In Ketten tanzen: Übersetzen als interpretierende Kunst
Von Wallstein Verlag
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Buchvorschau
In Ketten tanzen - Wallstein Verlag
244.
OLGA RADETZKAJA
Übersetzen als reproduktive Kunst
Theorieansätze bei Jiří Levý, Efim Ėtkind und anderen
Übersetzungstheorie in praktischer Perspektive
Übersetzung gehört zu den Grundpfeilern der abendländischen Kultur, zu ihren strukturellen Voraussetzungen. Übersetzt wird »seit Babel«, und schon seit dem babylonischen Gilgamesch-Epos werden dabei auch Geschichten und Mythen über die Sprachgrenzen transportiert, nach heutigem Verständnis also: Literatur. Auch die Versuche, diese Tätigkeit des (Literatur-)Übersetzens theoretisch zu erfassen, reichen bis in die vorchristliche Zeit zurück – und doch herrscht unter den Praktikern des Metiers bis heute die Ansicht vor, ihre wirkliche Arbeit komme in der Theorie nicht vor oder sei dieser nicht zugänglich. Ist der Gegenstand – die Literatur und ihre Übersetzungen – womöglich schlicht zu heterogen, als daß eine einzige, stringente Theorie ihm gerecht werden könnte?¹
In der Tat scheint ein beträchtlicher Teil der seriöseren Literatur zum Übersetzen ihren Gegenstand entweder aus sehr großer Ferne oder sehr großer Nähe zu betrachten – mit den daraus folgenden optischen Effekten. Die literaturwissenschaftlichen Studien zum Thema bringen zwar das Textverständnis und kontextuelle Wissen mit, das zur Lektüre übersetzter Literatur nötig ist, behandeln es aber – vor allem in früheren Phasen – oft sehr willkürlich und subjektiv (James Holmes spricht von »largely intuitive and impressionist methods«²) und konzentrieren sich meist auf einzelne Werke oder Autoren. Eher sprachphilosophisch orientierte Arbeiten dagegen begnügen sich oft damit, die alten Gegensatzpaare von »wörtlich« vs. »frei« oder »fremdlassend« vs. »appropriierend« leicht variiert noch einmal durchzudeklinieren, oder tendieren dazu – so die jüngere, zumal poststrukturalistisch geprägte Literaturwissenschaft –, »Übersetzung« eher als Denkfigur denn als Textgattung aufzufassen. Linguistische Ansätze schließlich, wie sie in der akademischen Auseinandersetzung mit Übersetzung – das heißt vor allem in der überwiegend einem szientistischen Diskurs verpflichteten Translationswissenschaft – seit den sechziger Jahren dominieren, kranken häufig ebenfalls an zu großer Allgemeinheit. Der Drang zu möglichst objektiven und dementsprechend formalisierten Beschreibungen ist hier so stark, daß die konkreten Objekte der Beschreibungen – die Übersetzungen und deren Autoren – oft ganz aus dem Blick geraten.
Dieser approximative Befund gilt vor allem für die westliche Übersetzungstheorie. Ein etwas anderes Bild ergibt sich für die osteuropäischen Arbeiten auf demselben Gebiet, die im Westen meist nur in sehr eingeschränktem Maß rezipiert werden konnten. (Der Übersetzer und Theoretiker James Holmes betont in einem Vortrag von 1977, wie »frustrierend« es für westliche Forscher ohne Kenntnisse der slawischen Sprachen sei, zwar zu wissen, daß es in Rußland, Polen und der Tschechoslowakei sehr interessante Entwicklungen in ihrer Disziplin gebe, aber keinen Einblick in die dortigen Ergebnisse zu haben.³) Wo im Westen der Schwerpunkt auf der »allgemeine(n) linguistischen Theorie des Übersetzens« liege, so faßt der tschechische Theoretiker Jiří Levý in den sechziger Jahren den aktuellen Forschungsstand der Zeit zusammen, konzentriere man sich in Osteuropa mehr auf die »künstlerische Übersetzung und ihre Kritik«.⁴
Die im Westen nach wie vor nur bruchstückhaft wahrgenommene⁵ Tradition, auf die Levý sich hier bezieht und in der er steht, beginnt in Rußland mit einer bereits seit den zwanziger, dreißiger Jahren intensiv geführten, in der Tschechoslowakei und anderen mittel-und osteuropäischen Ländern vor allem in den fünfziger Jahren aufkommenden literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema. Einige Bedeutung kommt in dieser Entwicklung zunächst der formalen Schule (Šklovskij, Tynjanov), dann der strukturalen Linguistik und der Semiotik zu, weil sie mit ihrem Textverständnis auch zu einer Auffassung vom Original nicht als einer Ansammlung von einzelnen (korrekt wiederzugebenden) Elementen, sondern als einem »System«⁶ und damit letztlich zu einem funktionalen Ansatz in der Übersetzungstheorie beigetragen hat.⁷ Als herausragende Exponenten dieser spezifischen Tradition sollen im folgenden zwei Autoren vorgestellt werden, deren große Monographien zum Thema Meilensteine einer praxisorientierten Übersetzungstheorie darstellen: zum einen der bereits erwähnte Jiří Levý mit seinem Buch Umění překladu (Die Kunst der Übersetzung), zum anderen der russische Literaturwissenschaftler Efim Ėtkind mit seinem Werk Poėzija i perevod (Dichtung und Übersetzung). Beide Bücher sind im Original 1963 erschienen, Levýs Beitrag in der deutschen Übersetzung von Walter Schamschula (und einer vom Autor adaptierten Fassung) 1969 bei Athenäum.
Das Übersetzen steht von Beginn an im Zentrum der wissenschaftlichen Interessen des 1926 geborenen Jiří Levý. 1957 veröffentlicht der Anglist und Bohemist (Sohn des Romanisten und Französisch-Übersetzers Otakar Levý) eine großangelegte Übersicht und Analyse tschechischer Übersetzungstheorien und -methoden vom Mittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg.⁸ Er verfolgt das Thema bis zu seinem frühen Tod 1967 beständig weiter, wobei sein Horizont nicht auf literaturhistorische Fragestellungen beschränkt ist, sondern Komparatistik (vergleichende Verslehre) und strukturale Literaturwissenschaft sowie Entwicklungen in der Linguistik und Informationstheorie mit einbezieht. Sein Hauptwerk Umění překladu bietet eine umfassende, logisch gegliederte Beschreibung des Übersetzungsprozesses und der ästhetischen Probleme, die er mit sich bringt, es fragt nach der historischen Kontingenz von Übersetzungen und ihrer literaturhistorischen Einordnung und beschäftigt sich ausgiebig mit spezifischen Bereichen der übersetzerischen Praxis wie dem Drama oder der Lyrik (ihr ist der gesamte zweite Teil des Buchs gewidmet).
Efim Ėtkind legt im Unterschied zu Levý in seiner Studie weniger Wert auf eine systematische Darstellung, sondern konzentriert sich vor allem auf genaue Analysen. Der 1918 in Petrograd geborene Romanist, Germanist und Komparatist blickt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Poėzija i perevod bereits auf einen reichen Erfahrungsschatz mit seinem Thema zurück, nicht nur als Literaturwissenschaftler (zu dessen Spezialgebieten etwa die vergleichende Stilistik zählt), als Herausgeber und als Verfasser eigener Übersetzungen (eine zweisprachige Ausgabe seiner ab 1955 entstandenen Übersetzungen deutscher Lyrik ist 1998 in Petersburg erschienen⁹), sondern auch und vor allem als Didaktiker: Das im Leningrader Haus des Schriftstellers monatlich stattfindende Übersetzerseminar, das Ėtkind in den fünfziger und frühen sechziger Jahren leitete, und eine daraus hervorgegangene Reihe öffentlicher Übersetzerlesungen sind legendär und standen am Anfang so mancher Übersetzerkarriere. Ėtkinds beeindruckend material- und kenntnisreiche Monographie ist für eine große Zahl russischer Literaturübersetzer bis heute eine Art informelles Lehrbuch¹⁰, zumal seine explizit auf die Lyrikübersetzung bezogenen Einsichten sich in den meisten Fällen auch auf andere Textgattungen übertragen lassen.
Die Bedeutung und der große Erfolg beider Bücher erklärt sich – neben der unübersehbaren Begeisterung der Autoren für ihren Gegenstand – durch mehrere Faktoren: Ėtkinds wie Levýs Arbeiten basieren auf Formalismus und Strukturalismus (einem »Strukturalismus mit menschlichem Antlitz«, wie Ėtkind einmal formuliert haben soll), das heißt, ihnen liegt ein modernes Textverständnis und ein gewisser Anspruch an die Verifizierbarbarkeit ihrer Erkenntnisse zugrunde, ohne daß sie doch der Terminologie einer bestimmten Methode verpflichtet wären. Gleichzeitig sind beide Autoren Kenner und Liebhaber der übersetzerischen Praxis. Konkrete literarische Texte und konkrete Übersetzungsvarianten nehmen in beiden Büchern großen Raum ein, Beobachtungen und Schlußfolgerungen werden in einer relativ wenig formalisierten Sprache vermittelt. Damit stehen beide in gewisser Weise zwischen den oben skizzierten »defizitären« Polen einer allzu spezifisch-idiosynkratischen oder allzu allgemeinen Übersetzungstheorie. Im Unterschied zu der Mehrzahl ihrer jüngeren westlichen Kollegen haben Ėtkind wie Levý keine Scheu vor normativen Aussagen. Ihre Kriterien und Wertvorstellungen sind jedoch in jedem einzelnen Fall so präzise und konkret, daß sich im Umkehrschluß wieder deskriptiv-wertneutrale Erkenntnisse darüber gewinnen lassen, was Übersetzungen leisten können. Zu beschreiben, was die Arbeit des Übersetzens tatsächlich ausmacht, welche Möglichkeiten dem Übersetzer offenstehen, worin das spezifisch Literarische an der Literaturübersetzung liegt und welche Gemeinsamkeiten sie als reproduzierende (interpretierende) Kunstform mit anderen ausführenden Künsten hat, das ist das zentrale Anliegen beider Bücher. Ich möchte im folgenden versuchen, ihre Fragestellungen und Ergebnisse zusammenzufassen und weiterzuverfolgen. Dabei sollen punktuell auch andere Autoren aus Levýs und Ėtkinds Umfeld zu Wort kommen: aus der slowakischen Übersetzungstheorie etwa Ján Vilikovský mit seinem Buch Překlad jako tvorba (Übersetzung als kreative Arbeit, 2002), das neben Levýs grundlegendem Werk auch neuere semiotische, kommunikationstheoretische und pragmatische Ansätze einbezieht,¹¹ aus der russischen Tradition vor allem Ėtkinds großen Vorgänger Kornej Čukovskij, am Rande aber auch die komparatistische Leningrader Schule mit Jurij Levin als wichtigem Exponenten. Bei ihnen finden sich zahlreiche Ansätze zu einer Theorie des Übersetzens, die vor allem den Praktikern helfen kann, ihr Handwerk und ihre Kunst besser zu verstehen und zu beherrschen.
Übersetzen als künstlerische Arbeit
Wenn Levý im ersten Kapitel seines Buches zusammenfassend feststellt: »Fast alle linguistischen Arbeiten haben eines gemeinsam: daß sie nämlich den Anteil des Übersetzers am Übersetzungsprozeß und an der Struktur des übersetzten Werks übergehen; daß sie (…) die Übersetzung auf den ›Kontakt zweier Sprachen‹ reduzieren«¹², dann formuliert er damit ex negativo sein implizites eigenes Programm: den »Übersetzungsprozeß« und die »Struktur des übersetzten Werks« zu untersuchen, jeweils unter Berücksichtigung des »Anteils des Übersetzers«. Die Rolle des Übersetzers nimmt sowohl bei Ėtkind als auch bei Levý eine zentrale Stelle ein. Mit dem individuellen Charakter jeder Übersetzung hat die prinzipielle Unerschöpflichkeit des Übersetzens zu tun (das Phänomen der mehrfachen Übersetzung ein und desselben Texts), und mit ihr ist auch der Kunstcharakter der übersetzerischen Arbeit verbunden, den beide Autoren betonen. Immer wieder aufgegriffene Analogien zur Arbeit von Musikern, Regisseuren und Schauspielern – Levý zitiert in diesem Zusammenhang wiederholt Konstantin Stanislavskijs theaterdidaktische Schriften – dienen dabei nicht der Aufwertung des Übersetzers oder der metaphorischen Verbrämung seines Tuns¹³, sondern sind als ganz konkrete Beobachtungen und Vorschläge zur Arbeit am Text zu verstehen. Für Ėtkind und Levý ist die Übersetzung wie für George Steiner »keine exakte Wissenschaft, sondern eine exakte