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Muslimische Patienten: Chancen und Grenzen religionsspezifischer Pflege
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eBook362 Seiten4 Stunden

Muslimische Patienten: Chancen und Grenzen religionsspezifischer Pflege

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Über dieses E-Book

Die Debatte um die Integration von Migranten vor allem aus dem muslimischen Kulturkreis wird inzwischen ebenso engagiert wie kontrovers geführt. Muslime als Patienten mit ihren spezifischen und direkt von ihrem religiösen Weltbild abhängigen Heilungsvorstellungen wurden allerdings bislang weder im politischen noch im medizinisch-pflegerischen Alltag genügend beachtet. Hier will dieses Buch Abhilfe leisten: Muslimische Patienten werden in ihrem gelebten Alltag als Heilung Suchende an deutschen Kliniken mit ihren spezifischen religiösen Bedürfnissen wahrgenommen; ihre Wünsche und Sorgen werden dokumentiert und diskutiert. Dies schließt einen knappen Rückblick auf die Entwicklung der arabisch-muslimischen Medizin mit ihren Besonderheiten ebenso ein wie einen Aufriss der Situation von Migranten der unterschiedlichsten Herkunftsländer, ihren Integrations- und Akkulturationsleistungen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Jan. 2006
ISBN9783170283244
Muslimische Patienten: Chancen und Grenzen religionsspezifischer Pflege

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    Buchvorschau

    Muslimische Patienten - Ina Wunn

    Vorwort von Karl Ulrich Petry

    Als Chefarzt einer der in die Studie eingebundenen Abteilungen wurde ich um ein Vorwort gebeten; ich komme dieser Bitte gerne nach. Man wird mir verzeihen, dass ich als Gynäkologe die Gesichtspunkte meines Faches in den Vordergrund stelle, ohne dabei den Wert der vorliegenden Untersuchungen für andere Fächer und die Pflege allgemein in Frage stellen zu wollen.

    Geburt und Tod, Anfang und Ende unserer physischen Existenz, sind die Eckdaten des Lebens aller Menschen über sämtliche kulturelle Unterschiede hinweg. Das Schicksal, geboren zu werden und zu sterben, teilen wir nicht nur mit allen anderen Menschen, sondern auch mit sämtlichen Säugetieren; es definiert seit Urzeiten unseren Beginn und unser Ende. Damit werden Geburt und Tod zu einschneidenden Ereignissen, ja zu den Ereignissen im Leben des Menschen überhaupt, die alle anderen bedeutsamen Vorgänge während der begrenzten Zeitspanne irdischen Lebens an Bedeutung übertreffen und daher, soweit mir bekannt ist, in allen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen entsprechend reflektiert werden. Vor allem aufgrund der bis in das vergangene Jahrhundert hohen Mütter- und Säuglingssterblichkeit waren Schwangerschaft und Geburt dabei aber durchaus nicht nur positiv besetzt; das schaurige Nebeneinander von Geburt und Tod ist nicht nur Gegenstand trockener medizinischer Berichte, sondern Thema zahlreicher Märchen und Sagen. Erst durch die Entwicklung der modernen Geburtshilfe, Perinatalmedizin und Hygiene sind seit zwei Generationen die Schrecken der Geburt abgemildert und konkrete Gefahren so selten geworden, dass sie im Bewusstsein der Allgemeinheit in den Industriestaaten kaum mehr wahrgenommen werden.

    Aus diesen Voraussetzungen resultiert eine Sonderstellung der Geburtshilfe innerhalb der westlichen Schulmedizin: Schwangere erwarten von einer modernen Geburtshilfe selbstverständlich die Verhinderung aller mit Schwangerschaft und Geburt verbundenen Risiken, ja sogar der Unannehmlichkeiten, und darüber hinaus einen würdigen Rahmen für ein zu ihrer jeweiligen Weltanschauung passendes positives Geburtserlebnis. Kaum ein anderer Kernbereich der Medizin richtet sich so sehr nach den Vorstellungen seiner Kunden. Die Leistungskataloge geburtshilflicher Abteilungen mit Akupunktur, Aromatherapie, Massagen, traditioneller chinesischer Medizin und zahllosen weiteren Angeboten scheinen eher zu Wellness-Hotels als zu einer Klinik zu passen. Es erstaunt, dass in einem Fach, das die Wünsche der Schwangeren so zur Richtschnur des eigenen Angebots macht, bisher die besonderen Bedürfnisse von Muslimat zumindest nicht bewusst berücksichtigt wurden, d.h. keine Untersuchungen zu den Erwartungen von muslimischen Patientinnen vorlagen, obwohl deren Anteil an den Geburten in Deutschland stetig steigt. Die vorliegende Studie beschreitet somit Neuland und füllt einen Teil dieser Wissenslücke. Das Ergebnis, nämlich die hohe Zufriedenheit islamischer Patientinnen und hier vor allem der Wöchnerinnen, ist für Geburtshelfer sicher erfreulich, dennoch besteht kein Grund, sich auf den vorläufigen positiven Resultaten auszuruhen. Die Wahrnehmung des Patienten in seiner Individualität, und das schließt seine Verwurzelung in einer bestimmten Weltanschauung ein, ist ein zentrales Anliegen ärztlicher und pflegerischer Ethik, dem wir uns verpflichtet fühlen.

    Vorbemerkungen

    Die vorliegende Untersuchung verdankt sich einer Initiative der Dr. Buhmann-Stiftung entsprechend ihrer Zielsetzung, den christlich muslimischen Dialog in einer Weise zu unterstützen, die die Akzeptanz und damit die Lebensqualität der in Niedersachsen lebenden deutschen und nicht-deutschen Muslime fördert. Neben anderen direkt von der Stiftung geforderten oder durchgeführten Projekten sollte in diesem konkreten Zusammenhang ein Fortbildungspaket zur interkulturellen Pflege für Krankenpflegekräfte angeboten werden. Eine entsprechende Bedarfsskizze, verfasst von der Migrationssoziologin Elçin Kürşat, lag ebenso vor wie der Aufriss eines ähnlichen Programms, das mit Erfolg in Berlin gestartet war.¹

    Ein solches Angebot reagiert auf aktuelle Bedürfnisse: In den vergangenen acht bis zehn Jahren – kaum früher – ist eine Fülle von Literatur erschienen, die zum ersten Mal darauf aufmerksam macht, dass Migranten unterschiedlichen Glaubens einen prozentual nicht unerheblichen Anteil unserer Mitbürger stellen. Lebensgewohnheiten, religiöse Vorschriften und ethnisch motivierte Sitten und Gebräuche weichen mehr oder weniger von denen der alteingesessenen Bevölkerung ab und sind bisher eher als Fremdheitsindikatoren denn als potenzieller Bedürfniskatalog wahrgenommen worden. Neben einem Informationsteil, der über Religion und Sitten der Zuwanderer aufklärt, enthalten einige dieser Veröffentlichungen genaue Handlungsanweisungen, wie mit Patienten anderen Glaubens umzugehen sei. Die Themen behandeln Fragen des Umgangs der Geschlechter miteinander, Speisevorschriften, Hygiene und Bekleidung, Besucher, Kommunikation etc.; der Themenkatalog ist in den relevanten Schriften sehr ähnlich bis deckungsgleich.² So fehlt z.B. in keiner muslimische Patienten betreffenden Veröffentlichung der Hinweis auf das Kopftuch oder auf das Verbot des Genusses von Alkohol und Schweinefleisch. Überraschend ist bei so weitgehender grundsätzlicher Ähnlichkeit die Bandbreite der Antworten im Detail: So besteht z.B. keineswegs Einigkeit darüber, wie gravierend die Einnahme von Gelatinekapseln (möglicherweise aus Schweineknorpel) in Zusammenhang mit dem Schweinefleischverbot ist oder wie problematisch ein nicht gleichgeschlechtlicher Arzt oder Pfleger sein kann. Da die Handreichungen zur Pflege gerade muslimischer Patienten teilweise aus der Feder muslimischer Autoren stammen, drängen sich Fragen auf: Geben die genannten Handreichungen vielleicht eher die Wünsche dieser Autoren wieder oder spiegeln theoretisches Wissen, das in der Praxis nicht gefragt ist? Sind die Handlungsanweisungen vielleicht eher kultur- als religionsspezifisch, also konkret: Sind die Ansprüche muslimischer und yezidischer Kurdinnen untereinander ähnlicher als diejenigen von Yemenitinnen und deutschen Musliminnen? Sind es überhaupt die Frauen, für die religiöse Vorschriften im Krankenhaus verpflichtend sind, während sie für Männer nur eine periphere Rolle spielen? Unterscheiden sich die Ansprüche von Migrantinnen der ersten von denen der zweiten Generation?

    Diese und ähnliche Fragen drängen sich auf und verlangen nach Antworten, unter anderem auch, weil die Migrationssoziologie ihren Finger auf einen vielleicht blinden Fleck in der Welt von Wissenschaft und Krankenpflege gelegt hat. Im Rahmen der gut gemeinten Auseinandersetzung um mögliche spezifische Bedürfnisse von Migranten tauchen Vorstellungen von der angeblichen Besonderheit dieser Bevölkerungsgruppe auf, die ihre Nähe zu alten und längst überwunden geglaubten Vorurteilen nur schwer verbergen können: Religiös-ethnische Fragestellungen zur Situation von Migranten sind letztlich nichts weiter als die sprachlich gewandelte Fortsetzung der alten, völkisch-rassistischen Betrachtungsweise einer Bevölkerungsgruppe, die als fremd erlebt und daher latent abgelehnt wird. Dementsprechend gehen auch literarische Pflegehilfen oder Fortbildungen an den tatsächlichen Bedürfnissen der Erkrankten vorbei, indem wieder einmal über sie statt mit ihnen gesprochen und wieder einmal über ihren Kopf hinweg entschieden und gehandelt wird.

    Zurück zum Ausgangspunkt, der angebotenen Fortbildung für Pflegekräfte der Krankenhäuser in der Region Hannover: Vor einer Fortbildung, so der gemeinsame Tenor der an der Diskussion Beteiligten – das sind die Dr. Buhmann-Stiftung, das Dezernat Soziale Infrastruktur der Region Hannover, die Pflegedirektion der Krankenhäuser der Region Hannover und das Seminar für Religionswissenschaft der Universität Hannover – sollte ein thematisch begrenztes Forschungsvorhaben stehen, das die Situation, die Wünsche und Bedürfnisse der erkrankten Muslime zunächst einmal in Erfahrung bringt, um anschließend auf die tatsächlichen Bedürfnisse angemessen reagieren zu können.

    Die Durchführung des Forschungsvorhabens lag in den Händen des Seminars für Religionswissenschaft der Universität Hannover. Hier wurden im Rahmen der Ausbildung von Religionswissenschaftlern im Kontext eines Hauptseminars zunächst die theoretischen Grundlagen erarbeitet, um dann die Befragungen zunächst durchzuführen und anschließend auszuwerten. In die endgültige Ausarbeitung sind die studentischen Beiträge – in mehr oder weniger intensiv überarbeiteter Form – mit eingegangen.

    Trotz des hohen Engagements aller Beteiligten wäre diese Veröffentlichung nicht zustande gekommen ohne die freundliche und uneigennützige Hilfe verschiedener Personen und Institutionen, die wenigstens kurz Erwähnung finden sollte. Hier ist zunächst mein akademischer Lehrer und Mentor Professor Dr. Dr. Peter Antes zu nennen, der die Durchführung des Projektes am Seminar für Religionswissenschaft der Universität Hannover nicht nur ermöglichte, sondern uns auch bei der Durchführung unterstützte. Nicht zuletzt nahm er die Mühe auf sich, das fertige Skript noch einmal kritisch durchzulesen. Für diese erhebliche Mühe sei an dieser Stelle ausdrücklich und herzlich gedankt. Dank gebührt auch der Dr. Buhmann-Stiftung und hier besonders Herrn Dr. Christian Buhmann selbst, der das Projekt stets wohlwollend begleitete und die Untersuchung selbst wie auch die Veröffentlichung der Ergebnisse finanziell förderte. Zu den großzügigsten Förderern gehört auch die Eos-Loge Hannover, die mit ihrem finanziellen Engagement vor allem die Beteiligung der in die Studie eingebundenen jungen Nachwuchswissenschaftler ermöglichte. Auch den besonders engagierten der in die Studie eingebundenen Krankenhäuser und Personen möchte ich ausdrücklich danken. Es sind dies Professor Dr. Karl Ulrich Petry, Leiter der Abteilung Frauenheilkunde des Krankenhauses Wolfsburg, Angelika Hausen, Pflegedirektorin der Kliniken der Region Hannover, und Semsin Tüzün, Stellvertretende Pflegedienstleiterin des Krankenhauses Burgwedel, deren interkultureller Kompetenz wir manchen Hinweis verdanken. Besonders offen und hilfsbereit waren auch die Schwestern und Hebammen des Nordstadtkrankenhauses Hannover; gleiches gilt für Ärzte und Schwestern der Bertaklinik.

    Gedankt sei auch dem afrikanisch-deutschen Kulturverein Benkadi, der uns half, Kontakte zu schwarzafrikanischen Muslimen herzustellen, sowie den Repräsentanten, Vertretern oder Mitgliedern (vor allem niedersächsischer) muslimischer Gruppierungen, von denen ich einige stellvertretend nennen möchte: Es sind dies Hamideh Mohagheghi, Dr. Hilal Al-Fahad, W.D. Ahmed Aries und Selma Öztürk.

    Nicht zuletzt möchten wir uns bei den Patienten und vor allem den Patientinnen bedanken, die uns in teilweise sehr langen Gesprächen bereitwillig und offen Auskunft gaben. Sie haben uns vertraut, uns ihre intimen Sorgen und Nöte anvertraut und uns oft wie Freunde behandelt. Ich hoffe, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt war und dass dieses Büchlein dazu beiträgt, die berechtigten Belange dieser Bevölkerungsgruppe ein wenig mehr ins öffentliche Bewusstsein zu bringen.

    An Letzterem hat auch der Kohlhammer-Verlag nicht unbeträchtlichen Anteil. Wir freuen uns, dass unsere Arbeit hier in guten und bewährten Händen ist.

    1 Die Texte finden sich im Anhang.

    2 Vgl. beispielsweise Abdoljavad Falaturi 1997; Sieglinde al Mutawaly 1996.

    1 Fragestellung, Ziele, Methoden

    1.1 Fragestellung

    Ansatzpunkt der Untersuchung sind daher zwei unterschiedliche wissenschaftliche Aussagen: Während, vereinfacht ausgedrückt, die Migrationssoziologie religiös-ethnische Fragestellungen zur Situation von Migranten in Krankenhäusern für letztlich nichts weiter als die sprachlich gewandelte Fortsetzung einer alten, völkisch-rassistischen Betrachtungsweise hält, geht die Religionswissenschaft von religionsspezifischen Heilserwartungen und damit auch Heilungsansprüchen aus, die sich zwangsläufig in einer situationsspezifischen Wahrnehmung von Krankheit und kurativen Maßnahmen einschließlich der zu erwartenden Erfolge niederschlagen müssen.

    1.2 Ziele

    Damit sind die Ziele der Studie bereits umrissen:

    Die Heilungserwartungen der in der Region Hannover lebenden Muslime sollen erfragt und dargestellt werden. Dazu gehört zunächst auf deskriptiver Ebene eine Skizze der muslimischen Gruppierungen, ihres kulturellen Umfeldes, ihrer Herkunft und nicht zuletzt ihrer sozialen Situation. Verbunden mit dieser Form der Darstellung ist die Absicht, Informationen über eine Religion und ihre Anhänger zu vermitteln, die in Deutschland schon lange kein Randphänomen mehr ist, aber immer noch als ein solches wahrgenommen wird. In einer ähnlichen, aber südostasiatische Migranten betreffenden Studie bemerkt der Religionswissenschaftler Martin Baumann dazu treffend: „Wie sich vielfach im Hinblick auf Migrantengruppen gezeigt hat, lassen in der Mehrheitsbevölkerung vorhandene Wissensdefizite über fremde Wertkonzepte und Ritualhandlungen Misstrauen und Ablehnung wachsen."³ Diese Wissensdefizite abzubauen, setzt sich die Studie zum Ziel. In diesem Zusammenhang muss die Rolle der Religion als Integrationsfaktor ebenso angesprochen werden wie ihre Signifikanz hinsichtlich gesellschaftlich konfliktträchtiger Situationen und die Rolle der Mehrheitsbevölkerung. Im Zentrum der Studie steht jedoch das eigentliche Thema, nämlich die spezifischen und konkreten Heils- und Heilungserwartungen erkrankter Muslime und der sich daraus möglicherweise ergebenden Defizite und Konflikte in der Patientenversorgung und im medizinischen Bereich. In diesem Zusammenhang sollen die Geschichte der muslimischen Medizin, d.h. arabisch-orientalischen, der europäisch-westlichen Medizin gegenübergestellt und ihre Verknüpfungen deutlich gemacht werden.

    Da die Durchführung der Studie in den Händen des Seminars für Religionswissenschaft der Universität Hannover lag und die Dr. Buhmann-Stiftung sich zudem dem interreligiösen Dialog und erst in zweiter Linie sozialen oder medizinischen Aspekten verpflichtet sieht, entsprach die Auswahl der zu befragenden Gruppen einem religionswissenschaftlichen Ansatz: Es sollten Muslime in typischen Übergangssituationen bzw. in einer charakteristischen, religiös oder traditionell definierten Rolle erfasst werden. Dies waren:

    Geburt und Wochenbett: Befragung von Patientinnen und Angehörigen auf den Wöchnerinnenstationen;

    Schwersterkrankung und Sterben: Befragung von Patienten und Angehörigen auf internistischen / onkologischen Stationen;

    Männliches Rollenverhalten und Krankheit: Befragung von Patienten und Angehörigen (Urologie, Chirurgie).

    In der Praxis konnte diese Beschränkung nicht durchgehalten werden. Zwar war es kein Problem, in einem weitgehend vorgegebenen Zeitrahmen eine aussagefähige Anzahl von Wöchnerinnen zu befragen; schwieriger gestaltete sich dagegen bereits die Untersuchung des Themenkomplexes „männliches Rollenverhalten sowie „Schwersterkrankung und Sterben aus dem Grunde, da kaum geeignete Patienten zur Verfügung standen. Dies mag zum Teil an der nicht immer vorbildlichen Kooperation der in die Studie eingebundenen Krankenhäuser gelegen haben, ist aber zum anderen sicherlich auch auf abweichendes Verhalten und Krankheitsverständnis muslimischer Migranten zurückzuführen, die nur bei drückenden Beschwerden ein Krankenhaus aufzusuchen scheinen und im Alter ihren Lebensmittelpunkt in die ehemalige Heimat zurückverlegen. Ergänzend zu den Patientenbefragungen wurden Interviews in Moscheegemeinden bzw. Vereinigungen durchgeführt, die zur Abrundung des Bildes beitragen. Auch dies ist Thema eines eigenen Abschnittes.

    Ebenfalls parallel durchgeführte Befragungen in Arztpraxen bzw. unter Hebammen / Pflegepersonal zeigten deutlicher als die eigentlichen Patientenbefragungen die in der Praxis auftretenden Schwierigkeiten im Umgang mit muslimischen Migranten im Gesundheitswesen, aber auch die Informationsdefizite und, als Resultat, konkret geäußerte Fortbildungswünsche.

    1.3 Methode

    Wie der renommierte Sozialforscher Roland Girtler schreibt, sind es „oft persönliche Erlebnisse und tiefer gehende Kontakte, die einem Sozial- bzw. Kulturwissenschaftler ein bestimmtes Thema als interessant erscheinen lassen."⁴ Aus persönlicher Betroffenheit oder Sympathie entsteht ein bestimmtes Forschungsinteresse, der Wunsch, einen Bereich gesellschaftlichen Lebens „von innen her kennenzulernen und seine Wirklichkeit zu erforschen.⁵ Daraus folgt der Verzicht auf eine Standardisierung von Fragen oder gar die Präsentation von Mittelwerten zu Gunsten von Beschreibungen spezifischer Situationen, von Hoffnungen und Erwartungen, von Ängsten und Enttäuschungen. Die Studie arbeitet also nach dem Prinzip der qualitativen Sozialforschung, indem sie mit Hilfe freier Interviews nach dem Beispiel von Alltagsgesprächen die subjektive Perspektive des Befragten erkundet, ohne dass durch ein festgelegtes Frageraster das Spektrum der möglichen Antworten bereits vorher beeinflusst oder gar festgelegt wird.⁶ Im Unterschied zu quantitativen Methoden bieten sich qualitative Methoden an, wenn es um die „Deskription empirischer Sachverhalte und sozialer Prozesse, Aufstellung von Klassifikationen und Typologien, Gewinnung von Hypothesen am empirischen Material, Prüfung von Forschungshypothesen geht.⁷ Dies bedeutet, dass im Unterschied zur quantitativen Sozialforschungen mit einer wesentlich geringeren Anzahl von Personen gearbeitet werden kann und wird, wobei dann aber der Auswahl möglichst repräsentativer Probanden eine erhöhte Relevanz zukommt. Qualitative Interviews lassen ihre Interviewpartner ausführlich zu Wort kommen, um so möglicherweise auch neue und unbekannte Fragestellungen zu erschließen. In technischer Hinsicht wird an Alltagsgespräche angeknüpft, um in einer möglichst wenig künstlichen und entspannten Atmosphäre Hemmschwellen abzubauen und damit zu intimen Kenntnissen sozialer Sachverhalte zu gelangen. Problematisch ist hier gelegentlich, einen guten Zugang zu den Probanden zu finden, denn, wie Girtler betont, hat jede Gemeinschaft ihre Erfahrungen mit und daher Ressentiments gegen Außenstehende. Voraussetzung für eine gelungene und wirklichkeitsnahe Studie in gesellschaftlichen Sondergruppen ist daher der gute, besser freundschaftliche Kontakt zu Mitgliedern dieser Gruppe, die weitere Kontakte vermitteln können. Diese Voraussetzungen waren in fast optimaler Weise gegeben, denn die Offenheit und positive Grundeinstellung Muslimen gegenüber, für die die Hannoversche Religionswissenschaft und die Buhmannstiftung gleichermaßen stehen, half, Ängste bei den Interviewten abzubauen. Als besonders günstig erwies sich in diesem Zusammenhang, dass einige der befragenden studentischen Mitarbeiter auf einen eigenen Migrationshintergrund verweisen bzw. sich mit den Interviewten in ihrer Muttersprache verständigen konnten. Diese Interviews unterscheiden sich in nicht unbedeutenden Details von den von deutschstämmigen Mitarbeitern durchgeführten Interviews: Sie sind kritischer; mehr dazu im Interpretationsteil.

    Noch ein Wort zu den Interviews, die oben zunächst als freie Interviews im Unterschied zu Fragebogeninterviews charakterisiert wurden. Auch bei den freien Interviews gibt es Unterschiede. Hier ist zunächst das narrative Interview zu erwähnen, das in Erzählform Auskunft über biographische Daten, Erlebnisse Berufsverlauf etc. gibt und in den hier vorliegenden konkreten Fällen oft lange Passagen über den Islam, Inhalte des Koran, Feste und Vorschriften enthielt. Vorgegeben wurde von uns lediglich das Thema in Form einer einleitenden Frage: „Wie geht es Ihnen? oder „Fühlen Sie sich hier wohl? Meist reichten diese kurzen Sätze und die offenkundige Bereitschaft des Fragenden zuzuhören, um lange Erzählungen oder Berichte zu provozieren, die die Situation der Erkrankten in wünschenswerte Tiefe ausleuchteten. Gelegentlich nahmen diese Gespräche – vor allem unter Frauen – den Charakter einer freundschaftlichen Plauderei an, in deren Verlauf auch die Zielperson Einblick in das Leben der Fragenden gewann und in dem es zuletzt um den Austausch von Positionen und Bekenntnissen ging. So wurde ich nach meinen persönlichen Glaubensüberzeugungen gefragt, ob ich Freundschaften zu Muslimen unterhielte, wie ich meine Kinder erziehe usw.

    Nicht immer führten die einleitenden, allgemeinen Fragen zu den erwünschten Ergebnissen. So wurde zwar meist gern über die Krankengeschichte berichtet, über die Pflege, Ärzte usw., der kulturelle Hintergrund einschließlich der religiösen Bindungen kam jedoch gelegentlich zu kurz, so dass hier eine Reihe von Zusatzfragen gestellt wurde, die zur Abrundung des Bildes beitragen sollten. Zu diesem Zweck wurde von uns, der Arbeitsgruppe, zuvor ein Interviewleitfaden erarbeitet⁸, der zunächst lediglich für die Interviewer einen Rahmen vorgeben sollte, der unsere Interessen absteckte. Dieser Interviewleitfaden sollte keinesfalls dazu dienen, bestimmte Problemstellungen abzufragen; vielmehr sollte es der jeweiligen Situation überlassen bleiben, wann welche Fragen zu stellen seien. Diese so genannten problemzentrierten Interviews wurden immer dann angewendet, wenn der Patient nicht in der Lage war, in freier Erzählung die gewünschten Auskünfte zu geben,⁹ oder wenn das Gespräch zu sehr in Bereiche abglitt, die für unseren Themenschwerpunkt nicht relevant waren, für die Interviewten aber von Interesse. Ein Beispiel: So erzählten einige ältere Frauen ausführlich über ihre Kinder, deren berufliche Erfolge oder geglückte Ehen. Hier wurde dann mit Zusatzfragen das Gespräch auf die eigentliche Problematik zurückgelenkt.

    3 Vgl. Martin Baumann 2000, 13.

    4 Roland Girtler 1985, 9.

    5 Ebd. 14.

    6 Der Wert qualitativer Methoden in der Sozialforschung wird bis heute kontrovers diskutiert. Vgl. dazu Andreas Diekmann 2004, 443–455.

    7 Ebd. 444.

    8 Der Interviewleitfaden findet sich im Anhang.

    9 Vgl. Andreas Diekmann 2004, 450–451.

    2 Migration und Religion

    (unter Mitarbeit von Asiye Berge-Traoré)

    2.1 Der Islam in Niedersachsen

    Kaum eine einschlägige Publikation kommt ohne den Hinweis auf eine bisher nicht gekannte religiöse Vielfalt in der deutschen bzw. niedersächsischen Kulturlandschaft aus,¹⁰ und tatsächlich ist hier ein deutlicher Wandel nicht zu übersehen. Wie Baumann in seiner Untersuchung über die Religiosität / religiöse Organisation asiatischer Migranten zusammenfassend ausführt, ist religiöser Pluralismus zumindest in Niedersachsen ein Phänomen der jüngsten Geschichte. Noch bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war die Bevölkerung weiter Teile des heutigen Niedersachsens durchgängig protestantisch; lediglich in bestimmten Regionen wie Osnabrück, Emsland oder Südoldenburg dominierte der Katholizismus. Erst durch die Gründung des Bundeslandes Niedersachsen 1946 entstand ein in konfessioneller Hinsicht bunteres Landschaftsbild, das durch den Zustrom von Flüchtlingen, Vertriebenen und Evakuierten zusätzlich an Heterogenität gewann. Diese durch die politischen und demographischen Veränderungen während der Nachkriegszeit hervorgerufenen Verschiebungen innerhalb der konfessionellen Zusammensetzung der einzelnen Regionen gingen nicht ohne Probleme vonstatten, da die anderskonfessionellen Zuwanderer Konkurrenten in einer weitgehend noch durch Mangel (Wohnung, hochwertige Nahrung, Arbeit) geprägten sozialen Umwelt darstellten. „Erst langsam, so stellt Baumann fest, wuchs „das politisch als auch demographisch neue niedersächsische Volk ... zusammen, die einstige regionale monokonfessionelle Prägung wich vielerorts einer Bikonfessionalität.¹¹

    Eine Sonderstellung nahmen die jüdischen Gemeinden ein, die sich seit jeher in einer Diasporasituation befunden hatten, als Fremdlinge angesehen und stigmatisiert wurden. Erst 1870 konnten die Hannoveraner Juden nach knapp zweihundert Jahren der Hinterhofexistenz eine repräsentative Synagoge an zentraler Stelle errichten, die jedoch 1938 zerstört wurde. Heute befindet sich an dieser Stelle das Parkdeck der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers; lediglich eine unauffällige Gedenktafel erinnert an die Synagoge und die kurze Zeit der erfolgreichen jüdischen Emanzipation.¹²

    Festzuhalten bleibt bei diesem begrenzten Ausflug in die niedersächsische Religionsgeschichte, dass religiöse Vielfalt auch auf kleinstem und anscheinend altgewohntem Level keineswegs zum gelebten Alltag in der jüngeren niedersächsischen Geschichte gehört, sondern dass vielmehr bloße konfessionelle Unterschiede in Zeiten politischer oder wirtschaftlicher Unsicherheit zur Verstärkung von Ressentiments führen konnten und führten. Entschärft wurden diese durchaus nicht immer nur marginalen Konflikte in den folgenden Jahren durch erhebliche Fortschritte auf dem Gebiet der Ökumene einerseits, andererseits aber vor allem durch die allgemein fortschreitende Säkularisierung, die zwar nicht zu einer Entchristlichung, aber doch zu einer fortschreitenden Entkirchlichung führte und damit die konfessionellen Unterschiede verwischte oder im gelebten Alltag bedeutungslos machte.¹³

    Diese neue, in religiöser und vor allem ethnisch-kultureller Hinsicht immer noch recht homogene Kulturlandschaft begann sich seit den 1960er Jahren durch den Zuzug von Arbeitsmigranten, aber auch von Flüchtlingen, in einem bislang nicht gekannten Ausmaß zu verändern.¹⁴ So leben heute in Niedersachsen rund 480 000 Ausländer – eingebürgerte Migranten mit inzwischen deutschem Pass sind naturgemäß in dieser Zahl nicht enthalten.¹⁵ Ein Blick auf die Herkunftsländer zeigt, dass in Niedersachsen türkische Staatsangehörige mit gut 118 000 Personen den weitaus größten Anteil an den Ausländern stellen, mit weitem Abstand gefolgt von rund 40 000 Serben und Montenegrinern. Italiener und Niederländer stellen mit je 26 000 und 20 000 Personen erst die dritt- bzw. viertgrößte Migrantengruppe. Interessanter als die Nationalität ist für die vorliegende Untersuchung die Frage nach der Religionszugehörigkeit, die jedoch in dieser Form von der Statistik nicht beantwortet wird – auch hier kann der Umweg über das Herkunftsland weiterhelfen. So dürften von den europäischen Migranten die knapp 7 000 Bosnier / Herzegowiner mehrheitlich Muslime sein; ebenso etwa die Hälfte der rund 15 000 gemeldeten Afrikaner einschließlich Algeriern, Marokkanern und Tunesiern. Für Asien stellen Afghanistan mit etwa 4 000, Irak und Libanon mit

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