Leitungsdienst in der Gemeinde: Biblisch-Theologische Reflexionen zu Amt, Charakter und Charisma
Von Locher, Marcel, Michael Raske und Jean-Daniel Plüss
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Über dieses E-Book
Der vorliegende Band dient als Grundlage des Unterrichts am Theologischen Seminar BERÖA für das Fach Pneumatologie II (erster Block). Dieser Kurs kann auch als Gasthörer besucht werden.
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Buchvorschau
Leitungsdienst in der Gemeinde - Locher, Marcel
55
Vorwort
Mit diesem Band begegnet das „Forum Theologie & Gemeinde einem großen Bedarf in unseren Gemeinden. Der oft zitierte Satz: „Alles steht und fällt mit dem Leiter
ist sicherlich eine einseitige Überspitzung und dennoch bringt er sehr gut die Wichtigkeit von gesunder Leitung für den Gemeindebau auf den Punkt. Viele Gemeinden kranken genau in diesem Bereich – gute Leitung. Doch was ist ein guter Leiter oder eine gute Leitung? Im Zentrum dieser Überlegung stehen drei Begriffe – Amt, Charakter und Charisma. Diese werden oft mehr aus einer gewissen Gemeindetradition heraus verstanden und gedeutet, als aus einer gründlichen Lektüre der Schrift. Doch bei aller Berechtigung, von unseren Gemeindetraditionen und von anderen Leitungsmodellen rund um die Welt zu lernen, bleibt doch die Schrift auch in dieser Frage die ultimative Richtschnur. Im Mittelpunkt dieses FThG-Bandes steht folglich die Frage: Welches Verhältnis besteht zwischen Charisma – Charakter – Amt und welche praktisch-theologischen Konsequenzen folgen daraus? Jeder, der sich in einer Leitungsaufgabe befindet, in Ausbildung zur geistlichen Leitungsaufgabe steht oder um eine Berufung für diese Aufgabe weiß, sollte sich dieser Frage stellen. Denn gesunde Leiter braucht das Land!
Wenige sind so geeignet, zu diesem Thema zu schreiben, wie Marcel Locher. Er ist mir und vielen anderen bekannt als kompetenter Theologe und Leiter. Er ist Fachbereichsleiter und stellvertretender Seminardirektor am Theologischen Seminar BERÖA. Seit vielen Jahren genieße ich die reflektierten Diskussionen mit ihm zu den unterschiedlichsten Themenbereichen der Theologie. Seine Theologie ist nicht nur gekennzeichnet von seiner Treue zur Schrift, sondern genauso von seiner Leidenschaft für gesunde und wachsende Gemeinde. Das macht sie lebens- und praxisrelevant. Diese segensreiche „Spannung" erscheint mir gerade bei diesem Thema von entscheidender Notwendigkeit!
Ich lade den Leser ein, in diese fruchtbringenden Diskussionen mit einzusteigen. Dieser Band bietet hierfür eine nicht zu versäumende Gelegenheit: Denn der gesunde Leiter ist auch der lernende Leiter!
Johannes Schneider
Direktor des Theologischen Seminars BERÖA
Vorwort zur 2. Auflage
Ein anregender Beitrag im ökumenischen Gespräch
Mit Dringlichkeit stellt sich in wohl allen christlichen Kirchen die Frage nach dem rechten Amtsverständnis. Maßstab sind die neutestamentlichen Ursprungszeugnisse, allemal für Marcel Locher. In einer sorgfältigen Auslegung einschlägiger Texte zeigt er grundlegende Konturen des biblisch fundierten Verständnisses der besonderen Dienste in einer christlichen Gemeinde auf. Wie immer man die Texte historisch situiert und welches Bild man sich von der Entwicklung von Dienstämtern in der frühen Kirche im Einzelnen macht, die von Locher interpretierten Zeugnisse haben ein eigenes Gewicht. Dienste mit verschiedenen Schwerpunkten sind Gabe Jesu Christi. Entscheidend ist die Berufung von Gott her. Verantwortung für die Gestaltung der Ausbildung und der Ordination trägt die Gemeinschaft der Gemeinden, über die einzelne Ortsgemeinde hinausgehend. Exemplarisch macht Locher Konsequenzen dieser Sicht für die Praxis deutlich.
Da manchem römisch-katholischen Christen wirkliche Kenntnis freikirchlicher Pfingstgemeinden oft fehlt, wird er über das hier vertretene gründlich durchdachte Dienstamtsverständnis, wie es am Theologischen Seminar des BFP BERÖA gelehrt wird, freudig erstaunt sein. Er wird dadurch aber auch angeregt und herausgefordert, das eigene Verständnis und die eigene komplexe Praxis, die vielfältigen historischen Überlagerungen, durchaus problematische „Inkulturationen" aus Antike, Mittelalter und früher Neuzeit, irreführende Vorstellungen und fremd gewordene Symbole kritisch zu prüfen. So klar die Unterscheidung durch die bischöfliche Verfassung ist, bei differenzierter Betrachtung lassen sich dann aber auch grundlegende Konvergenzen wahrnehmen, zumal im Blick auf neuere Entwicklungen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. So erweist sich Marcel Lochers Arbeit als ein bibeltheologisch fundierter und spirituell anregender Beitrag auch im ökumenischen Gespräch.
Frankfurt, im Juni 2017
Dr. Michael Raske, Prof. (em.) für katholische Theologie
Goethe-Universität Frankfurt a. M.
Die Bedeutung des Charakters für den Gemeindeleitungsdienst
Die Aufgabe, Leitungsdienste in der Gemeinde wahrzunehmen, ist immer eine Herausforderung. Menschlich gesehen wird erwartet, dass diese Aufgabe die Gemeinde stärkt und gleichzeitig in eine Entwicklung führt. Geistlich gesehen ist der gemeindebezogene Leitungsdienst immer von der Gnade Gottes und der Führung des Heiligen Geistes abhängig. In dieser Spannung stehen die Begriffe Amt und Charisma. Marcel Locher hat in seiner biblisch-theologischen Lektüre eine dritte Komponente miteinbezogen, den Charakter der mit Leitung beauftragten Person. Dadurch wird vieles verständlicher, denn es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen den einzelnen Begriffen.
Um Gemeinden im 21. Jahrhundert konstruktiv zu leiten, ist es wichtig zu erkennen, dass für den Gemeindeleitungsdienst ein Charisma, eine Begabung von Gott notwendig ist. Da der Charakter des Leiters oder der Leiterin auf andere Menschen prägend wirkt, ist auch dieser von großer Bedeutung. Schließlich gibt die Einsetzung ins Amt einer Person einen gewissen Raum und damit verbunden Verantwortung. Manche Menschen sehen die Aufgabe eines Leitungsdienstes als eine Last. Marcel Locher verweist in diesem Zusammenhang auf die pneumatologische Dimension, die den Leiter vor einem starren und auf sich selbst bezogenen Amtsverständnis bewahrt.
Im zweiten Teil behandelt Marcel Locher den vier- bzw. fünffältigen Dienst und seine Auswirkung auf die Gemeinde. Da er sorgfältig den Bezugsrahmen von Epheser 4,7–12 erklärt, wird deutlich, dass alle die Gnade zum Dienst empfangen haben. Es geht schließlich darum, die Vielfalt der Dienste in der Gemeinde zu erkennen und zu fördern.
Es freut mich, dass dieses Buch eine Neuauflage erlebt, denn es behandelt zentrale Fragen, wie Menschen zum Leitungsdienst berufen und bestätigt werden und wie der Leitungsdienst zu verstehen ist. Schließlich ist es Jesus Christus, der seine Gemeinde baut.
Vitznau (Schweiz), im Juni 2017
Jean-Daniel Plüss, PhD
Teil I: Der Dienst in der Gemeindeleitung im Zusammenhang von: Charisma – Charakter – Amt¹
Diese Arbeit ist meinem väterlichen Freund, Lehrer und ehemaligem Seminardirektor Günter Karcher gewidmet (gestorben am 19.09.2011).
Er lebte und verstand Leitung als Dienst in Verantwortung gegenüber der Bruderschaft. Sein Dienstverständnis und seine Haltung gegenüber der Bruderschaft sind mir nachhaltiges Vorbild, wofür ich dankbar bin.
¹ Dieser Beitrag wurde als Magisterarbeit eingereicht als Teil der Bedingungen zur Erlangung eines Master of Arts in Theology verliehen von der University of Wales, Lampeter, in Partnerschaft mit dem Theologischen Seminar Bienenberg und dem Theologisch-Diakonischen Seminar Aarau im Dezember 2012.
Einleitung
Eine Redensart sagt: „Der Fisch stinkt vom Kopf her". Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass mancher Missstand in einer Gemeinschaft mit deren Leitung zusammenhängt. Hierin ist viel Wahres enthalten. Tatsächlich ist es so, dass auch in christlichen Gemeinschaften und Gemeinden² mancher Missstand auf deren Leiterschaft zurückzuführen ist. Andererseits besteht natürlich die berechtigte Frage, was denn den Leiter an sich ausmacht. Oder noch konkreter: Wer ist für den Dienst in der Gemeindeleitung geeignet? Hierbei reicht die Bandbreite von dem Ruf nach dem sogenannten „starken" Leiter bis hin zur Ablehnung jeglicher Leiterschaft innerhalb der christlichen Gemeinde. Da Leitungspersönlichkeiten sich gerade dadurch kennzeichnen, dass sie leiten und Einfluss nehmen, haben sie stark prägende Wirkung auf die Gemeinschaft. Diese Wirkung kann für die Gemeinschaft aufbauend und fördernd sein, kann aber auch zerstörerische Tendenzen für die Gemeinschaft haben. Daher ist die Frage, wer für den Gemeindeleitungsdienst geeignet ist, eine für die Gemeinde existentiell wichtige Frage.
Die folgende Arbeit beschäftigt sich im Kern mit der Frage nach dem Verhältnis von Charisma – Charakter – Amt im Dienst der Gemeindeleitung. Hierbei wird das Amtsverständnis an sich und darin enthalten das Leitungsverständnis mit reflektiert. Dies wird auch Licht auf die Frage werfen, wer für den Dienst in der Gemeindeleitung geeignet ist und wie Leitung an sich verstanden werden soll. Zentral geht es mir bei dieser Arbeit aber darum, die oben genannte Verhältnisbestimmung zu definieren. Dahinter steht die Annahme, dass dies die zentrale Frage in Bezug auf Amts- und Leitungsverständnis ist. Erst wenn das Amtsverständnis reflektiert und definiert ist, können daraus die Konsequenzen für das Leitungsverständnis gezogen werden.
Persönlich beschäftigt mich diese Frage, weil ich selbst ordinierter Pastor bin und in Leitungsverantwortung diene. Für mich ist es von großer Bedeutung, eine theologisch reflektierte Position bezüglich meiner Tätigkeit als geistlicher Leiter zu haben. Diese Arbeit dient mir persönlich als theologische Selbstreflexion meiner Tätigkeit als ordinierter geistlicher Leiter im BFP³.
Die Beschäftigung mit dieser Thematik geht aber über das persönliche Interesse hinaus. Gespräche innerhalb der eigenen Denomination und verschiedene Beobachtungen, die ich auf Leiterschaftsebene machen durfte, führten mir die Dringlichkeit einer theologischen Reflexion des Amtsverständnisses vor Augen. Es erscheint mir auch im Kontext des BFP notwendig, über die Thematik des Amtes und des darin enthaltenen Selbstverständnisses von Leiterschaft neu zu reflektieren. Hierzu soll diese Arbeit einen Beitrag leisten.
Weiter hat die Beschäftigung mit dieser Thematik auch ihre Bedeutung über den Rahmen der eigenen Denomination hinaus. Denn gerade das Amtsverständnis ist ja für das gesamte ekklesiologische Verständnis von Bedeutung. Hierbei geht es mir nicht darum, anderen zu sagen, wie man theologisch das Amt zu sehen hat. Es geht mir vielmehr darum, auf der Grundlage meiner eigenen theologischen Reflexion mit Geschwistern aus anderen Denominationen ins Gespräch zu kommen, um durch ihre Sicht bereichert, bestätigt oder auch korrigiert zu werden.
Fragestellung
Die vorliegende Arbeit versucht das Verhältnis zwischen Charisma – Charakter – Amt in Bezug auf den Dienst in der Gemeindeleitung zu bestimmen und die daraus folgenden praktischen Konsequenzen zu ziehen. Daher lautet die zentrale Fragestellung dieser Arbeit: Welches Verhältnis besteht zwischen Charisma – Charakter – Amt und welche praktisch-theologischen Konsequenzen folgen daraus? Um dies zu klären, werden folgende Fragen zu beantworten sein:
Welche Positionen wurden in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von Charisma und Amt bereits bezogen? (Punkt 2.1)
Welche Position wird aus dem Pastorenleitbild, den Richtlinien und der Verfassung des BFP in Bezug auf das Verhältnis von Charisma – Charakter – Amt ersichtlich? (Punkt 2.2)
Zu welcher Schlussfolgerung können wir aufgrund der Pastoralbriefe im Kontext der paulinischen Schriften in Bezug auf das Verhältnis von Charisma – Charakter – Amt kommen? (Punkt 3)
Welche praktischen Konsequenzen folgen aus dieser Verhältnisbestimmung für den Dienst in der Gemeindeleitung? (Punkt 4)
Ziel
Ziel dieser Ausarbeitung ist, eine eigenständige, exegetisch fundierte theologische Position in Bezug auf das Verhältnis von Charisma – Charakter – Amt zu bekommen. Diese theologische Position soll als Grundlage für eine praktisch-theologische Reflexion im Kontext des BFP führen und hier die Diskussion um die Fragestellung des Verhältnisses von Charisma – Charakter – Amt befruchten.
Methodik
Zunächst wird die theologische Diskussion um das Verhältnis von „Charisma und Amt" dargestellt, um den Stand der Forschung zu dieser Frage festzuhalten. Die unterschiedlichen Positionen, die hierbei bezogen wurden, sollen für die theologische Grundlegung sensibilisieren (Punkt 2.1). In diesem Zusammenhang werden dann auch das Pastorenleitbild⁴, die BFP-Richtlinien⁵ und die Verfassung des BFP⁶ reflektiert, um festzuhalten, was hierin in Bezug auf die Fragestellung