, der unter der Regierung des römischen Kaisers Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet wurde. Auch der römische Historiker Sueton (70-140) nennt in seiner Beschreibung der Lebensläufe römischer Kaiser einen »Chrestus« im Zusammenhang mit Unruhen in Rom. Insofern ist die historische Existenz Jesu so gut belegt wie die anderer Gestalten der Antike auch.
Welche historischen Details lassen sich im Einzelnen sicher aus den biblischen und außerbiblischen Quellen herausarbeiten?
Jesus – lebenslang Jude
Bereits in der Zeit der Trennung der frühchristlichen Gemeinden von ihren jüdischen Heimatgemeinden um das Jahr 100 sehen viele eine Distanz oder sogar einen Gegensatz zwischen Leben und Werk Jesu und dem Judentum. Es heißt, die Verheißungen des Alten Bundes seien in Jesus Christus erfüllt. Die Juden hätten dies nicht erkannt und seien letztlich sogar für die Verurteilung Jesu mit verantwortlich (vgl. Joh. 19, 14 ff.). Jüdisches Gesetz einerseits und christliche Freiheit und Gnade andererseits galten als grundlegende und unüberwindbare Gegensätze. Über 2000 Jahre führte diese Gegenüberstellung zu Abgrenzung, Geringschätzung, Verfolgung und sogar zu vielfachem Tod.
Erst nach der Katastrophe der Schoah mehren sich auch in den christlichen Kirchen die Stimmen, die Jesus als Kind seines jüdischen Volkes und als Sohn der Religion seiner Väter und Mütter ernst nehmen.
Der Gott des Jesus von Nazareth ist der Gott Israels (vgl. Mussner 1999, S. 90 f.). Es besteht somit »Kontinuität und Identität Gottes, den Jesus verkündigt, mit dem, der in den heiligen Schriften Israels verkündigt wird« (Frankemölle 2003, S. 59). Jesus sprengt nicht die Vorstellungen des damaligen Judentums. Selbst seine überlieferte Anrede Gottes als »Abba«, »Vater«, ist im rabbinischen Judentum des babylonischen Talmuds zu finden (vgl. ebd., S. 23). Bereits im zweiten vorchristlichen Jahrhundert heißt es im Buch Jesus Sirach: »Ich rief: Herr, mein Vater bist du, mein Gott, mein rettender Held« (Sir. 51, 10).
Lange wurde auch in den »Antithesen« der Bergpredigt des Matthäusevangeliums ein Gegensatz zwischen der jesuanischen Rede und der Tradition der hebräischen Bibel gesehen. Heißt es doch dort vielfach: »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist«, um dann fortzufahren: »Ich aber sage euch« (vgl. Mt. 5, 23 ff.). Doch auch dieses Stilmittel der Verkündigung ist »durchaus bei Rabbinern vielfach belegt« (Frankemölle 2003, S. 23).
Der später von den Christen als »Altes Testament« bezeichnete Teil der Bibel ist für Jesus »die Schrift«, deren redaktionelle Endgestalt zu seinen Lebzeiten allerdings noch nicht abgeschlossen war. Sein ganzes Umfeld war jüdisch. Seine Eltern, Verwandten und Jünger waren gläubige und den Anweisungen der Thora folgende Juden. Seine Sprache war die Umgangssprache Aramäisch. Über Kenntnisse der hebräischen Sprache, wie sie in der Synagoge verwendet wurde, verfügte er sehr wahrscheinlich. Über eventuelle Kenntnisse des volkstümlichen Griechischen, »Koiné«, wie es auch in seiner galiläischen Heimat um den See Genezareth gesprochen wurde, wissen wir nichts. Er lebte unter den politischen Bedingungen eines besetzten Landes, das die Römer im Jahre 63 v. Chr. in ihr Weltreich integriert hatten, was zu vielen Spannungen und Aufständen führte (vgl. Rabinowitz 2009).
Weil dies alles immer wieder übersehen wurde und wird, ist es auch gegenwärtig nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass Jesus ein gläubiger Jude war und dies sein ganzes Leben lang blieb, »dem es nie in den Sinn gekommen wäre, eine neue Religion zu begründen« (Homolka 2009, S. 51). Diese jüdische Identität Jesu ist nicht nur ein historisches Faktum, sondern bietet auch die Grundlage, ihn selbst als Person, aber auch sein Wort und sein Werk vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Judentums zu verstehen und zu deuten.
Allerdings lässt sich der historische Jesus umgekehrt auch nicht einfach in die bekannten religiösen Gruppierungen seiner Zeit einordnen. Er hat Freunde bei den gesetzestreuen Pharisäern (vgl.