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Herrschaft über Syrien: Macht und Manipulation unter Assad
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eBook373 Seiten4 Stunden

Herrschaft über Syrien: Macht und Manipulation unter Assad

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Über dieses E-Book

Auch nach Jahren der Tyrannei und des Krieges hält sich das syrische Regime noch immer an der Macht. Aber wer und was ist eigentlich dieses Regime? Welche Kräfte und Narrative halten es im Inneren zusammen? Der Journalist und Orientalist Daniel Gerlach entwirrt die Hintergründe einer Logik der Gewalt und Manipulation, der sich die Herrschenden auch selbst unterworfen haben.

Was 2011 als Aufbegehren gegen ein politisch und moralisch bankrottes System begann, eskaliert immer weiter, beschleunigt noch durch die Exzesse des »Islamischen Staates«. Ratlos schaut die Welt zu, kann oder will nicht helfen - zu verworren scheinen die Konfliktlinien, zu groß ist die Sorge, die »falsche Seite« zu unterstützen.

Daniel Gerlach beleuchtet das schizophrene Verhältnis der Religionen und Konfessionen in Syrien, das Wirken sichtbarer und unsichtbarer Mächte, die diesen Konflikt so unerbittlich machen. Er beschreibt die Geister der Vergangenheit, erzählt von traumatischen Erfahrungen und ihrer Wirkung auf das heutige Syrien. Klar wendet sich Gerlach gegen die Behauptung, das Regime sei der Garant für Stabilität und den Erhalt eines Staates, den es womöglich längst nicht mehr gibt. Die Lage ist undurchsichtig - auf ihrer Unwissenheit ausruhen können sich die internationalen Mächte nun allerdings nicht mehr.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Körber
Erscheinungsdatum25. März 2015
ISBN9783896844781
Herrschaft über Syrien: Macht und Manipulation unter Assad

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    Buchvorschau

    Herrschaft über Syrien - Daniel Gerlach

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    Syrien im Dämmerlicht

    Eine Einleitung

    Alle freien Gesellschaften gleichen einander, jede unfreie ist auf ihre eigene Weise unfrei.

    Als Europäer, die das Privileg von Meinungsfreiheit und verhältnismäßiger Rechtssicherheit genießen, neigen wir wohl zu der Annahme, dass repressive Regime mit den Attributen »autoritär« oder »totalitär« ausreichend beschrieben seien. Die einen agieren tyrannisch, interessieren sich aber nicht weiter für das, was ihre Untertanen treiben, sofern es ihren Machterhalt nicht empfindlich stört. Die anderen wollen die Gesellschaft mit einer Ideologie durchdringen, den Menschen verändern. Sie richten sich vortrefflich ein in den Widersprüchen, die aus einem wie auch immer gearteten Interesse am Fortschritt der Allgemeinheit und dem eigenen Zugewinn an Macht und Vermögen resultieren – allerdings um den Preis, dass sie mit der Zeit paranoid werden.

    Aber sind dies denn die einzigen Wesenszüge, die ein unterdrückerisches Regime vom anderen unterscheiden? Es lohnt sich, die Herrschaftstechniken immer auch im jeweiligen kulturellen, historischen und politischen Kontext zu betrachten.

    In Syrien tobt seit nunmehr vier Jahren ein Krieg. Im August 2014 sprachen die Vereinten Nationen von der »größten humanitären Krise unseres Zeitalters«. Syrien kollabiert, auf seinen Trümmern zeigt sich die hässliche Karikatur eines anderen Staates, der sich »islamisch« nennt. Die Mächte, die von außen in diesen Krieg eingriffen, taten dies mit der gleichlautenden Begründung wie diejenigen, die sich heraushielten: Man müsse Schlimmeres verhindern, nämlich, dass es noch mehr Todesopfer gäbe. Mit dem Fortschreiten der Zeit mehrte sich auch die Anzahl der verpassten Chancen, der Gewalt ein Ende zu bereiten. Große und kleine Möglichkeiten boten sich nicht nur den Weltmächten, sondern auch der Bundesrepublik. Sie blieben ungenutzt – aus Überzeugung, Zweifeln oder Trägheit.

    Und allenthalben, auch von ausgewiesenen Nahost-Experten, war zu hören, die Lage in Syrien sei einfach zu verzwickt. Einige verstiegen sich sogar in die zynische Conclusio, man müsse den Konflikt »ausbluten lassen«.

    Als ein Journalist des Boston Review 2014 dem aus der syrischen Stadt Rakka stammenden Intellektuellen Yassin Haj Saleh sagte, der Westen finde die Situation in Syrien »verwirrend«, konterte dieser, er finde es »verwirrend, dass der Westen unsere Situation in Syrien verwirrend findet«.

    Haben wir also vier Jahre lang berichtet, analysiert, uns den Kopf zerbrochen und internationale Konferenzen abgehalten, um nun, 200.000 Tote später, zu dem Schluss zu kommen, dass das alles »viel zu kompliziert« sei? Sind wir so müde, dass wir gar nicht mehr verstehen wollen, was in Syrien geschieht? Und gibt es nicht ohnehin immer so viele Wahrheiten in Kriegen, dass man am Ende gar nichts glauben kann? Für die Politik und diejenigen, die sie beraten, ist das eine denkbar schlechte Ausrede. Und obendrein stimmt es nicht einmal. Nicht alles ist relativ und zur schieren Ansichtssache degradierbar.

    Natürlich existieren sehr unterschiedliche Narrative – nicht nur, weil sie zum Zwecke politischer Propaganda fabriziert werden, sondern auch, weil die Menschen im Krieg sehr unterschiedliche Erfahrungen machen. Das gilt ebenso für das politische System dieser »Arabischen Republik«. Oft schien es, als könne man von jeder Aussage, die über Syrien gemacht wurde, auch immer das Gegenteil belegen: Syrien war eine Diktatur mit brutalem Sicherheitsapparat? – Ja. Dennoch konnte man in diesem Land Gerichtsprozesse gegen Verwandte des Herrscherclans führen – und sie sogar gewinnen.

    Syrien war ein Staat mit einer fast beispiellosen Vielfalt an Religionsgemeinschaften, die friedlich miteinander lebten? – Vordergründig ja, aber hintergründig zehrte das Regime von Hass und Misstrauen zwischen den Konfessionen.

    Es handelt sich um einen Volksaufstand gegen eine Diktatur? – Ja, aber Syrien ist ein Land vieler Völker, die sich diesem Aufstand nicht sämtlich angeschlossen haben.

    Wir müssen feststellen, dass diese landläufigen Thesen zutreffen und sich – obwohl sie in der Diskussion meist gegeneinander ins Feld geführt werden – nicht notwendigerweise widersprechen.

    Die Syrer waren und sind Meister darin, grausame Wahrheiten schlichtweg auszublenden, was das Leben in ihrem Land wohl oft viel angenehmer machte: eine zur Mentalität gewordene Überlebensstrategie.

    Viele Syrer können glaubhaft versichern, dass es ihnen immer einerlei gewesen sei, ob ihr Arbeitskollege Sunnit, Druse oder Alawit war. Andere richteten sich in Hass und Ressentiments ein und vererbten diese an spätere Generationen weiter. Die Erfahrungsmöglichkeiten in einem diktatorischen Regime scheinen manchmal ungleich individueller, variabler und persönlicher als die in einer Demokratie. Das syrische System konnte für manche Menschen ein erfülltes Leben bereithalten, für andere aber nichts weniger als die Vorstufe zur Hölle: Die einen sangen in Kirchenchören, turnten in Sportvereinen, küssten ihre erste Liebe unter Kirschbäumen und im Schatten malerischer Burgen. Die anderen verbrachten ihre halbe Jugend im Militärgefängnis von Tadmor, weil ihr Bruder oder Vater bei den Muslimbrüdern war.

    Man kann diese Vielfalt der Narrative nicht vereinheitlichen. Aber wenn eine Macht sie aus politischen Interessen gegeneinander ausspielt, empfiehlt es sich, genauer hinzusehen, um ihr nicht auf den Leim zu gehen.

    Zweifel, Konfusion und das Unausgesprochene, das Implizite, bilden, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, den Nährboden, auf dem sich das syrische Regime zu jener monströsen Gestalt auswuchs, die heute noch vor uns steht. Womöglich entstand aus einem solchen Amalgam sogar sein eigentliches Wesen.

    Dieses Buch ist ein Versuch, die Techniken und Methoden der Herrschaft über Syrien zu beschreiben. Es sind Techniken, denen sich die Herrschenden, die sie gebrauchen, auch selbst unterworfen haben. Dabei gilt es vor allem, eine Frage nicht aus dem Blick zu verlieren, von deren Beantwortung auch in Zukunft noch viel abhängen wird: Wer oder was ist eigentlich das syrische Regime?

    Angesichts der Schrecken des »Islamischen Staates« mehren sich im Westen, insbesondere aber in Deutschland, jene Stimmen, die fordern, das Regime als Verbündeten im Kampf gegen die Dschihadisten aufzuwerten. Man kann so etwas zur Debatte stellen. Nur empfiehlt es sich, einen Schritt zurückzugehen und sich genau anzuschauen, mit wem man es dann zu tun bekäme.

    Dieses Buch ist kein wissenschaftliches, es soll aber einer wissenschaftlichen Überprüfung der Quellen und Argumente standhalten können – sofern die Wissenschaft einmal Worte und Kriterien für das findet, was heute in Syrien geschieht. Manche Überlegungen darin sind schlechterdings nicht beweisbar. Man beurteilt die Mächte und Akteure ja gemeinhin nach der »Aktenlage«: nach dem, was sie sagen, schreiben und was von ihnen berichtet wird. Zu erfassen, was sie nicht verbalisieren, fällt schwer. Jeder Versuch, die mitunter verheerende Wirkung jenes Impliziten, Unausgesprochenen, Unsichtbaren zu beschreiben, das Teil der Konfliktdynamiken, vor allem aber der Methode der Macht dieses Regimes wurde, ist angreifbar und setzt sich dem Vorwurf der Spekulation aus.

    Das soll uns aber nicht von diesem Versuch abhalten. Letztendlich müssen sich ja auch die Naturwissenschaften eingestehen, dass sie manche subatomaren Teilchen nie gesehen haben, man aber aus ihrer Wirkung schließen muss, dass es sie gibt.

    Dieses Buch ist keine Chronik des Aufstandes, noch soll es lückenlos den Hergang der Ereignisse rekonstruieren und dabei alle Akteure gleichermaßen behandeln. Das Augenmerk liegt hier auf der Natur, den Verhaltensweisen und Erscheinungsformen des Regimes sowie jener Kräfte, die es bis heute fortbestehen lassen. Die Opposition, ob im Feld kämpfend oder im Ausland tagend, kommt nur am Rande vor. Ausländische Mächte wie die Türkei, Saudi-Arabien, Katar oder der Westen, die in den vergangenen Jahren mehr oder weniger entschlossen auf einen Sturz des Regimes hinwirkten, sind ebenfalls nicht Gegenstand – was nicht bedeuten soll, dass man ihre Rolle deshalb vernachlässigen könne.

    Auch die Kurden kommen nicht vor. Die Geschichte dieser bemerkenswerten Minderheit und ihrer politisch-militärischen Organisationen, ihre symbolträchtigen Schlachten, ihr Autonomieprojekt und ihr ambivalentes Verhältnis zum Regime werden noch Thema für andere, berufene Autoren sein.

    Die folgenden Kapitel sollen nicht nur ein Schlaglicht auf das aktuelle Geschehen werfen, sondern auch auf historische Erfahrungen, die nie aufgearbeitet wurden und deshalb bis heute die kollektive Psyche der Syrer heimsuchen – wenn man diesen nicht unumstrittenen Begriff gebrauchen will. Sie prägen die Gesellschaft, ihre Reflexe, Ängste und Erwartungshaltungen. Über sie gelangen wir aber auch auf die Spuren der Logik des Regimes: Denn sie lassen uns seine Entstehungsgeschichte und seine inneren Kohäsionskräfte verstehen.

    Andere Autoren mögen zu anderen Schlüssen kommen. Und oft verdankt man ja gerade denen, die die eigene Analyse eher kritisch bewerten, ganz besonders viel. Da wären zunächst Ghiath Bilal und sein Team mit ihren erstklassigen Studien zu Syrien und dem Phänomen »Islamischer Staat«. Wer hätte gedacht, dass es so eine Freude sein kann, mit einem studierten Ingenieur zu arbeiten!

    Für Erkenntnisse zum regionalen Kontext danke ich Walter Posch von der Landesverteidigungsakademie in Wien. Was seine Forschungsgebiete Iran, die Kurden und die Türkei betrifft, so können ihm wohl nur wenige das Wasser reichen.

    Aktham Suliman danke ich für offene Worte: Er bekomme »jedes Mal die Krise, wenn Europäer über Sunniten, Christen und Alawiten im Orient reden«. Sie sind mir als mahnendes Korrektiv beim Schreiben stets im Ohr geblieben.

    Besonderer Dank gilt meiner Lektorin Kerstin Schulz für ihre Geduld, ihre Anregungen und die Idee, dieses Buch überhaupt zu schreiben.

    Christian-Peter Hanelt danke ich für die zahlreichen Ideen, Gespräche und Kontakte. Helmut Mejcher dafür, dass er in mir vor über 15 Jahren die Begeisterung für Themen weckte, mit denen man es an deutschen Universitäten sonst eher seltener zu tun bekommt: wilhelminische Orient-Politik oder die Geschichte des Erdöls. Seine Seminare waren eine veritable Kaderschmiede für spätere Journalisten mit dem Arbeitsschwerpunkt Naher Osten.

    Gleiches gilt für den leider bereits 2010 verstorbenen Gernot Rotter, der seine Studenten nach Syrien, in den Libanon und in das Reich der Umayyaden führte. Im Gegensatz zu jenen, die sich heute mit derartigen Titeln schmücken, wusste er genau, wie sich ein anständiger Kalif benimmt.

    Gilles Kepel gebührt Dank für die Idee, die Schriften des Soziologen Michel Seurat unter dem Titel Syrie. L’état de Barbarie neu herauszubringen. Er hat damit einen verschollenen Schatz gehoben und mir ermöglicht, an Gedanken anzuknüpfen, die Seurat selbst nicht weiterdenken konnte. Weil er 1986 als Geisel in Beirut mit gerade einmal 39 Jahren starb.

    Hajo Funke danke ich für die Anregung, noch einmal den »Behemoth« zu lesen.

    Meine Kollegen vom Magazin zenith und von der CANDID Foundation, insbesondere mein Freund und Kompagnon Jörg Schäffer, gaben mir den Freiraum, mich in mitunter stürmischen Zeiten mit diesem Buch zu beschäftigen.

    Fabian Wagener hat mich mit einem für diese Arbeit sehr bedeutenden Menschen bekannt gemacht. Amir Musawy und Alaa al-Bahadli eröffneten mir das Zweistromland, ohne dessen Kenntnis man auch die Geschehnisse in Syrien nicht verstehen kann.

    Meinen Eltern danke ich dafür, dass sie mir – nicht ohne kritische Begleitung – ermöglichten zu tun, was mich begeistert und interessiert.

    Marcel Mettelsiefen möchte ich erwähnen, der wie nur wenige Journalisten den Krieg in Syrien von Anfang an begleitet hat und dabei ebenso viel Mut wie Empathie, ebenso viel journalistische Sorgfalt wie künstlerische Fertigkeiten zeigt. Und mit dem gemeinsam ich im Frühjahr 2012 in eine Sperrzone der syrischen Armee geriet und mich – um eine Notlüge verlegen – in einen Russen verwandelte.

    Großer Dank gilt einem Menschen, der hoffentlich in nächster Zeit mit seinem wahren Namen an die Öffentlichkeit gehen kann: Habib Abu Zarr gewährte mir Einblicke in eine verschlossene Gemeinschaft und in ein furchtbares System. Viele der hier vorgetragenen Gedanken gehen auf ihn zurück.

    Dies gilt viel mehr noch für Naseef Naeem, meinen Freund, Gefährten und Mitgründer der Expertengruppe zenithCouncil, ohne den es dieses Buch überhaupt nicht geben würde. Er führte mich auf gemeinsamen Erkundungen im Dämmerlicht der nahöstlichen Politik und lehrte mich, dabei auch auf eine andere Art zu denken.

    Alles andere verdanke ich L., der ich dieses Buch gern gewidmet hätte, ginge es darin nicht fortwährend um Gewalt, Missbrauch und Intrigen.

    1. Reflexe des Regimes – Der Aufstand in Deraa und seine Folgen

    Ganz Syrien ist in 14 Provinzen unterteilt. Zumindest war es das, bevor ein Krieg ausbrach, der die Verwaltungsordnung der Arabischen Republik Syrien zu einem theoretischen Begriff verkommen ließ. Diese Muhafazat variierten in ihrer Größe und Bevölkerungsdichte. Die Hauptstadt Damaskus – zu osmanischer Zeit »reichsunmittelbar«, also dem Sultan in Konstantinopel direkt unterstellt – bildete mit nur rund 1600 Quadratkilometern die kleinste, aber am dichtesten besiedelte Provinz, Homs mit über 42.000 Quadratkilometern die mit Abstand größte. Schon die Unterteilung der Muhafazat lässt erkennen, dass sie eher historischen Entwicklungen geschuldet ist als dem Streben nach einer straff organisierten, zentralstaatlichen Administration.

    Das Wort Muhafaza wird manchmal mit dem Fremdwort »Gouvernorat« übersetzt, analog dazu der Muhafiz mit »Gouverneur«. Sein Amt und sein Berufungsprozess gleichen allerdings der Theorie nach am ehesten denen eines französischen Präfekten: Der Innenminister schlägt seine Ernennung vor, das Kabinett bestätigt sie, ein Präsidialdekret verleiht ihr Gültigkeit. Ein syrischer Gouverneur führt die Verwaltung einer Muhafaza. Er ist verantwortlich für das Gesundheitswesen, die öffentlichen Dienstleistungen, für Bildung und Erziehung, für den Straßenbau, den Personennahverkehr, die Beaufsichtigung von Handel, Industrie und Landwirtschaft, für Sicherheit, Recht und Ordnung sowie die Förderung des Tourismus.

    Insgesamt 23 Ministerien können sich in seine Arbeit einmischen und von ihm Auskunft verlangen, darunter das Ministerium für Bewässerung oder das für »Umwelt und Lokalverwaltung«. Ein syrischer Gouverneur hat, wenn er seine Arbeit denn ernst nimmt, alle Hände voll zu tun, wobei ihm zwischen sechs und zehn Landräte sowie ein Provinzrat zur Seite stehen, dessen Mitglieder er zu einem Viertel selbst ernennen kann. Ihm unterstehen zwar die örtlichen Polizeikräfte, aber Militär, Geheim- und Sicherheitsdienste nehmen von ihm keine Weisungen entgegen, obwohl sie in seinem Herrschaftsbereich überaus aktiv sind: Schließlich gilt seit 1963 in Syrien ein Notstandsrecht, welches das Regime mit der Bedrohung durch Terrorismus und dem fortbestehenden Kriegszustand mit Israel begründete.

    Faisal Kalthoum war – übrigens nicht nur für syrische Verhältnisse – ein ausgewiesener Experte, was seine Kompetenzen als Gouverneur der Provinz Deraa anbelangt. Schließlich hatte der ehemalige Professor für Verfassungsrecht an der juristischen Fakultät der Universität von Damaskus seinen Doktorgrad in Frankreich erlangt: 1987 an der Universität Montpellier 1 mit einer Arbeit zum »Vergleich der Organisation des Parlaments in Syrien und Algerien«. Ende Dezember 2005 trat Kalthoum erstmals in den internationalen Medien in Erscheinung: Als Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Recht und Verfassung äußerte er sich zu den Vorwürfen gegen das syrische Regime im Zusammenhang mit dem Attentat auf den libanesischen Ex-Ministerpräsidenten Rafiq Hariri. Kalthoum bezichtigte den im Exil lebenden syrischen Vizepräsidenten Abdelhalim Khaddam des Hochverrats, weil dieser Präsident Assad persönlich in einem TV-Interview verdächtigt hatte, Drahtzieher des Mordanschlags zu sein. Die Behauptung, Assad habe Hariri wenige Monate vor dessen Ermordung explizit gedroht, ihn zu vernichten, sei ein Angriff auf Syriens nationale Sicherheit, so erklärte Professor Kalthoum. Weshalb der Tatbestand des Hochverrats gegeben sei und das syrische Parlament das Justizministerium nun aufgefordert habe, den Fall zur Anklage zu bringen.

    Kalthoum sprach damals als Experte, aber auch als ein persönlicher Vertrauter des Präsidenten. Zumindest hatte er unter Kollegen des Öfteren mit seinen Kontakten in den inneren Kreis des Regimes renommiert. Bereits vor Baschar al-Assads Vereidigung am 17. Juli 2000 soll Kalthoum persönlich mit ihm bekannt gewesen sein. Ehemalige Studenten beschreiben ihn als einen glanzlosen, eher unbeliebten Dozenten, der rasch urteilte, sowohl positiv als auch negativ. Kalthoum, ein Angehöriger der in Syrien für ihre besonders säkulare Grundhaltung bekannten ismailitischen Religionsgemeinschaft, interessierte sich vor allem für Posten. Er war zeitweilig Vorsitzender des Verbandes der Lehrkräfte an der Universität Damaskus, 2006 krönte er seine Beamtenlaufbahn als Gouverneur von Deraa. Unter seinesgleichen, das heißt im Orbit der Baath-Funktionäre, die um das Assad-Regime kreisten, galt Faisal Kalthoum vermutlich gar als Intellektueller.

    Der deutsche Syrien-Experte und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik Volker Perthes erinnert sich an eine Begegnung mit Kalthoum im Jahr 2006, als dieser ihm stolz vom Entwurf eines neuen Parteiengesetzes berichtete. Dies sehe vor, Parteien verschiedener Strömungen zuzulassen, werde allerdings nicht das in Artikel 8 der Verfassung verankerte Monopol der Baath-Partei grundsätzlich infrage stellen. Nicht einmal dazu konnte sich das syrische Regime durchringen. Kalthoum aber »hielt sich für einen Reformer«, schrieb Perthes 2011 in einem Beitrag für die New York Times.¹

    Verfassungsrechtler, Politiker und, zumindest in Ansätzen, auch ein Reformgeist – das klingt nicht schlecht. Doch im Lichte der Ereignisse in Deera kann man sich fragen, was für eine Auffassung von Staat eigentlich in Faisal Kalthoum wohnte. Wusste er überhaupt noch, worin die Verpflichtungen des Staates gegenüber seinen Bürgern bestehen?

    Die Geschichte Syriens wird Deraa als »Wiege des Aufstandes« in Erinnerung behalten – Gouverneur Faisal Kalthoum aber scheint schon jetzt, im vierten Jahr des Krieges, vergessen. Es lohnt sich dennoch, an ihn zu erinnern – als eine jener individuell unbedeutenden, aber im Kollektiv umso verheerender wirkenden Figuren, die emblematisch für das Totalversagen des syrischen Staates stehen.

    Am 16. Februar 2011 griffen einige Teenager in Deraa zu Sprühfarbe und schmückten die Wände ihrer Volksschule mit Parolen, die der Westwind des »Arabischen Frühlings« zu ihnen hinübergeweht hatte. Vier Tage zuvor war der ägyptische Präsident Hosni Mubarak nach fast 20 Jahren im Amt zurückgetreten. In Tunesien wiederum fragten sich die Menschen schon, wie es nun, nach der Revolution, weitergehen sollte. In Syrien hatten Aktivisten Anfang Februar zu Demonstrationen aufgerufen – zunächst ohne Erfolg. In der nordöstlichen Stadt Hasaka hatte sich Ende Januar sogar ein verzweifelter junger Mann ein Vorbild an dem tunesischen Gemüsehändler Mohammed Bouazizi genommen und sich selbst mit Benzin in Brand gesteckt, ohne dass dies zu Protestbewegungen geführt hätte.

    Nun sprühten die Jugendlichen in Deraa in einem eher harmlos anmutenden Akt von kreativem Vandalismus den inzwischen berühmten Satz Al-shaab yurid isqat al-nizam (»Das Volk will den Sturz des Regimes«) an die trostlosen Wände. Womöglich war es Zufall, dass sie dafür ausgerechnet den Tag wählten, an dem die arabischen Satellitensender vom Beginn eines Aufstand gegen das Gaddafi-Regime in Libyen berichteten.

    Dafür, dass die Jugendlichen keine konspirativen oder gar terroristischen Aktivitäten geplant hatten, mag sprechen, dass einige von ihnen sogar mit ihren Vornamen signierten. Einige Medien erinnerten später daran, dass Graffiti-Sprühereien an sich auch in Syrien nicht ungewöhnlich gewesen seien, weshalb man für den Erwerb von Sprühfarbe sogar seinen Personalausweis vorlegen musste. Die Botschaft schien die Behörden von Deraa allerdings zu alarmieren und setzte – wenn auch zeitverzögert – eine Kette unheilvoller Reaktionen in Gang.

    Über den genauen zeitlichen Ablauf der Ereignisse in den ersten Wochen des Aufstands kursieren verschiedene Versionen. Viele davon geben übereinstimmend den Graffiti-Vorfall von Deraa als Zündfunken an – was sicher auch damit zu tun hat, dass ein Teenagerstreich, der eine Revolution in Gang bringt, eine gewisse dramaturgische Fallhöhe birgt. Selbst über den Zeitpunkt der anschließenden Verhaftung mehrerer Jugendlicher in Deraa gibt es unterschiedliche Angaben. Umstritten ist ferner, ob sie außer dem besagten Slogan auch eine direktere Botschaft an den gelernten Augenarzt Baschar al-Assad an der Wand verewigten: »Doktor, Du bist der Nächste!«

    Am Donnerstag, dem 17. Februar, kamen am Rande der Damaszener Altstadt, zwischen dem berühmten Suq al-Hamidiyyeh und dem Märtyrerplatz, wo sich auch das Innenministerium befindet, einige Hundert Männer zusammen, um dort – offenbar nur für einige Minuten – politische Slogans zu skandieren. Einer dieser Slogans, in den die Menge besonders begeistert einstimmte, lautete: Al-shaab al-suri lan yudhal – »Das syrische Volk wird nicht erniedrigt«.

    Im Gegensatz zu der Graffiti-Parole der Teenager von Deraa gab es hier noch einen Interpretationsspielraum: Demonstrationen in der Damaszener Innenstadt waren zwar ungewöhnlich und gewiss ein Ausdruck politischer Unzufriedenheit, die Wortwahl hätte aber auch aus dem Repertoire der Baathisten stammen können. Einigen Berichten zufolge mischten sich bald eifrige Männer unter die Demonstranten, die wesentlich eindeutigere Parolen skandierten und keinen Zweifel daran ließen, dass sie für Baschar al-Assad ihr Blut und Leben geben wollten. Innenminister Said Muhammad Sammour erschien angeblich wenig später persönlich mit seinem Sicherheitstross auf der Bildfläche, woraufhin die Versammlung schnell ein Ende fand. Später ließ das syrische Innenministerium verbreiten, dass der Flashmob von Hamidiyyeh als eine Solidaritätsbekundung für Assad gemeint gewesen sei.

    Eine Woche später, am 23. Februar 2011, kam es dann im Parlament zu einer eher ungewöhnlichen Diskussion, in der ein Abgeordneter aus Aleppo namens Abdulkarim al-Sayyid vorschlug, die seit 1963 geltenden Notstandsverordnungen zu revidieren: Der 48. Jahrestag der Gründung der Baath-Partei stand Anfang März bevor, und dies, so Sayyid, sei doch ein passender Anlass. Niemand stimmte diesem Vorschlag zu, und im Nachhinein kann man sich des Eindrucks einer Inszenierung kaum erwehren: ein scheindemokratischer Akt und eine ebenso öffentliche wie zugleich verklausulierte Rückversicherung an den Apparat der Repression, dort, wo es nötig scheint, mit voller Härte durchzugreifen.

    Im kleinen Reich des Gouverneurs von Deraa kam diese Botschaft offensichtlich an. Ende Februar oder Anfang März wurde ein Dutzend Jugendliche, darunter auch die mutmaßlichen Graffiti-Sprayer, verhaftet und zum Teil in Handschellen von der Schulbank weggeführt.

    Ihr Fall fiel einerseits in die Zuständigkeit des Gouverneurs Kalthoum, der für »Recht und Ordnung« in der Provinz zu sorgen hatte und auch in der Stadt Deraa residierte. Andererseits handelte es sich womöglich um eine Angelegenheit von nationaler Sicherheit, und mit derartigen Vorkommnissen befasste sich in Deraa ein anderer, ungleich mächtigerer Statthalter des Regimes: Brigadegeneral Atef Najib, seit 2008 Direktor des »Amtes für politische Sicherheit« (Al-Amn al-Siyasi) in der Provinz Deraa. Dabei handelt es sich um einen Inlandsgeheimdienst mit dem Auftrag, nicht nur Oppositionelle, sondern auch die Medien zu überwachen, und der berechtigt ist, auch eigene Gefängnisse zu unterhalten. In der nahe an Israel und unmittelbar an der jordanischen Grenze gelegenen Stadt Deraa machte sich das »Amt« traditionell besonders wichtig, und Atef Najib war kein anderer als der Vetter von Präsident Assad – ein etwa gleichaltriger Sohn seiner Tante mütterlicherseits, Fatima Makhlouf.

    Während sich Gouverneur Kalthoum etwas auf seinen Titel, seine Promotion im Ausland und seine Karriere in der Baath-Partei einbildete, schien sein Counterpart Najib eher auf die klassischen Tugenden und Fertigkeiten eines Kriminellen zu bauen. Angeblich war sein Vater ein Benzinhändler aus der Küstenstadt Jableh, ein Sunnit, der in den Alawitenclan Makhlouf zu einer Zeit hineingeheiratet hatte, als dieser weder besonders reich noch mächtig war. Der Reporter Phil Sands beschreibt Najib in einem etwas romanhaft anmutenden Porträt für die emiratische Zeitung The National als einen düsteren Zeitgenossen mit einer Vorliebe für Maßanzüge, handgefertigte italienische Schuhe und Goldketten sowie einem Fuhrpark mit Limousinen von Jaguar und BMW: ein generischer, zu Macht und Geld gekommener Prolet also.

    Darüber hinaus sei Najib nicht nur brutal, sondern auch launisch und unzuverlässig, berichtete Sands, weshalb er im Jahr 1992 schon mal aus dem Geheimdienst geflogen und nur auf Bitten seiner Mutter wieder aufgenommen worden sei. Unter dem langjährigen Geheimdienstchef Ghazi Kanaan soll Najib keine Chance auf ein Fortkommen gehabt haben und in Führungskreisen nur als »das Tier« bezeichnet worden sein. Erst der rätselhafte Tod Kanaans 2005 habe dem düsteren Vetter Assads den Weg im Dienst geebnet.

    Najib, so berichteten Bewohner Deraas, habe an fast jedem Geschäft in Deraa mitverdient und dort allmählich seine eigene »Grafschaft« errichtet. Nur eine ausgeprägte Paranoia schränkte ihn ein in seiner Lebensqualität: Angeblich ließ er sich sein Essen aus Damaskus kommen und bewegte sich in Begleitung einer Leibgarde, wie sie in anderen Ländern nur Staatsoberhäuptern zur Verfügung steht. Die Abneigung gegen Najib in der Bevölkerung war überdies konfessionsübergreifend: Sie beschränkte sich nicht nur auf die sunnitische Mehrheit, sondern wurde von Christen und Drusen in der Provinz einhellig geteilt.

    Die Graffiti-Sprüher blieben verschwunden, sodass ihre Familien davon ausgehen mussten, dass der Politische Geheimdienst sie in Gewahrsam genommen hatte, um sie zu verhören. In Syrien funktionieren die weitverzweigten Informationsnetzwerke auch über familiäre und konfessionelle Grenzen hinweg, weshalb die Bestätigung nicht lange ausblieb. Und selbst in einem undurchsichtigen, repressiven Staat wie diesem gibt es eine Justiz und Wege, um Anwälte zu beauftragen und Zugang zu Gefangenen zu fordern – sobald sich ein Verdächtiger allerdings in Händen der Geheimdienste befindet, ist dies jedoch praktisch aussichtslos. Die Behörden konnten davon ausgehen, dass aus den Teenagern von Deraa nicht viel herauszupressen war, da ihre Tat weder auf Hintermänner noch auf ein kriminelles Netzwerk schließen ließ. Die mehrwöchige Haft diente also keineswegs etwaigen strafrechtlichen Ermittlungen, sondern einem ganz anderen Ziel: die Familien zu bestrafen, ihnen Angst zu machen und die Bevölkerung insgesamt einzuschüchtern.

    Verwandte der Jugendlichen sprachen bei Gouverneur Kalthoum und bei dessen Mitregenten Najib vor, um Beschwerde einzulegen. Erfolglos. Die Antwort, die später in Deraa kursierte, wurde zu einem Fanal für die spätere Revolte: Sie sollten ihre Kinder vergessen und gefälligst neue machen. Wenn sie nicht wollten, werde man ihnen zeigen, wie das geht.

    Die meisten Berichte führen Najib als Quelle des Zitates an. Einige wenige behaupten, es stamme von Gouverneur Kalthoum. Tatsächlich ist nicht einmal sicher verbürgt, dass diese Worte in jenem März 2011 in Deraa überhaupt gefallen sind. Aber sie spiegeln wohl sehr akkurat die Haltung wider, mit der die Mächtigen selbst jenen Familien begegneten, die wohlgemerkt nicht gerade zu den untersten Schichten der Gesellschaft Deraas gehörten: Gleichgültigkeit und Verachtung, vorgetragen in einem sexuell gefärbten und damit besonders erniedrigenden Jargon.

    Diese Provokation erhitzte das Klima in Deraa weiter. Und sie war vermutlich der Zündfunke für eine Kette von Protesten und Gewaltausbrüchen, die in der Rückschau bereits eine Vielzahl der Konfliktebenen, aber auch der Reflexe des syrischen Regimes offenbaren. Die meisten ausländischen Beobachter scheinen bis heute der Ansicht zu sein, das Regime habe die Krise in Deraa schlecht gehandhabt und sie vor allem massiv unterschätzt. Das liegt vor allem an den scheinbar widersprüchlichen Signalen, die es aussandte: auf der einen Seite versöhnliche Worte sowie die

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