Des Möglichen gewärtig: Ein Essay zum Werk von Klaus Merz
Von Markus Bundi
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Über dieses E-Book
Seit seinen literarischen Anfängen ist der Schweizer Autor Klaus Merz ein Meister der Reduktion und sprachlichen Kunstfertigkeit: Mit zwei drei Worten vollbringe er ein literarisches Wunder, so Peter von Matt. Nicht umsonst wurde Klaus Merz mehrfach sowohl für sein lyrisches als auch für sein erzählerisches Werk ausgezeichnet, zuletzt mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis und dem Basler Lyrikpreis.
Markus Bundi, Herausgeber der Werkausgabe Klaus Merz, kennt das Merz'sche Schaffen wie kaum ein anderer. In seinem Essay "Des Möglichen gewärtig" geht er der Poetik von Klaus Merz auf den Grund und versucht, Antworten auf jene Fragen zu finden, die der Autor in seinen Gedichten und Prosaminiaturen aufwirft: Warum sprechen einige Hydranten, andere wiederum nicht? Sind die Alpen tatsächlich nur aufwändige Tarnung für das Schweizer Waffenarsenal? Und inwiefern ist der Tango Anfang und Ende von allem?
Ein profunder Begleiter zur Lektüre der Texte von Klaus Merz, der neue Perspektiven auf seine vielschichtige Poesie öffnet.
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Buchvorschau
Des Möglichen gewärtig - Markus Bundi
Tagen
Vorbemerkung
Kann man zur Literatur desselben Autors einen zweiten Essay schreiben? – Diese Frage beschäftigte mich einige Zeit, ohne dass ich zu einer gültigen Antwort gekommen wäre. Nachdem ich vor zehn Jahren Die Schwerkraft im Gleichgewicht (2005), meinen Essay zum Werk von Klaus Merz, veröffentlicht hatte, dachte ich wohl, die »Sache« sei damit erledigt. Wenngleich ich damals selbstredend davon ausging, der Schriftsteller Merz würde seinem Œuvre noch den einen oder anderen Titel hinzufügen, so war ich mir doch sicher, der Essay bliebe davon unbeschadet. Dem ist auch so; auch die nach 2005 erschienenen Texte, darunter die Novelle Der Argentinier (2009) sowie die Gedichtbände Aus dem Staub (2010) und Unerwarteter Verlauf (2013), leisten der Schwerkraft Widerstand, lassen sich den Vertikalen und Horizontalen entlanglesen und fügen sich nahtlos ins Gesamtwerk von Klaus Merz ein.
Allerdings, und dies dürfte die Hauptursache für diesen zweiten Essay sein, meine Lesart hat sich in den letzten Jahren verändert. Fraglos ist eine Lektüre ohne besondere Aufmerksamkeit auf die Leitmotive nur schwerlich vorstellbar, doch richtet sich mein Augenmerk je länger, desto schärfer auf die Erzähltechnik eines Autors: Wie arrangiert ein Schriftsteller seinen Text? Welche Erzählperspektiven – Erzählstimmen – kommen zum Tragen? In welcher Weise greifen Komposition und Stilistik ineinander?
Ich glaube, das sind Fragen, die sich nur anhand literarischer Texte, die diesen Namen auch verdienen, überhaupt erst eröffnen.
Dass Literatur das zur Darstellung bringe, was möglich sei (oder: wie es sein könnte), gehört zu den gängigen Definitionen, wenn es darum geht, in knappen Worten zum Ausdruck zu bringen, was diese Sparte der Kunst vermag. Das »Mögliche« freilich lässt sich nicht klar begrenzen; es setzt sich aus dem Vorstellungs- und Erkenntnisvermögen des Menschen zusammen, wie es sich in jedem Einzelnen von uns entfaltet. Die Ränder sind, wie uns die Philosophie lehrt, unscharf. Wir fügen zwar leichthin das Unendliche als Symbol in mathematische Formeln ein, können damit auch rechnen, doch versuchen wir nur die Reihe der natürlichen Zahlen zu Ende zu denken, kommen wir zu keinem Schluss. Wir verwenden Begriffe wie »Leben« oder »Energie« selbstverständlich, verdecken damit die Rätsel dahinter aber mehr, als wir diesen auf den Grund zu gehen trachten.
Die Möglichkeitsräume, die Klaus Merz in seinen Gedichten und Prosatexten eröffnet, sind »Komposita« sowohl im Hinblick auf die Orte als auch auf die Zeiten. Zum Beispiel kann Empedokles im Paris der Gegenwart auftreten, oder das Ei des Kolumbus wird kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf einer Überfahrt nach Argentinien herbeizitiert. Verschiebungen von topografischen Gegebenheiten wie Verrückungen der Zeit fügen sich zu einer Komposition, die gleichwohl nicht der surrealen Literatur geschuldet ist.1 Denn Merz’ Figuren verlieren den Boden unter ihren Füßen nicht, vielmehr ist das Gegebene im Alltag – die Bedingungen und Sachzwänge des Realen – jener Widerstand, der zugleich das Fundament bildet, um des Möglichen gewärtig zu werden. In einer Prosaminiatur mit dem Titel Der Ruf der Wörter, die erstmals im Jahr 2000 in der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckt wurde, gibt Merz über sein Schreiben (wenngleich in der dritten Person) selbst Auskunft:
Seine kurzen Prosastücke und Gedichte möchten, wenn alles gut gehe, schmale, schräg aufragende Sprungbretter sein für Seele und Kopf, lüpfige Fragmente:
Kurz federn und aus der Schwerkraft ausklinken für eine Weile. Oder einbrechen durch die Folie, la folie des Alltäglichen. In Rätselhaft versetzt werden. (WA 4, 514)
Sowohl das Ausklinken als auch das Einbrechen bedürfen einer Referenz; im ersten Fall nennt Merz die Schwerkraft, im zweiten die Folie. Der Boden, an dem wir dank der Schwerkraft haften, ist nur scheinbar ein fester Untergrund, denn er kann zugleich auch Folie sein, dünnes Eis, durch das sich einbrechen lässt. Bei der Schwerkraft wie bei der Folie schwingt eine Mehrdeutigkeit mit: Wodurch sich einbrechen lässt, ist nur einerseits der Grund, auf dem einer geht und steht, andererseits offenbart sich diese Oberfläche als folie, als Verrücktheit. Die Schwerkraft wiederum, wenngleich in dieser Passage nur implizit vermerkt, meint zwar gewiss auch die Gravitation, dient aber dem Schriftsteller Merz insbesondere als Topos für die Last des Daseins, für die Verheerungen, denen ein Mensch zeitlebens ausgesetzt ist.
Jene Referenz, nach welcher sich die »kurzen Prosastücke und Gedichte« ausrichten, scheint also widersprüchlicher Natur zu sein. Der Grund liefert zum einen genügend Widerstand für das Errichten von Sprungbrettern und also das Federn, zum andern ist ebenjener Grund auch fragil genug, dass sich durch diesen einbrechen lässt. Dagegen bietet sich eine metaphorische Lesart an, die die Widersprüchlichkeit aufzuheben vermag: Die Bedingungen und Sachzwänge des Alltags zwingen den Menschen an die Oberfläche, spannen ihn ein, bedrängen ihn – mit Oberflächlichem? Referenz und zugleich Auslöser jener »kurzen Prosastücke und Gedichte« ist – wie widersprüchlich es sich auch gestalten mag – das, was sich dem Betrachter eröffnet. In Merz’ Worten:
Schon indem man ja genau beschreibt, wie es hier und heute ist, zeigt man bereits an, wie es anders sein könnte. Eigentlich interessiert es mich vor allem, Fragen zu stellen. Nicht aggressiv, sondern abwägend zu fragen, zu forschen: »Was wäre, wenn …?« – und hier setzt literarisches Schaffen unter anderem an. Ingeborg Bachmann sagte es einmal so: »Im Widerstreit des Möglichen mit dem Unmöglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten.« (Aargauer Zeitung, 5. Mai 1999)2
Merz spricht vom »Ansetzen« literarischen Schaffens, und er relativiert seine Aussage durch das Hinzufügen von »unter anderem«. So ist das eingangs erwähnte »genaue Beschreiben« eben lediglich als Beginn des Schreibprozesses zu verstehen, daraufhin – oder damit einhergehend – ein abwägendes Fragen und ein Forschen einsetzt. Im genauen Beschreiben beginnt auch eine Transformation hin zum »Was wäre, wenn …?«, der Widerstreit des Möglichen mit dem Unmöglichen hebt an.
Klaus Merz ist ein Autor der Bilder; vielleicht sogar der Autor der Bilder, und dies in mehrfacher Hinsicht. Seine Faszination für die Kunstwerke großer Maler ist ebenso ausgeprägt wie jene für Fotografien des Zeitgeschehens. Die Verknüpfung mit der Literatur, sie dürfte für Merz einer Notwendigkeit entsprechen, getreu der Formel: Bilder ohne Geschichten sind leer, Geschichten ohne Bilder sind blind. Im Band Der gestillte Blick (2007), der erstmals Bildbetrachtungen von Klaus Merz versammelte – oder Sehstücke, wie der Schriftsteller sie nennt –, hält er im gleichnamigen Text eingangs des Bandes fest:
Vom Wesen der Dinge, fiel mir auf, offenbaren uns die Bilder ja häufig mehr als ihr reales Vorbild, selbst da noch, wo sich »die Bildnerei« alleiniges Thema und Gegenstand zu sein scheint. – Kunst, wenn sie etwas taugt, stellt stets neue Verbindungen her, sie vernetzt Wirklichkeiten miteinander, lotet in die drohende Leere hinab. Der unwiderlegbaren Evidenz von Träumen nicht unähnlich, die mich oft in ihren Bann zieht und wieder ans Leben anzuschließen pflegt, wenn ich den roten Faden schon fast verloren gegeben habe.
Versuche ich mir heute darüber Rechenschaft zu geben, wie es schon früh zu dieser Liebe und meinem Vertrauen, ja, zu meinem Hunger nach Bildern, also auch nach Bildender Kunst gekommen ist, so stelle ich fest, dass es mir zuallererst, ähnlich wie vor literarischen Umsetzungen, um nichts Geringeres und nichts Großartigeres als um die immer wieder neue Entdeckung und Erfindung des Alltäglichen und seiner Unerschöpflichkeit geht. Um eine lesbare Art von Nachbarlichkeit unter den Geschöpfen und Dingen, die Erweiterung des eigenen Blickfeldes durch fremde und verwandte Blicke.