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Über dieses E-Book

Italien, Kriegsende 1945. Ein jüdischer Kapo kehrt aus dem KZ zurück auf das riesige, im Veneto gelegene Gut seiner Familie. In der Annahme, die Familie sei im Krieg ausgelöscht worden, haben die Verwalter und Pächter sich die Ländereien angeeignet. Der einzige Heimkehrer vertreibt sie und führt fortan ein Leben in absoluter Isolation. Die furchtbare Schuld, die er auf sich geladen hat, verbietet ihm, sich je wieder liebend einem Menschen, seinem Fleisch, seinem Körper zu nähern. Eros und Schuld sind eine innige Verbindung eingegangen. Immer obsessiver fotografiert er, was nach der Zerstörung geblieben ist,auch Getier und Insekten, bis deren Laute in ihm schließlich die Schreie der von ihm zu Tausenden in die Gaskammern Getriebenen widerhallen lassen.Eines Tages erscheint eine verschlagene Alte, bietet ihm ihre blutjunge Enkeltochter feil und wird von nun an jeden Monat kommen, den Lohn für deren Dienste einzufordern. Tonia, seine Schuld ahnend, beginntsich ihm hinzugeben: Hautfetzen für Hautfetzen wird er ihren schönen Körper ablichten. Als sie ihren ersten Orgasmus erlebt und ihrer durch das Auge des Fotografen bestimmten Sexualität gewahr wird, flüchtet sie. Der Zurückgelassene sucht ebenso verzweifelt wie vergeblich nach ihr und entfaltet ein gespenstisches Szenario …Giorgio Chiesura erzählt in nüchterner, messerscharfer Sprache vom Grauen der Schuld und liefert ein literarisches Zeugnis, das sich neben Pasolinis Die 120 Tage von Sodom und Viscontis Die Verdammteneinreiht in die Meisterwerke der Verarbeitung des Faschismus und seiner pornografischen Komponenten.
SpracheDeutsch
HerausgeberSecession Verlag
Erscheinungsdatum11. März 2015
ISBN9783905951356
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    Buchvorschau

    Hingabe - Giorgio Chiesura

    ÜBERSETZUNG

    DIE VILLA

    IM SEPTEMBER 1946 kehrte ich nach einem längeren Aufenthalt in einem amerikanischen Militärkrankenhaus in Deutschland nach Italien zurück. Ich war einer der ganz wenigen Juden aus meinem Lager, die noch am Leben waren; zugleich war ich der einzige Überlebende einer großen Familie. Wie ich später feststellte, war ich von allen Juden, die vormals in dieser Kleinstadt im Veneto lebten, in der ich geboren und aufgewachsen bin, der einzige Heimkehrer. Nicht alle waren tot, nein, das nicht: Ein kleiner Teil von ihnen hatte sich durch Flucht ins Ausland retten können, aber nicht ein einziger von ihnen war heimgekehrt, ich wusste jedoch nicht und es interessierte mich auch nicht, wo sie sich aufhielten. So war und blieb ich der einzige Jude im Ort.

    Und: Bereits vor meiner Rückkehr wusste ich, dass ich sehr reich sein würde.

    Mit dem Tod meines Vaters, dem meiner Mutter, meiner drei Brüder, meiner zwei Schwestern, meines Onkels, meiner Tante und ihrer vier Kinder sowie mit dem der gesamten Familie eines Cousins meines Vaters, der in Straßburg lebte, hatte sich eine Reihe von Erbschaften zu meinen Gunsten angehäuft, und so war mir ein Riesenvermögen zugefallen, wenngleich ich noch nicht frei darüber verfügte.

    Mein Großvater war Eigentümer eines Bankhauses in dieser Stadt, das er aufs Alter hin verkauft und mit dessen Erlös er Häuser und Grundstücke erworben hatte. Mein Vater war ein illustrer Advokat, und meine Mutter, die aus einer Genueser Familie mit spanischen Wurzeln stammte, war ihrerseits sehr vermögend gewesen. Mein Onkel, der vom Großvater den größten Teil der Grundstücke geerbt hatte (wohingegen auf meinen Vater der Großteil der Liegenschaften in der Stadt übergegangen war), hatte in einer kleinen Ortschaft, fünfzehn Kilometer von dem Städtchen entfernt, einen Landwirtschaftsbetrieb im großen Stil gegründet und aufgebaut; vielerlei Erzeugnisse, Reben, Mais, Weizen, Zuckerrüben bis hin zu den verschiedenen Obstsorten, wurden dort angebaut. Es gab Vieh in entsprechenden Stallungen, eine Weinkelter, eine Käserei und sämtliche dafür notwendigen Gerätschaften. Der Betrieb wurde von rund zwanzig Familien in Halbpacht bewirtschaftet; zusätzlich wurden in Zeiten größten Arbeitsaufkommens auch Tagelöhner beschäftigt. In der Mitte des Anwesens, auf einem Hügel umgeben von Buchen, Zypressen, Pinien und Wildkastanienbäumen, stand die große, zweistöckige Villa im Palladio-Stil, mit geräumigem Dachstuhl auf ihrer Stirnseite. Ein Ziergarten mit Springbrunnen, eine Garage, eine Dependance, Pferdeställe, ein Tennisplatz und eine Bocciabahn gehörten ebenfalls dazu.

    Ich habe auf diese ausführliche Beschreibung großen Wert gelegt, denn dies war der Ort, an dem ich mich nach meiner Rückkehr niederließ.

    In der Tat waren der in der Stadt gelegene Palazzo, in welchem ich mit meiner Familie gelebt und in dem mein Vater seine Kanzlei gehabt hatte, sowie drei weitere Stadthäuser unseres Besitzes bei einem schweren Bombenangriff gegen Ende des Krieges zerstört worden. Schuld an diesem Angriff, das sei betont, hatten die Partisanen mit ihrer an die Alliierten übermittelten Falschinformation eines angeblichen Durchzugs deutscher Panzerdivisionen. Die anderen, teils beschädigten Häuser waren unrechtmäßig von der Stadtverwaltung beschlagnahmt worden, die offenkundig darauf gesetzt hatte, dass niemand von uns je zurückkehren würde. Mittlerweile waren die Gebäude von Evakuierten und Pseudoevakuierten besetzt.

    So kam es, dass ich am Abend meiner Rückkunft an den Trümmern meines Hauses und den anderen zerstörten oder besetzten Häusern vorüberging und mich zur Villa meines Onkels begab. Ihre schöne Fassade war durchsiebt von Einschüssen der Maschinenpistolen, die Fensterscheiben waren zerschlagen, das Mobiliar verschwunden, es gab keinen elektrischen Strom und kein Wasser, nur das aus dem Brunnen. Doch seltsamerweise – später erfuhr ich den Grund dafür – funktionierte das Telefon: Dieser Umstand war für mich von größtem Nutzen, denn natürlich würde ich zum Leben vielerlei benötigen und hatte zugleich nicht die geringste Lust, der Beschaffung wegen irgendjemandem begegnen zu müssen.

    Die erste Nacht verbrachte ich auf einem Strohlager, unter einer Decke, die man mir im amerikanischen Krankenhaus überlassen hatte, den Kopf gebettet auf meinen Reiserucksack.

    Am nächsten Morgen telefonierte ich mit einem jüdischen Rechtsanwalt in Mailand, einem Freund meines Vaters, der zum Glück, dank seiner Flucht in die Schweiz, überlebt hatte. Ich sagte ihm, wer ich war, erklärte ihm meine Situation und nannte ihm die verschiedenen Aufgaben, mit denen ich ihn betrauen wollte. Er wies mich darauf hin, dass es für mich angesichts der territorialen Zuständigkeit und der großen Menge notwendiger Recherchen und Überprüfungen vor Ort sehr viel praktischer und vor allem wirtschaftlicher wäre, wenn ich mich an einen Rechtsvertreter im Städtchen oder in der nächstgrößeren Stadt wenden würde.

    Ich hielt dagegen, keinen anderen Rechtsanwalt zu kennen und vermutlich gegen lokale Interessen handeln zu müssen; und dass ich überdies einen jüdischen Anwalt haben wollte. Und schließlich noch, dass er sich keinerlei Gedanken wegen der Kosten zu machen bräuchte: Wie er selbst bald feststellen würde, verfügte ich über so viel Geld, wie ich nur wollte.

    Nach kurzem Zögern und eingehender Befragung zur Person meines Vaters, meiner Mutter und so weiter, womit er sich meiner ernsten Absichten versichern wollte, erklärte er sich bereit, meinen Fall zu übernehmen. Knapp achtundvierzig Stunden später ließ er mir ein beglaubigtes Dokument zum unanfechtbaren Nachweis meiner Identität zukommen und eine beachtliche Leihsumme, die mir per Überweisung von einer Schweizer Bank bei einer hiesigen Bank gutgeschrieben wurde.

    Zwei Wochen später, nachdem ich bereits, wie ich noch erzählen werde, mit einigen Personen vor Ort zu tun gehabt hatte, suchte er mich schließlich auf. Wir unterhielten uns ausführlich, und er bestätigte mir erneut sein Mandat, woraufhin wir weitere Einzelheiten seines Vorgehens festlegten.

    Er begreife, sagte er, voll und ganz die große Eile, die ich von ihm bei der Erledigung verlangte, den Groll, der mich antrieb, und auch die Härte der von mir geforderten Maßnahmen. Und ja, er wolle mir in allen meinen Wünschen willfährig sein. Aber wenn ich einem alten Freund meines Vaters gestatte, mir einen Rat zu geben, würde er mir größere Besonnenheit und Umsicht nahelegen.

    Ich enthielt mich jeder Gegenrede: Weder bestätigte ich den Groll noch die Härte und gab auch nicht zu erkennen, ob seine Empfehlung zu vorsichtigerem Handeln mich erreicht hatte. Ich wiederholte lediglich die Aufträge, die er ausführen sollte, und bekräftigte mein Vertrauen in ihn. Er hatte dem nichts hinzuzufügen. Er brach in der vollen Absicht auf, mir in jedem Fall zu Diensten zu stehen, und ich muss gestehen, er war ein Meister seines Fachs.

    Sechs oder sieben Monate später hatte er so gut wie alles erledigt. Die Urkunden all meiner Besitzungen befanden sich in seinem Safe in Mailand, die authentifizierten Abschriften hingegen waren in meinen Händen. Nachdem die Beschlagnahmung meiner Häuser rückgängig gemacht worden war, wurden diese für gutes Geld vermietet. Die Grundstücke der zerstörten Häuser (die aufgrund ihrer Lage im Stadtzentrum sehr viel wert waren) wurden eingezäunt, eingeebnet und gründlich gesäubert, mit Ausnahme eines einzigen – die Gründe hierfür werde ich noch erläutern –, desjenigen nämlich, auf dem mein altes Elternhaus gestanden hatte.

    Der gute Anwalt hatte rasch und wie versprochen mit großer Entschlossenheit gehandelt, und ich begriff, dass er auf seinem Gebiet ein mächtiger Mann sein musste. Um nämlich etwas Bestimmtes von den inkompetenten und arroganten Bürokraten in Italien zu erhalten, ist ein Zeitraum von sechs oder sieben Monaten unglaublich knapp. Mir war klar, dass er zur Durchsetzung meiner Ziele sicherlich auch politischen Druck, und zwar in den oberen Etagen der Macht, ausgeübt haben musste. Hinzu kamen Vorladungen, Verwarnungen, Drohungen und vielleicht auch Erpressungen, wie sie unehrlichen Leuten gegenüber immer möglich sind.

    Was Straßburg betrifft, hatte die dort waltende Korrektheit der Bürokraten und Gemeindeverwaltungen die Dinge sicherlich vereinfacht. Eine vom Rechtsanwalt beauftragte Person wurde dorthin geschickt, und alle notwendigen Unterlagen waren rasch herbeigeschafft. Für die Leitung der Fabrik, die zum Glück oder aus Kalkül zunächst seitens der Deutschen, später der Alliierten noch intakt und in Betrieb war, wurde ein Direktor ernannt. Überdies wurde ein Verwalter meines Vertrauens eingesetzt, dem ich eine allumfassende Vollmacht zukommen ließ. Dieser schickte mir seinerseits alle drei Monate einen Rechenschaftsbericht und überwies größere Geldsummen auf mein Bankkonto.

    Doch um die Erzählung meiner Rückkehr um einige Einzelheiten zu ergänzen, muss ich noch einmal auf die ersten Tage zu sprechen kommen.

    DER GUTSVERWALTER

    WIE GESAGT, ich hatte keine Lust, auch nur eine Menschenseele zu sehen. Ich wollte aus diesem Grund auch nicht in die Stadt hinunter.

    Ich verbrachte die ersten Tage auf besagtem Strohlager samt Decke in dem Zimmer, das am längsten in den Genuss von Sonnenlicht kam. Ich machte mit Holz, das ich im Garten gesammelt hatte, Feuer in einem kleinen Kamin. Ich wusch mich am Brunnen und ernährte mich von amerikanischen Konservendosen, die mir im Krankenhaus überlassen wurden: Kondensmilch, Zwieback, Corned Beef, Kartoffeln aus der Dose. Sobald ich vom Rechtsanwalt die Mitteilung über die Bankgutschrift erhalten hatte, besorgte ich mir über die Auskunft (in einem Raum im Erdgeschoss gab es zwar ein Telefonverzeichnis, aber es war völlig verkohlt) die Telefonnummern von drei, vier Geschäften und rief dort an. Ich bestellte ein Bettgestell, eine Matratze, Decken, ein Federbett, zwei Frotteehandtücher, Weißwäsche, grobe Militärschuhe, einen Kordanzug, zwei Flanellhemden, einen Regenmantel, eine Wollmütze, einen wollenen Hausmantel und Filzpantoffeln. Des Weiteren ließ ich mir Teller, Gläser, Besteck, Wurstwaren, einen ganzen Schinken, zwei kleine Laibe Käse bringen und beauftragte einen Lebensmittelhändler, mir jeden Tag in der Früh einen halben Liter Milch, ein kleines Brot, etwas Obst und jeden dritten Tag Eier sowie eine Flasche Wein zu liefern.

    Das war viel mehr, als ich wirklich brauchte. Brot, Käse, Wurstwaren, Milch und Eier waren alles, wonach es mich verlangte und was ich glaubte, verlangen zu dürfen. Den Wein, den hatte ich tatsächlich nötig (ich werde noch erklären warum), aber selbst ein halbes Glas nach dem Essen, wie ich es ab und an trank, rief bei mir eine viel zu starke Wirkung hervor. Und die ungeöffneten Weinflaschen häuften sich im Haus.

    Ich schlief viel oder streifte im Garten und im nahen Wald umher, ohne mich dabei allzu weit von der Villa zu entfernen. Wenn der Lieferwagen mit den Vorräten eintraf, ließ ich mich nicht blicken. Die Haustür stand immer offen, die Leute luden die Waren aus, traten ein und stellten alles in einer Ecke ab. Die Nachricht meiner Rückkehr hatte offenkundig die Runde gemacht, denn eines Tages erhielt ich zum ersten Mal Besuch: Es war der alte Gutsverwalter meines Vaters.

    Es regnete. Ich lag nur mit dem Morgenrock bekleidet neben dem Feuer und beobachtete die Regentropfen am Fenster – eines der wenigen im Hause, das noch Scheiben besaß. Da vernahm ich vom Eingang her eine kräftige und doch schmeichlerische Stimme: »Ist es gestattet, ist es gestattet? Ist hier niemand zu Haus? Meine Ehrerbietung, meine Ehrerbietung …« Ich trat, wie ich war, hinaus und erkannte den Besucher: Es war ein tüchtiger Mann um die fünfundsechzig, etwas fülliger (die Erinnerung kam mir in jenem Augenblick) als damals, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, als er mich lachend und springend auf den Schultern getragen hatte, um meinen Eltern gefällig zu sein (und da hatte ich auch wieder meine junge Mutter vor Augen, wie sie bei dieser Szene lachte und dabei meine jüngste Schwester auf dem Arm und die andere an der Hand hielt). Um mir seine Aufwartung zu machen, hatte er sich ganz in Schwarz gekleidet, ja, er trug sogar Weste und Krawatte. Seinen triefnassen Regenschirm hatte er bei der Haustür abgestellt, seinen Wagen vor dem Tor geparkt.

    Als er mich erblickte, riss er die Arme auseinander, und abrupt wich ich zwei Schritte zurück. Also blieb er stehen und rief laut: »Signorino, signorino!«, und fügte, den Blick himmelwärts gerichtet, hinzu: »Was für ein Glück!« Dann ließ er die Arme wieder sinken und sagte: »Was für ein Unglück, was für ein Unglück!« Ich schwieg, überließ ihm das Wort, damit er erklären konnte, von welchem Unglück er eigentlich sprach. »Ihr Vater, Ihre Mutter, allesamt!«, sagte er kopfschüttelnd. »Und wir dachten schon, dass auch Sie … Aber was für ein Glück, signorino, ein wahres Gottesgeschenk!«

    »Setzen wir uns«, sagte ich zu ihm und ließ mich auf den Treppenstufen nieder, denn Stühle gab es noch keine. So blieb er stehen, wo er war.

    Mit Blicken durchmaß er die kahle Diele und seitlich die ebenso leeren Zimmer hinter den offen stehenden Türen.

    »Was für eine Katastrophe!«, sagte er. »Was für eine Katastrophe! Haben Sie gesehen, was für eine Katastrophe, signorino?« Er war einer von denen, die sich gerne wiederholten. Ich stützte meinen Ellenbogen bequem auf die Treppe und bat ihn, mir alles zu erzählen.

    »Ich habe alles getan, was menschenmöglich war«, sagte er. »Ich habe alles gerettet, was ich retten konnte, und bin dabei auch gewisse Risiken eingegangen – wenn Sie nur wüssten, signorino! Aber das Unmögliche, das konnte ich nicht tun.«

    Erneut forderte ich ihn auf, doch zu erzählen, was geschehen war.

    Als meine Eltern abgereist waren (er verwendete das Wort abgereist, er sagte nicht: gewaltsam wie Vieh auf einen Laster getrieben und weggeschafft), also als meine Eltern abgereist waren (ich selbst war Monate zuvor in Straßburg, wo ich studierte, gefangen genommen worden), hatte man die Villa beschlagnahmt. Die Italiener richteten dort ein politisches Büro ein, abgelöst später von einem deutschen Militärkommando (das erklärte auch das Vorhandensein des Telefons), das wiederum beim Einrücken der Alliierten geflüchtet war. Und dann war es zur Plünderung gekommen.

    »Als die Deutschen fliehen mussten, haben sie doch keine Möbel mitgenommen!«, widersprach ich ihm.

    »Nein, die Möbel nicht«, sagte er. »Bestimmt aber viele andere Dinge: die kostbarsten Gegenstände, Gemälde, Teppiche, Tafelsilber und so weiter.«

    »Und die Möbel?«, fragte ich noch einmal.

    »Es war eine schreckliche Plünderung«, wiederholte er und breitete die Arme aus. Er hatte getan, was er konnte, er hatte viele Dinge in Sicherheit gebracht. Er hatte auch die Halbpächter gerufen, damit sie ihm zur Hand gingen, um die Dinge zu retten. Sie hatten ihm tatsächlich geholfen und sich auch mit anderen Leuten herumgeschlagen. »Aber die Leute, Sie verstehen«, sagte er, »die glaubten, dass das Zeug noch von den Deutschen war. Es war unmöglich, sie vom Gegenteil zu überzeugen.«

    »Und die Einschüsse in der Mauer?«, fragte ich.

    »Oh«, sagte er, »das waren Partisanendummheiten. Sehen Sie, es geschah während des Aufstands. Die Amerikaner rückten näher, die Deutschen waren im Begriff abzuziehen. Und da war es zu dem Aufstand gekommen, um den Amerikanern zu zeigen, dass wir in der Lage sind, uns selbst zu befreien. Die Partisanen haben das Militärkommando, also die Villa, angegriffen, haben von der Seite der Hügel kommend geschossen, nicht wissend, dass die Deutschen bereits abgezogen waren. Oder vielleicht wussten sie es, haben aber dennoch auf die Villa geschossen, einfach weil sie Lust hatten zu kämpfen, sich auszutoben, Sie verstehen doch, um zu rebellieren, Krach zu machen, den Sieg zu feiern. Sie waren ins Haus eingedrungen, hatten getrunken, und es waren noch weitere gekommen, aus anderen Richtungen. Und dann ging die Plünderung los.«

    Alles war klar, man brauchte sich nicht zu wundern. Aber was genau hatte er bloß gerettet? Teppiche, sagte er, ein bisschen Tafelsilber, Gemälde, alles, was möglich war, alle Dinge, dem Anschein nach die besten Stücke, und alles gut versteckt in einem Heuschober, für uns, bis zu unserer Rückkehr.

    Und die Halbpächter, was hatten die eigentlich gerettet? Auch sie, sagte er, Teppiche, Bilder, Haushaltswaren, Möbel, Kleider – alles, was sie retten konnten.

    Jetzt war klar: Die Plünderer waren sofort, noch vor der Beschlagnahmung des Hauses, nicht erst am Ende, zur Tat geschritten. Wie sonst hätten sie es anstellen sollen?

    »Morgen werde ich Ihnen alles bringen«, sagte er. »Ich habe alles sorgfältig verwahrt. Aber warum nur wollen Sie bis dahin auf diese Weise hausen? Kommen Sie doch zu uns in unser Haus hinunter. Oder wenn Ihnen das nicht angemessen erscheint, gibt es auch das Hotel. Auf alle Fälle, morgen bringe ich Ihnen alles.«

    »Ich danke Ihnen unendlich für die Mühe, die Sie sich für uns gemacht haben. Aber was hätten Sie denn mit dem Tafelsilber und dem ganzen Rest gemacht, wenn ich nicht zurückgekommen wäre?«

    Ratlos breitete er die Arme aus. »Wir haben nie den Glauben aufgegeben, dass ihr alle eines Tages zurückkehren werdet. Und stattdessen – was für eine Schmach!«

    Ich lachte. »Ja, aber was genau hättet ihr damit gemacht?«

    Erneut breitete er die Arme aus. »Ich weiß es nicht«, sagte er, »die Erben … irgendjemand … die Behörden … Aber welch Unglück, welch Riesenunglück.«

    »Und das Geld?«, fragte ich weiter.

    »Von dem ist nichts mehr da«, erwiderte er.

    »Die Bauern haben in den Kriegsjahren gut verdient«, entgegnete ich, »sie haben Zeug auf dem Schwarzmarkt verkauft. Das Gleiche, denke ich, werden Sie mit dem Herrschaftsanteil gemacht haben. Wo sind die Profite geblieben?«

    »Da ist nichts mehr«, wiederholte er. »Die Regierung und die Deutschen haben alle Erträge noch vor der Ernte beschlagnahmt. Hätte man etwas davon verkaufen wollen, hätte man Gefängnis oder, schlimmer noch, Kopf und Kragen riskiert. Sie haben das ganze Vieh fortgeschafft. Es gab so gut wie keinen Gewinn. Glauben Sie mir, ich habe auch von meinem eigenen Anteil draufgelegt.«

    »Also gut«, sagte ich. »Gehen wir zu den Halbpächtern.«

    Ich wollte vermeiden, dass er sie warnte.

    »Jetzt?«, fragte er.

    »Jetzt«, sagte ich. »Auf der Stelle. Sie haben doch Ihren Wagen draußen stehen, oder nicht?«

    Und da es aufgehört hatte zu regnen, stieg ich, wie ich war, im Morgenrock und in Hauspantoffeln, in sein Auto. Völlig entgeistert setzte er sich ans Steuer.

    DIE HALBPÄCHTER

    WIR BRAUCHTEN DEN GANZEN TAG, um allen zwanzig Pächterfamilien in ihren Häusern einen Besuch abzustatten. Beim Eintreten sagte der Aufseher jedes Mal laut und deutlich: »Der signorino ist gekommen, um sich die Dinge anzusehen, die ihr für ihn gerettet habt.« Dann trat ich barfüßig (die Hausschuhe waren mittlerweile voller Schlamm, und ich hatte sie lieber weggeworfen) im Morgenrock ein, und sie verneigten sich vor mir mit argwöhnischen Blicken.

    Überall befanden sich Gegenstände aus der Villa. Sie aßen an unseren Tischen, sie setzten ihre Füße auf unsere Teppiche, sie schliefen in unseren Betten, sie wärmten sich mit unseren Decken, und auch die Kleiderstoffe ihrer Frauen kamen mir bekannt vor. Die Ställe quollen über von Vieh, und zu jedem Haushalt gehörte mindestens ein Fahrzeug.

    Stumm, mit zusammengekniffenen Augen, notierte der Verwalter jedes einzelne Stück. Auch die Bauern schwiegen, und ich, wohlwissend, dass es unmöglich ist, einen Bauern zum Reden zu bringen, wenn er nicht will, stellte keine Fragen.

    »Das Vieh«, sagte der Verwalter im Wagen, nach den ersten Häusern, »das Vieh ist nicht das unsrige. Das haben sie mit Schulden und so manchen Ersparnissen gekauft.«

    »Was für Ersparnisse, wenn doch alles beschlagnahmt war?!«

    »Nun, sie arrangierten sich, Sie verstehen, heimlich. Das konnten sie tun, jeder für sich. Aber was den Herrschaftsanteil anging, war so etwas unmöglich. Wie hätte ich das anstellen sollen?«

    Ich nickte. Als wir zurück in der Villa waren, sagte ich zu ihm, er solle mir die von ihm gemachten Aufstellungen aushändigen. »Gewiss doch. Ich werde sie kopieren und Ihnen morgen vorbeibringen.«

    »Es ist nicht notwendig, sie zu kopieren«, sagte ich. »Ich will sie sofort.« Also gab er sie mir.

    »Morgen will ich auch die Liste mit den Namen sämtlicher Halbpächter.«

    »Weshalb das?«, fragte er.

    »Weil ich mich bei ihnen für die Sachen, die sie für mich gerettet haben und die sie mir morgen zurückbringen werden, bedanken will.«

    »Sicher doch«, sagte er, »ich habe verstanden. Wird erledigt.«

    Am folgenden Tag trafen die ersten Fuhren mit den »geretteten« Gegenständen ein. Der Gutsverwalter brachte etwas Tafelsilber, Teppiche und Gemälde, wie er gesagt hatte, und andere Dinge, an die ich mich jetzt nicht mehr erinnere. So gelang es mir, die drei größeren Zimmer im Erdgeschoss und die Küche recht und schlecht einzurichten. In eines der Schlafzimmer im ersten Stockwerk ließ ich das Ehebett meiner Eltern stellen. Die Bauern folgten schweigsam, mit verbissenem Gesicht, den Anweisungen des Verwalters, während ich im Garten umherwandelte.

    Als alles erledigt war, sorgte ich dafür,

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