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Nscho-tschi und ihre Schwestern: Frauengestalten im Werk Karl Mays
Nscho-tschi und ihre Schwestern: Frauengestalten im Werk Karl Mays
Nscho-tschi und ihre Schwestern: Frauengestalten im Werk Karl Mays
eBook530 Seiten7 Stunden

Nscho-tschi und ihre Schwestern: Frauengestalten im Werk Karl Mays

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Über dieses E-Book

Jeder kennt Nscho-tschi, die schöne Schwester Winnetous. Aber wie steht es mit der Gebieterin des Hadschi Halef Omar? Oder der morgenländischen Königin und Großen Mutter Marah Durimeh? Und wer weiß schon, dass am Ende sogar Old Shatterhand unter einem zarten Pantöffelchen steht?

Tapfere Indianerkriegerinnen, betörende Schurkinnen, kluge Scheikinnen, robuste Schelminnen und weise Matriarchinnen - in der angeblichen "Männerwelt" Karl Mays gibt es sie alle. Man muss nur manchmal etwas genauer hinsehen.

Aus weiblicher Perspektive erzählt Katharina Maier fundiert und mit viel Augenzwinkern die spannenden Geschichten der wichtigsten Frauenfiguren aus Orient- und Wild-West-Romanen, erklärt ihre Bedeutung innerhalb des May'schen Kosmos und fördert viel Erstaunliches über diese "Mayden" und das Frauen-, Männer- und Menschenbild ihres Schöpfers zu Tage.
SpracheDeutsch
HerausgeberKarl-May-Verlag
Erscheinungsdatum15. Juli 2014
ISBN9783780216199
Nscho-tschi und ihre Schwestern: Frauengestalten im Werk Karl Mays
Autor

Katharina Maier

Katharina Maier ist in der Oberpfalz geboren. Ihre erste Geschichte war ein Märchen über eine Taube und eine weiße Hirschkuh, die sich ineinander verliebten und sehr glücklich miteinander wurden. Heute schreibt sie Sachbücher über Literatur im weitesten Sinne und Future-Fantasy-Geschichten von epischer Länge, in denen mal mehr Future und mal mehr Fantasy steckt. Katharina Maier lebt in Augsburg.

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    Buchvorschau

    Nscho-tschi und ihre Schwestern - Katharina Maier

    NSCHO-TSCHI UND

    IHRE SCHWESTERN

    Frauengestalten

    im Werk Karl Mays

    VON

    KATHARINA MAIER

    Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid

    © 2012 Karl-May-Verlag

    ISBN 978-3-7802-1619-9

    KARL-MAY-VERLAG

    BAMBERG • RADEBEUL

    Inhalt

    Auf Spurensuche

    Der Wilde Westen und die Mayden – Eine Geschichte voller Missverständnisse

    Nscho-tschi

    Ribanna und Ellen, oder: Auf der Suche nach der verlorenen Frau

    Am Lagerfeuer: Von Müttern und Ehefrauen

    Die Schöne und der Bär

    Die Geldbeutel der Mrs. Silverhill

    Die Miss Admiral, oder: Eine Heldenschurkin

    Am Lagerfeuer: GrenzgängerInnen

    Kolma Puschi – Krieger, Mutter, Westheldin

    Die Frau ohne Seele

    Mit Pantoffel und Flinte – Eine Westschelmin namens Rosalie Ebersbach

    Ein bisschen wie Nscho-tschi: Kakho-Oto

    Winnetous Erbinnen

    Das Herzle, oder: Die Shatterfrau

    Auf Ritterfahrt im Orient

    Marah Durimeh, die Ahne

    Mersina und Madana, oder: Meine gute Madame Methusalem

    Ingdscha, Benda und ein bisschen Dschumeila – Die Beinahe-Romanzen des Kara Ben Nemsi Effendi

    Ein Held in Nöten, oder: Mutter und Tochter Erdbeere

    Die Legende der Heiligen Nebatja

    Eine Amazone in der Wüste

    Hanneh, die Blume der Frauen

    Am Lagerfeuer: Amazonenschlacht

    Die Irrwege der Köstlichen

    Schakara, die Seele

    Ein Mädchen namens Merhameh

    Im Reich der Großen Mutter

    Literaturverzeichnis

    Für Mama, die mir die Tür zum Mayversum aufmachte

    Und für Lea, die sich von mir die Tür aufmachen ließ

    (Ja: wir sind alle drei Frauen)

    Auf Spurensuche

    N S C H O – T S C H I. So wird es geschrieben. Das weiß nicht jeder. Aber jeder kennt sie, die schöne Schwester Winnetous. Männer bekommen bei der Erwähnung ihres Namens schwärmerische Augen, und so manche Frau wäre wohl gern an ihrer Stelle … na ja, wenn man die Tatsache außer Acht lässt, dass sie ziemlich bald stirbt, natürlich.

    Aber dass Nscho-tschi bei Weitem nicht die einzige anschwärmenswerte, bewunderungswürdige Frau in Karl Mays buntem Universum ist, wird oft vergessen. Die Spuren der May’schen Heldinnen wurden ziemlich gut verwischt, und dabei gibt es ihrer doch beachtlich viele – wer sich das Inhaltsverzeichnis von Nscho-tschi und ihre Schwestern angesehen hat, wird es schon ahnen. Oder vielleicht gehören Sie ja wie ich zu den Lesern, die immer schon von Mays Frauenfiguren fasziniert waren – die mit Nscho-tschi geliebt, mit Kolma Puschi gekämpft, mit Rosalie Ebersbach gelacht und mit Hanneh triumphiert haben. Denn dass May nur Männergeschichten erzählt, das ist ein Vorurteil – ein verständliches, aber ein Vorurteil. Es geht nämlich von zwei unzutreffenden Voraussetzungen aus.

    Erstens: Frauen interessieren sich nicht für Geschichten, in denen heldenhafte, attraktive Männer für alles, was gut und recht ist, ins Feld ziehen. Um es ein für alle Mal klarzustellen: Das ist ein Irrtum.

    Zweitens: Bei Karl May kommen keine Frauen vor. Falsch. In seinem Universum gibt es so viele Frauen, dass nicht einmal alle in dieses Buch passen, und das, obwohl ich mich allein auf die bekannten Wildwest- und Orientromane unseres Schriftstellers beschränke. Die episch breiten Kolportageromane mit ihrer Vielzahl an weiblichem Personal habe ich außen vor gelassen, eine Auslassung, für die ich mich gleich zu Anfang entschuldige.

    Allerdings hat es auch einen ganz besonderen Reiz, gerade in zwei ‚über-männlichen‘ Welten wie Mays Orient und Wildem Westen weiblichen Fährten nachzuspüren. Freilich darf man dort nicht immer inmitten der Handlung suchen, sondern muss auch am Rand nachsehen, und hin und wieder ist es geraten, den Text gegen den Strich zu lesen. Aber dass man, wenn man anständig Spuren lesen will, schon ganz genau hinsehen muss, ist für keinen Mayleser etwas Neues. Die großen Helden Winnetou und Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi machen es uns schließlich vor.

    Also habe ich beschlossen, auf Spurensuche zu gehen. Ich schnüre meine Stiefel, schwinge mich in den Sattel meines metaphorischen Pferdes und breche auf ins Mayversum. Das bedeutet allerdings auch, dass ich nur dort, innerhalb der Geschichten, nach weiblichen Fährten forschen werde. Die biografische Perspektive werde ich nur hin und wieder ins Auge fassen. Den Blick auf die Frauen im Leben des Schriftstellers May müssen andere Bücher werfen. Hier soll es allein um Nscho-tschi und ihre fiktionalen Schwestern gehen. Denn diese scheinbar so zarten Maiden – oder sollte ich lieber „Mayden" sagen – sind eigentlich richtige Powerfrauen und haben uns so einiges zu erzählen. Wacker ziehen sie durch die Prärien und Wüsten der May’schen Textwelten, und dahin wollen wir sie jetzt begleiten.

    Der Wilde Westen und die Mayden – Eine Geschichte voller Missverständnisse

    Der Vorhang öffnet sich – beziehungsweise der Buchdeckel. Die unendlichen Weiten der amerikanischen Prärie breiten sich vor uns aus, majestätisch, erhaben und menschenleer.

    Das heißt, menschenleer bis auf die zwei Männer, die Seite an Seite auf edlen, schwarzen Pferden durch diese unermessliche Weite ziehen, beide in Leder gekleidet, der eine ein Weißer, der andere ein Indianer, bewaffnet mit Bärentöter, Henrystutzen, Silberbüchse und der Macht ihrer unzerbrechlichen Freundschaft.

    Old Shatterhand und Winnetou. Es ist ein ikonisches Bild wahrer Freiheit.

    Das heißt, männlicher Freiheit natürlich.

    „Männer dürfen bei Karl May das, was sie heute und vor allem hierzulande schon lange nicht mehr dürfen: Männer sein", schreibt Dieter Mank[1] in seinem Offiziellen Endgültigen Handbuch für den Karl-May-Fan. Zwei Seiten später zeigt eine ausgesprochen witzige Illustration eine Frau, die mit einem Nudelholz in der Hand am Rande der erwähnten savannischen Weiten steht und recht bedröppelt auf ein Verbotsschild blickt, auf dem steht: „Karl May County. Frauen! Bis hierher und nicht weiter!"

    Irgendwie bringt es das schon auf den Punkt. Der May’sche Westen ist eine Männerwelt. Und das muss er auch sein. Seine Prärien und Gebirge voller ‚wilder‘, freier Menschen formen eine Gegenwelt zu der drögen Alltagsrealität, in der wir so oft fremdbestimmt und nicht Herren unseres eigenen Schicksals sind – ganz anders als Winnetou und Old Shatterhand.

    „Karl Mays Reiseerzählungen sind Träume von einer besseren Welt, einer Welt, die frei ist von gesellschaftlichen Zwängen und materieller Not. In dem Freiraum des Wilden Westens kann sich jeder seinen Anlagen und seinen erworbenen Fähigkeiten gemäß entfalten; es gibt keine Standes- und Klassenunterschiede. […] Schließlich kann sich in dieser Welt jedermann frei bewegen", führt Martin Lowsky aus.[2] Die Betonung liegt auf jedermann. Unsere beiden heroischen Blutsbrüder verkörpern voll und ganz ein Ideal autonomer Männlichkeit, das Mays Ich-Held Old Shatterhand noch bei seinem letzten Auftritt in Winnetou IV (heute bekannt als Winnetous Erben) einfordert: „Habt ihr begriffen, was es heißt, ein Mann zu werden? Eine Persönlichkeit, die aus eigener Energie zu tun und zu handeln weiß, ohne mit sich handeln zu lassen? Eine Persönlichkeit, die ihre Ziele kennt und nach ihnen strebt, ohne nach irgendeiner Seite abzuweichen?"[3]

    Der scheinbar grenzenlose Wilde Westen, der fernab von der Reglementierung der Zivilisation liegt, ist genau der Ort, wo ein Mann sich als eine solche selbstbestimmte Persönlichkeit etablieren kann. Hier hängt sein Erfolg ganz von seinen eigenen Fähigkeiten ab – seiner Körperkraft, seiner Gewandtheit, seinem Scharfsinn, aber auch seiner Charakterstärke und seiner moralischen Integrität. Den Gefahren der Wildnis ausgesetzt, muss sich ein solcher „Westmann" auf sich selbst verlassen können: Er muss gut schießen, reiten und kämpfen können, sich durch Spurenlesen und geschickte Anschleichmanöver überlebensnotwendiges Wissen über seine Umgebung aneignen, und er muss sich auf die Gepflogenheiten der in diesem ‚wilden Raum‘ ansässigen kriegerischen Indianerstämme einlassen. Wenn er das alles nicht tut, ist er ein toter Mann.

    Außerdem hat sich ein echter Westmann an einen bestimmten ‚heroischen‘ Kodex zu halten. Dieses ungeschriebene Gesetz ist eine Mischung aus den Normen der indianischen Kriegerkultur, die auf festen, ‚ursprünglichen‘ Vorstellungen von Ehre und Edelmut fußt, und aus den humanistischen, menschenfreundlichen Werten der weißen Westmannelite. Wer diesen Code bricht, sich unehrenhaft und gewissenlos verhält, wird sowohl von den Indianern als auch von den ‚echten‘ Westmännern verachtet.

    Dieses Männlichkeitskonzept, das im fiktionalen Raum des Westens als Wertemaßstab gilt, orientiert sich im Grunde an einem Ideal von Ritterlichkeit und ‚Gesinnungsadel‘, das Ende des 19. Jahrhunderts ‚unzeitgemäß‘ war. In der spät-industriellen Epoche, die von dem Kapital- und Bildungsbürgertum auf der einen und dem Militär auf der anderen Seite dominiert wurde, waren Mays heldenhafte Westmänner ein Anachronismus. „Mays ureigene Befreiungstat nennt Hans-Joachim Jürgens das: „In der Figur des Westmanns und vor allem in der Figur Old Shatterhands gelang es ihm, eine Gegenmännlichkeit zur ‚hegemonialen Männlichkeit‘ des Offizierstandes und des gehobenen Bürgertums zu konstruieren.[4]

    Die vorherrschenden Idealvorstellungen von Männlichkeit orientierten sich zu Mays Lebzeiten also entweder am Militär, in dem Ansehen und Einfluss allein vom Titel bzw. Rang abhängig war, oder am Bürgertum, das seinen Aufstieg nicht zuletzt auf Kapital, sprich: Geld, gründete. Nun wendet sich May weder von den traditionellen bürgerlichen Werten noch von der Idee einer Hierarchie ab (im Westen stehen Winnetou und Old Shatterhand wegen ihrer überragenden geistigen, körperlichen und moralischen Eigenschaften grundsätzlich an der Spitze der Rangordnung). Doch gleichzeitig lesen sich seine Romane ein wenig wie Manifeste der individuellen Freiheit.

    Der Ich-Erzähler und Ich-Held, der im Wilden Westen unter dem Kriegsnamen „Old Shatterhand und im Orient als „Kara Ben Nemsi bekannt ist, entscheidet sich schon als junger Mann ganz bewusst für das Dasein eines Weltenbummlers, weil er auf der Suche nach eben dieser Freiheit ist. Zuhause, in Deutschland und im Rahmen einer bürgerlichen Existenz, findet er sie nicht.

    Allerdings muss man anmerken, dass Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi seine Bindung zur Zivilisation nie ganz aufgibt. Seine europäische Bildung charakterisiert ihn genauso wie seine ‚heroischen Eigenschaften‘, und im Gegensatz zu vielen anderen May’schen Abenteurern kehrt er immer wieder in die Heimat zurück (wo er Bücher über seine Erlebnisse schreibt). Selbst ein West- und Weltläufer braucht Wurzeln, um eine ‚ganzheitliche‘ Existenz führen zu können.

    Doch ein ‚echter Held‘ kann Kara Shatterhand zu Hause in Deutschland nicht sein. Schließlich ist dort selbst das „Ich", das so viel Wert auf Selbstbestimmung legt, sozialen Zwängen unterworfen. Der amerikanische Westen dagegen ist eine Art ‚Autonomieraum‘, in dem man(n) frei von gesellschaftlichen Beschränkungen agieren kann. Immer wieder wird diese ‚wilde‘ Welt mit der Enge der Zivilisation kontrastiert, unter der wir Leser ohne Probleme unsere eigene Lebenswelt verstehen können. Sie meint aber auch spezifisch die spät-industrialisierte Gesellschaft, in der May lebte – ein soziokulturelles System, das durch seine rigide, imperialistische und patriarchale Struktur gekennzeichnet war. Der freie Westen mit seinen heroisch-kriegerischen Gesetzen, die durch Old Shatterhands eigene christlich-humanistische Werte der Nächstenliebe und Toleranz ergänzt werden, stellt einen radikalen Gegenentwurf zu dieser ‚zivilisatorischen‘ Welt dar.

    Aber was hat das Ganze mit den Frauen zu tun? Warum scheint diese freiheitliche Gegenwelt hauptsächlich von Männern bewohnt zu werden?

    Mays heroisches Westmannstum ist, wie der Begriff schon nahelegt, grundsätzlich maskulin besetzt. Es steht in einem gewissen Gegensatz zu einer ‚verzivilisierten‘ Art von Männlichkeit, aber auch zu einer gewissenlosen, rein gewaltorientierten Männlichkeit (Bösewichte im Wilden Westen können beiden Bereichen entstammen). Weil es aber nichtsdestotrotz maskulin ist, bildet es auch einen Gegenpol zum ‚Weiblichen‘ – oder zumindest zu dem, was May in seinen Texten unter ‚weiblich‘ versteht.

    Während die freie, heroische Sphäre des Westens dem kriegerischen Mann gehört, ist die Frau bei May zunächst grundsätzlich der Sphäre der Zivilisation zugeordnet. Selbst Indianerinnen begegnen uns selten in der Wildnis, sondern eher in Zeltdörfern und Pueblos – dem einzigen ‚Heim‘, das der nomadische indianische Krieger kennt.

    Frauen stehen im Mayversum für Geborgenheit und Verwurzelung. Als Mütter sind sie Bewahrerinnen der Kultur und geben Weisheit, Wissen und Herzensbildung an die nächste Generation weiter. Anders als die insgesamt negativ besetzte patriarchal-imperialistische Zivilisation, die sich in Gestalten wie Offizieren, Anwälten, Eisenbahnbauern und Polizisten ab und zu in den Westen verirrt und von den dort ansässigen Heroen verachtet oder bemitleidet wird, wird diese ‚hegende und pflegende‘, weibliche Form von Zivilisation durchaus mit Wohlwollen betrachtet. Anständige Westmänner verehren Frauen und vor allem Mütter zutiefst, und der ideale Held Old Shatterhand tut es erst recht. Für ihn sind Frauen unauflöslich mit einer Idee von ‚Heimat‘ assoziiert.

    Und da liegt der sprichwörtliche Hund begraben: Denn Heimat und Geborgenheit sind das genaue Gegenteil der männlich-heroischen Autonomie. Sie bedeuten Sesshaftigkeit, Verantwortung, Verpflichtung. Und zumindest in Old Old Shatterhands Fall würde eine Bindung an das Weibliche auch eine permanente Rückkehr in die Zivilisation verlangen, in der er sein ‚heroisches Selbst‘ nicht zur vollen Entfaltung bringen kann. Nein, die weibliche Sphäre von ‚Heim und Herd‘ (im Sinne eines Zuhauses) und der Freiheitsraum ‚Westen‘ gehen nicht zusammen.

    Dass das Westmännische und das Weibliche – zumindest in Kombination mit so suspekten Konzepten wie Liebe und Ehe – sich nicht vertragen, beweist uns May in eindringlich-amüsanter Weise anhand von Sam Hawkens, Old Shatterhands erstem ‚Westlehrer‘. Aus der zum Scheitern verurteilten Blitzromanze des kleinen, krummbeinigen Westmännchens mit einer resoluten Apatschenwitwe namens Kliuna-ai lassen sich einige wichtige Lehren in Sachen Weiblichkeit und Westen ziehen.

    Sam Hawkens, der in Winnetou I zusammen mit dem Jung-Helden Shatterhand bei den Apatschen nach einigen Verwicklungen freundliche Aufnahme findet, präsentiert sich seinem Musterschüler in einem Anzug, den er sich neu hat schneidern lassen:

    „Wenn ich aber frage: ,Woher?‘, so will ich die Person wissen, von der Ihr den Anzug habt" [, erklärte ich.]

    „Die Person? Hm! Ach so! Ja, die Person, Sir! Das ist so eine Sache. Eigentlich ist sie gar keine Person."

    „Was denn?"

    „Ein Persönchen."

    „Wieso?"

    „Na, kennt Ihr denn die hübsche Kliuna-ai nicht?"

    „Nein. Kliuna-ai heißt Mond. Ist’s ein Mädchen oder eine Squaw?"

    „Beides oder vielmehr keins von beiden."

    „Also Großmutter?"

    „Unsinn! Wenn sie sowohl Squaw als auch Mädchen oder vielmehr keins von beiden ist, so muss sie doch Witwe sein."[5]

    Obwohl dem Ich-Helden hier der Schalk im Nacken sitzt, ist dieser kurze Austausch sehr aufschlussreich. ‚Die Frau‘ wird hier nämlich als etwas Fremdes wahrgenommen, als etwas, das nicht dem normalen Mensch-Sein entspricht. Kliuna-ai ist etwas anderes als ‚Person‘, etwas Kleineres, Niedlicheres, Zarteres und ganz und gar Un-Westmännisches. Dieses fremde Wesen ist schwer zu fassen. Wenn es nicht Mädchen ist, ist es Squaw oder Großmutter oder Witwe oder was auch immer, aber richtig festmachen kann man es nicht – das will der Schalk Shatterhand seinem arg verliebten Freund jedenfalls weismachen.

    Der herzlose Jüngling hat sowieso wenig Sinn für die romantische Dramatik von Sams amourösen Abenteuern, obwohl der kleine Westmann die ernste Absicht verkündet, mit seiner Kliuna-ai „ein trautes Heim" zu gründen:

    Das kleine, bärenfelllederne Freiersmännchen drehte sich um und stapfte stolz von dannen. Das freundliche Gefühl, das er für die indianische Wittib empfand, verursachte mir keine seelischen Schmerzen und Bedenken. Man brauchte Sam nur anzusehen, um völlig beruhigt zu sein. Die übermäßig großen Füße, die dünnen, krummen Beinchen, dann das Gesicht, o weh! Er glich einer männlichen Pastrana[6] mit einem Geierschnabel im Gesicht. Das war selbst für eine Indianerin zu toll.

    Der arme Sam Hawkens wird hier in seiner ganzen Eheuntauglichkeit präsentiert, die Old Shatterhands spöttischen Behauptungen zum Trotz nicht allein in dem wenig attraktiven Äußeren des kleinen Westhelden begründet liegt. Vielmehr muss Sam sehr schnell einsehen, dass auch seine Prärieläuferexistenz den Gedanken an eine Ehe höchst problematisch macht:

    Übrigens war Sam bald wieder guter Dinge und gestand mir, dass er sich freue, ein unverheirateter Jüngling geblieben zu sein. […]

    „Ist überdies gut, dass meine Liebe zu diesem abnehmenden Mond so unglücklich war."

    „Warum?"

    „Weil ich ihn doch nicht hier lassen könnte, sondern mitnehmen müsste. Wer aber reitet gern mit einem Neumond über die Prärie! Hihihihi! Ist doch bei jedem Unglück auch ein Glück."

    Nein, Frauen nimmt man nicht mit in die Savanne. Da gehören sie einfach nicht hin. Die Vorstellung, Sam könnte von nun an mit einer indianischen Schneiderin anstatt seinen beiden langen, dünnen Gefährten Dick Stone und Will Parker durch die Prärie ziehen, ist so lustig, dass eine Verwirklichung dieser potenziellen Zukunft gar nicht mehr in Betracht gezogen werden kann – jedenfalls nicht ernsthaft. Ganz abgesehen davon, dass Kliuna-ai sicher gar nicht die Absicht hätte, das Pueblo der Apatschen zu verlassen und in der Weltgeschichte herumzureiten.

    Seinen Mond einfach allein daheimsitzen und auf die Rückkehr des herumvagabundierenden Ehemannes warten zu lassen, kommt für Sam aber auch nicht infrage. Das ist nämlich ungalant. Und wenn man sich schon eine Ehegattin angetan hat, will man ja auch etwas von ihr haben. Nein, das „traute Heim" mag eine schöne Vorstellung sein, aber letzten Endes ist es mit dem echten Westmannstum nicht vereinbar.

    Der junge Shatterhand mag über den kleinen Sam Hawkens und seine unglückliche Brautwerbung so viel spotten, wie er will – auch ihm gelingt es nur sehr bedingt, diese fremdartigen Wesen namens ‚Frauen‘ in seine Existenz als Westläufer zu integrieren. Selbst für ihn, der Frauen gegenüber sehr aufgeschlossen ist und ihre Intelligenz, Empathie und Ausdauer bewundert, kommt es immer wieder als eine Überraschung, wenn er inmitten der Savanne auf ein weibliches Wesen trifft.

    Und doch gibt es sie, die Frauen im Westen. Sie lassen sich nicht aufhalten, marschieren tapfer in kleinen Mokassins oder geschnürten Stiefelchen in die Prärie und erzählen ihre eigenen Heldengeschichten.

    Der Maytext an sich ist erstaunlich offen für diese zarte, weibliche Invasion, und der „Autonomieraum" ist flexibel genug, um seine eigenen Gesetze zu biegen. Je weiter die West-Erzählung fortschreitet, umso prominenter wird das weibliche Element inmitten dieser ‚urmännlichen‘ Sphäre. Schließlich nehmen ‚Winnetous Erbinnen‘ sogar selbstbewusst ihren Platz als gleichberechtigte Westheldinnen ein. Und Old Shatterhand, älter und weiser geworden, ist noch nicht einmal sonderlich überrascht.

    Nscho-tschi

    Jeder kennt Nscho-tschi. An die schöne Schwester Winnetous, die, wie es bei May selbst so gerne heißt, Old Shatterhand „ihre Seele gegeben" hatte, erinnert man sich einfach. Und ihre Geschichte ist ja auch zu schön und tragisch, um sie einfach zu vergessen.

    Die junge Indianerin verliebt sich in den gefangenen Old Shatterhand, den sie gesund pflegt, obwohl sie ihn für einen Feind ihres Vaters, ihres Bruders und ihres ganzen Stammes halten muss. Als er sich dann doch als Freund und Lebensretter Winnetous erweist, ist sie bereit, „in die großen Städte des Ostens" zu gehen, um dort alles zu lernen, was sie als Frau eines Bleichgesichts wissen muss – denn das, so glaubt sie, ist die Voraussetzung, um Old Shatterhands Liebe zu gewinnen. Doch auf dem Weg in den Osten, in die (weiße) Zivilisation, wird Nscho-tschi zusammen mit ihrem Vater Intschu tschuna von goldgierigen Weißen überfallen und von einer Gewehrkugel tödlich getroffen. Sie stirbt in Winnetous Armen, Old Shatterhands Namen auf den Lippen.

    So weit, so klassisch. Nscho-tschi bildet mit unseren beiden Blutsbrüdern ein episches Dreigestirn, das dem von Luke Skywalker, Han Solo und Prinzessin Leia aus Star Wars ähnelt, wobei die Heldin mit den beiden männlichen Heroen durch Verwandtschaftsbande respektive romantische Liebe verbunden ist. Und selbst mit ihrem Tod erfüllt Winnetous Schwester eine ikonische Funktion: Denn wahre Helden – das weiß May nur zu gut – dürfen nicht heiraten oder auch nur glücklich lieben, zumindest nicht mitten in der Geschichte (wer daran zweifelt, sollte nur einmal echte Männer wie Captain Kirk, James Bond oder Clark Kent alias Superman fragen). Aber leiden dürfen sie, die Helden, und der gewaltsame Verlust eines potenziellen Liebesobjekts eignet sich als Basis für ein solches heroisch-männliches Weh vortrefflich. Ganz zu schweigen davon, dass der Tod Nscho-tschis in den Armen Winnetous und Old Shatterhands ein wenig wie die letzte Feuertaufe wirkt, die die noch junge Freundschaft der beiden zu bestehen hat. Nachdem sie gemeinsam die Frau zu Grabe getragen haben, deren Liebe ihnen „gemeinsam gehörte", kann die Blutsbrüder wirklich nichts mehr auseinanderreißen.

    Kein Wunder also, dass sich uns Nscho-tschis Schicksal eingebrannt hat, so ikonisch-episch, wie es ist. Oder? Ist das wirklich schon alles? Fällt der „edelsten Tochter der Apatschen" tatsächlich nur eine ‚Helferrolle‘ innerhalb der Heldengeschichte Winnetous und Old Shatterhands zu?

    Oh, ihr Zweifler! Da kennt ihr May und seine Mayden aber schlecht. Denn Nscho-tschi hat ihre eigene Stimme – und uns so einiges zu sagen.

    Wer es vergessen und/oder noch nicht gemerkt hat: Nscho-tschi tritt natürlich in Winnetou I auf. Dieser Schlüsseltext unter den May’schen West-Romanen, in dem der edle Häuptlingssohn Winnetou und das Noch-Greenhorn Old Shatterhand sich zum ersten Mal begegnen, entstand übrigens erst, nachdem die Blutsbrüder in Geschichten wie Der Sohn des Bärenjägers und Der Schatz im Silbersee bereits ihren Mut, ihr Geschick und ihre Treue zueinander unter Beweis gestellt hatten. May entwickelte die Genese seiner beiden großen Helden und ihrer legendären Freundschaft also quasi im Nachhinein – oder besser gesagt: mittendrin, nachdem er sie schon auf dem Gipfel ihrer Westläuferkarriere dargestellt hatte. Dabei erfindet er die beiden allerdings auch bis zu einem gewissen Grad neu: Erst jetzt erhält der unvergleichliche Winnetou seinen überragenden edlen Charakter in Reinform, während wir gleichzeitig Zeuge werden, wie sich Old Shatterhand vom unerfahrenen Jüngling und Greenhorn (Neuling im Wilden Westen) zu einem ausgewachsenen Heroen mausert.

    Genau das ist nämlich passiert, bevor wir zusammen mit dem Ich-Erzähler und Ich-Helden Old Shatterhand unseren ersten Blick auf Nscho-tschi erhaschen. Im Zuge verschiedener Bewährungsproben – Mustangfangen, Büffeljagen, Spurenlesen, Zweikampf auf Leben und Tod, um nur einige zu nennen – musste unser junger deutscher Protagonist, der noch gar nicht lange im ‚gelobten Land‘ Amerika weilt, unter Beweis stellen, dass er das Zeug zum Westmann hat. Außerdem durfte er dem Apatschen Winnetou begegnen, einem etwa gleichaltrigen Häuptlingssohn, zu dem das Ich von Anfang an eine intensive, unerklärliche Verbindung verspürt.

    Das Ganze ist sozusagen Freundschaft auf den ersten Blick, und das eigentlich von beiden Seiten. Nur dummerweise hält der junge Apatsche samt Vater und ganzem Stamm den bereits mit dem Kriegsnamen „Shatterhand bewährten Protagonisten für seinen Feind. Schließlich hat sich der noch etwas unbedarfte Deutsche von seinen amerikanischen Wohltätern als Landvermesser für die Eisenbahn in das Gebiet der Apatschen schicken lassen. Die Indianer betrachten das Treiben der Bleichgesichter als Landraub – berechtigterweise, wie Jung-Shatterhand einsieht, wenn auch zu spät. Für ihn heißt es „mitgefangen, mitgehangen, wie Westmann-Lehrer Sam Hawkens verkündet. Die ganze Situation wird noch auswegloser, als ein Trunkenbold aus der nutzlosen Rest-Truppe von Landvermessern und Pseudo-Westmännern Klekih-petra, den deutschen Lehrmeister Winnetous, erschießt. Die Apatschen sind natürlich fest entschlossen, den Tod ihres „weißen Vaters" blutig zu ahnden, und auch Old Shatterhand, Sam Hawkens und seine Gefährten Dick Stone und Will Parker sind ihrer Rache verfallen – da mögen die vier den edlen Indianern gegenüber noch so freundliche Gefühle hegen.

    Das Greenhorn befindet sich also in einer ziemlich vertrackten Situation, nicht zuletzt, weil ihm der „weiße Vater" im Sterben das Versprechen abgenommen hat, seinem Schützling Winnetou treu zu bleiben. Und ganz abgesehen davon, hat unser Ich den jungen Apatschen ja sowieso vom ersten Augenblick an als Seelenfreund fürs Leben begehrt. Da versteht es sich von selbst, dass er ihn, Winnetou, der ihm, Shatterhand, nach dem Leben trachtet, vor den räuberischen Kiowas retten muss, als Sam Hawkens auf die ‚ausgezeichnete‘ Idee verfällt, sich mit diesen Feinden der Apatschen zum Schein zu verbünden.

    Trotz der verzwickten Lage gelingt Jung-Shatterhand seine eigensinnige Rettungsaktion prompt. Unerkannt befreit er Winnetou und dessen Vater aus den Händen der Kiowas und nimmt (als Erkennungszeichen) eine Strähne von Winnetous „reichem, herrlichen" Haarschopf an sich. Nur leider wird er tags darauf samt weißer Freunde und kiowanischer Feinde von den Apatschen überrumpelt, und ehe er die rettende Haarsträhne zücken kann, wird Old Shatterhand in einen Kampf mit Winnetou verwickelt.

    Der zum Freund begehrte Apatsche versucht das Ich zu erstechen, das Messer gleitet aber von einer Tabaksbüchse mit persönlichen Aufzeichnungen in der Brusttasche des Jung-Schriftstellers ab und diesem von unten durch das Kinn und in die Zunge. Da ist es erst einmal vorbei mit der Mitteilungsfähigkeit unseres Helden – ein wunderbar wirkungsvolles Symbol für die verhinderte Kommunikation zwischen den scheinbar zur Feindschaft verdammten Seelenfreunden. Zu allem Überfluss befällt den verwundeten Old Shatterhand auf dem Weg zum Pueblo der Apatschen auch noch der Wundbrand und er muss mit einem weitaus gefährlicheren Gegner als Winnetou ringen – dem Tod nämlich.

    Diese Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit, dieser „Abstieg in die Totenwelt", ist ein integraler Bestandteil jeder Initiationsgeschichte, der Entwicklung eines Jünglings zum Helden. May nimmt diese Tradition ziemlich wörtlich: Im Delirium träumt Shatterhand, er würde lebendig begraben werden und wieder auferstehen.

    Nach Büffeljagd und Bärentötung, nach Winnetourettung und Messerkampf hat Old Shatterhand auch die letzte Prüfung bestanden. Er kann das Greenhorn endgültig hinter sich lassen und kehrt als Held ins Leben zurück. Bezeichnenderweise erblickt er Nscho-tschi zum ersten Mal, als er endgültig aus seinem Genesungsschlaf erwacht.

    Das Ich schlägt also als vollendeter Mann die Augen auf – oder zumindest ist das die Theorie. Eigentlich sollte er jetzt kein Greenhorn mehr sein und der Welt noch souveräner entgegentreten, als er es ohnehin schon immer getan hat (in vieler Hinsicht trifft das auch zu; das Ich ist nun ganz Old Shatterhand geworden). Aber dann passiert dieser May’schen Initiationsgeschichte etwas Unerhörtes: Sie wird mit dem Weiblichen konfrontiert – und unserem jungen Westmann werden seine Grenzen aufgezeigt.

    An und für sich gehört die Begegnung mit dem Weiblichen – inklusive zu erwartender Vereinigung mit der Heldin – zu einem klassischen männlichen ‚Bildungsroman‘ mit dazu, und auch die Situation, in der Nscho-tschi und Old Shatterhand aufeinandertreffen, ist keine ungewöhnliche. Der jungen Apatschin ist nämlich die Pflege des Verwundeten anvertraut worden, damit er dann gestärkt am Marterpfahl für seine vermeintlichen Sünden sterben kann, und dabei hat sich schon so manche Heldin in so manchen Helden verliebt – das heißt, beim Pflegen natürlich, nicht beim Martern. Auch umgekehrt erweist sich in unzähligen Geschichten und Romanzen das Umsorgen eines versehrten Mannes als probates Mittel für eine Frau, die Liebe desselben zu erringen. Klassisch also. Nur dass bei May die Situation um vieles komplizierter ist.

    Vielleicht genügt es deshalb auch nicht, dass das Ich Nscho-tschi nur einmal erblickt. Nein, er ‚erblickt‘ sie dreimal. Jedes Mal entdeckt er eine andere Seite an ihr, und jedes Mal misslingt es ihm, diese Frau wirklich zu verstehen. Nscho-tschi fordert das durch eine europäische und vor allem männliche Sozialisation geformte Welt- und Frauenbild des Protagonisten heraus – und unser Shatterhand meistert diese Herausforderung nicht immer (sprich: selten) mit Bravour.

    Dass sich May einer solchen sozialen Gemachtheit unserer Wahrnehmung der Welt und anderer Menschen mehr als bewusst war, zeigen unter anderem folgende Überlegungen des Erzähler-Ichs von Und Friede auf Erden in Bezug auf die Natur des Vorurteils:

    Von den ersten Kinderschuhen an hat man durch alle Klassen der Volks-, höheren und höchsten Schulen über die Chinesen nichts anderes gehört, als dass sie wunderlich gewordene, verschrobene Menschen seien, über die die Weltgeschichte schon längst den Fluch der Lächerlichkeit ausgesprochen habe. In unzähligen Büchern, Zeitungen und sonstigen Veröffentlichungen wird dieses billige Urteil breiter und immer breiter getreten; man atmet es ein; man schluckt es hinunter; es geht auf die Knochen, in Fleisch und in Blut über und bildet einen so unausrottbaren Bestandteil unserer geistigen Existenz, dass wir gar nicht auf den Gedanken kommen zu fragen, ob es wahr und also berechtigt war.[7]

    Mit ungeheurem Scharfblick beschreibt May, wie sich Vorurteile und Verhaltensweisen herausbilden und verfestigen. Durch Erziehung und Interaktion mit unserem sozialen Umfeld formt sich unser Verständnis, ja, unsere Wahrnehmung von der Welt, bis kulturelle Konventionen uns „in Fleisch und Blut" übergegangen sind.

    Hier äußert May höchst moderne sozialpsychologische Einsichten. Laut den sogenannten gender-Theorien, die in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden, formt sich unser Verständnis von dem, was denn eigentlich ‚männlich‘ und was ‚weiblich‘ ist, ganz ähnlich. Wie das Verhältnis der Geschlechter zueinander auszusehen hat, wie man als Mann oder Frau auszusehen, sich zu kleiden, sich zu betragen hat, was eine Frau/ein Mann angeblich alles kann und was ‚natürlicherweise‘ außerhalb ihrer bzw. seiner Fähigkeiten liegt – all diese Vorstellungen sind kulturell bedingt. Durch unsere Bildung und Erziehung haben auch wir diese „sozialen Geschlechterrollen" internalisiert, und sich von diesen verfestigten Ansichten zu lösen, ist gar nicht so einfach. Die Wissenschaft verwendet für diese Art von Geschlechtsmerkmalen, die uns als ‚natürlich‘ erscheinen mögen, aber in Wahrheit sozial konstruiert sind, den Begriff gender, um sie von den eigentlichen biologischen Geschlechtsmerkmalen (sex) zu unterscheiden.

    Und das ist wichtig für Karl May, Old Shatterhand und Nscho-tschi?, wird vielleicht so mancher fragen. Sehr, antworte ich. Wir werden gleich sehen, warum.

    Zurück zur Ausgangssituation. Das Ich schlägt also nach entwicklungsgeschichtlich bedeutsamem Todeskampf und -schlaf in seiner (mehr oder weniger) vollendeten Shattermännlichkeit die Augen auf und erblickt Folgendes:

    Die junge [Indianerin] dagegen war schön, sehr schön. Sie trug ein langes, hemdartiges Gewand, das den Hals eng umschloss und an den Hüften von einer Klapperschlangenhaut gerafft und zusammengehalten wurde. Es war an ihr kein Schmuckgegenstand zu sehen, etwa Glasperlen oder billige Münzen, womit sich die Indianerinnen so gern behängen. Ihr einziger Schmuck bestand aus ihrem herrlichen langen Haar, das ihr in zwei starken, bläulich-schwarzen Zöpfen bis über den Gürtel herabreichte. Dieses Haar erinnerte an das Winnetous. Auch ihre Gesichtszüge waren den seinigen ähnlich. Sie hatte die gleiche Samtschwärze der Augen, die unter langen, schweren Wimpern halb verborgen lagen wie Geheimnisse, die nicht ergründet werden sollen. Von indianisch vorstehenden Backenknochen war keine Spur. Die weich und warm gezeichneten, vollen Wangen vereinigten sich unten in einem Kinn, dessen Grübchen bei einer Europäerin auf Schelmerei hätte schließen lassen. […] Die Farbe ihrer Haut war eine helle Kupferbronze mit einem Silberhauch. Das Mädchen mochte achtzehn Jahre zählen und ich gewann die Überzeugung, dass es die Schwester Winnetous sei.[8]

    Nscho-tschi präsentiert sich dem Ich und uns auf den ersten Blick als die vollendete Mayd. Sie ist schön und voll mit prächtigem, sehr langem Haar, dabei aber – und das ist wichtig – schlicht und sehr natürlich (Ersteres wäre ohne Letzteres wenig wert). Solch ansprechendes Äußeres lässt im Mayversum immer auf eine genauso schöne Seele und ein reines, unverfälschtes Wesen schließen. Und auch das ‚unergründbare Geheimnis‘, das hinter Nscho-tschis Augen wohnt, gehört zum May’schen Ideal mit dazu: Die Frau ist ein Rätsel, das sich dem Mann nicht gleich, vielleicht sogar nie erschließt, und im Gegensatz zwischen Unschuld und Unerklärlichem liegt ihr Reiz (was das betrifft, befleißigt sich unser Autor nicht gerade eines unkonventionellen Frauenbilds).

    Nscho-tschis Erscheinung ist durchaus dazu geeignet, das Herz des jungen Westhelden höher schlagen zu lassen, wenn auch auf dezente, kaum benannte Art und Weise (über romantische Regungen redet weder das erlebende noch das erzählende Ich sonderlich gern). Dass dieses Bild einer Mayd Old Shatterhand nicht gerade kalt lässt, zeigt sich aber schon allein dadurch, dass er ihr, gerade erst vom Genesungsschlaf erwacht und wochenlang zur Stummheit verdammt, wortreiche Komplimente macht. Diese lassen die Indianerin auch prompt mädchenhaft erröten.

    Also alles im Griff, Herr Shatterhand? Nun, das weniger. Denn was darauf folgt, verleiht Nscho-tschis Charakter in nur wenigen Seiten eine Tiefe, die das unergründliche Geheimnis hinter ihren Augen mehr als rechtfertigt und beweist, dass unser Heros eigentlich doch immer noch ein rechtes Greenhorn ist.

    Zunächst einmal fällt auf, dass Nscho-tschi trotz ihres zarten Errötens auf das Shatterhand’sche Kompliment dem Ich-Helden vom ersten Moment an auf Augenhöhe begegnet. Ohne Scheu und sehr sachlich steht sie ihm Rede und Antwort, was seine Situation als Gefangener und Pflegebefohlener angeht. Dafür verlangt sie von ihm auch ganz dasselbe, als er versucht, seine Hochachtung vor (und Liebe für) ihren Bruder Winnetou auszudrücken:

    „Du hast ihn töten wollen!"

    Das klang halb wie eine Behauptung und halb wie eine Frage. Sie blickte mir dabei forschend in die Augen, als wolle sie mein ganzes Inneres ergründen.

    Nscho-tschi schaut dem Ich aufrecht ins Gesicht, ja in die Augen, als würde sie nicht einmal auf die Idee kommen, ihn anders zu sehen als einen Ebenbürtigen. Angesichts der wiederholten May’schen Behauptung, die Frauen der Indianer wären wenig mehr als Sklavinnen, muss ihre ganz und gar nicht unterwürfige Haltung besonders auffallen.

    Nscho-tschi mag auf Winnetous Bitte hin dem Ich gegenüber eine dienende Rolle einnehmen, aber sie verhält sich nicht wie eine Sklavin, sondern eher wie eine stolze Königin, die es sich leisten kann, Milde zu zeigen. Nirgends wird das deutlicher als während der folgenden ikonischen Szene:

    Die Alte hatte eine ausgehöhlte Kürbishälfte voll Wasser gebracht. Nscho-tschi setzte sie neben mein Lager und gab mir ein handtuchähnliches Geflecht aus feinem, weichen Bast. Ich versuchte das Waschen, aber es ging nicht, ich war noch zu schwach. Da tauchte sie einen Zipfel des Geflechts ins Wasser und begann, mir das Gesicht und die Hände zu reinigen, mir, dem vermeintlichen Todfeind ihres Bruders und Vaters!

    Old Shatterhand ist überwältigt von Nscho-tschis Handeln, das kaum anders als „huldreich" genannt werden kann. Aus den Worten des Erzählers spricht ein ordentliches Maß an Demut und/oder Ehrfurcht, wie es ihn ja angesichts des edlen Verhaltens der Apatschen immer wieder überkommt.

    Verstärkt wird der Eindruck, den diese Szene hinterlässt, durch ihre biblischen Konnotationen; die Gesichtsreinigung wirkt wie eine Mischung zwischen der Fußwaschung, die Jesus vor dem letzten Abendmahl an seinen Jüngern vollzieht, und dem Liebesdienst Veronikas, die dem das Kreuz tragenden Christus mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht wischt. Mit ihrer großmütigen Handlung reiht sich Nscho-tschi, von der es noch in Winnetou IV (Winnetous Erben) heißt, dass sie „stets Erbarmen war", unter die edelsten May’schen Frauengestalten ein. Schließlich betrachtet ihr Autor die Güte als die höchste, reinste weibliche Eigenschaft überhaupt.

    Der noch junge Shatterhand teilt diese Meinung mit seinem Schöpfer. Nscho-tschis Handeln erfüllt ihn mit Ehrfurcht, erschüttert sein männlich-europäisches Weltbild aber nicht. Das geschieht erst während des direkt anschließenden Gesprächs.

    „Sie sollen also sterben?, erkundigt sich Old Shatterhand nach dem Schicksal, das seine Gefährten (und ihn) erwartet. Nscho-tschi antwortet kurz und knapp mit: „Ja. – „Auch ich?, geht es weiter. „Auch du!, entgegnet sie, und „im Ton ihrer Antwort lag nicht eine Spur von Bedauern."

    Diese Frau kann kein Herz haben, urteilt Jung-Shatterhand vorschnell, ungeachtet der doch gerade erst vollzogenen Gesichtswaschung. Aus dem Munde des May’schen Ichs ist das so ziemlich das vernichtendste Urteil, das über ein weibliches Wesen gesprochen werden kann. Ohne Gefühl und Mitleid lässt eine Frau doch letzten Endes die Grundlage ihrer Weiblichkeit missen!

    Der vermeintliche Widerspruch zwischen mildtätiger Handlung und Gefühlskälte stellt den jungen Deutschen vor ein Rätsel, das er nicht lösen kann. Das liegt unter anderem daran, dass unser Held eben doch noch ein Greenhorn ist, gleichgültig, wie lobenswert er seine sonstigen Initiationsaufgaben in punkto (West)Männlichkeit bewältigt hat. Nscho-tschi – wohlgemerkt die erste Indianerin, der das Ich begegnet – lässt sich schlicht und ergreifend nicht erfolgreich in dem Frauenbild verorten, das sich unser europäisch gebildeter Jüngling bis dato zusammengezimmert hat. Seine schockierte Reaktion steht in deutlichem Gegensatz zu der Haltung des späteren, reiferen Ichs, das so gerne die abgehärteten, tatkräftigen, unzimperlichen Indianerinnen mit den „zarten weißen Ladys" vergleicht, und zwar zum erheblichen Nachteil der Letzteren. Noch aber hat Jung-Shatterhand keine Ahnung von solchen Dingen. Seine Lehrmeisterin ist ein achtzehnjähriges Indianermädchen namens Nscho-tschi.

    Während das Ich noch vergeblich versucht, die vermeintlichen Widersprüchlichkeiten dieser Frau miteinander zu vereinen, nur um dabei männlich-zivilisatorisch auf keine andere Erklärung zu verfallen, als „sie hätte kein Herz, macht sich der Text bereits daran, uns Nscho-tschis Charakter deutlich vor Augen zu führen – in ihren Handlungen und ihren Worten. Sie ist nämlich alles andere als ‚unweiblich‘, kalt und verschlossen. Mit ihren offenen Fragen, ruhigen Antworten und ihrem unvoreingenommenen, „forschenden Blick übernimmt sie während Old Shatterhands Genesung eine Rolle, die für den weiteren Verlauf der Geschichte entscheidend ist. Nscho-tschi wird nämlich zur Brücke zwischen Winnetou und Old Shatterhand.

    Eigentlich befinden sich die zukünftigen Blutsbrüder in einer verfahrenen Situation, aus der es, wären sie allein auf ihre maskulin-heroischen Verhaltensmuster angewiesen, keinen Ausweg gäbe (nun, scheinbar jedenfalls, weil das Ich dank kreativer Problemlösung am Ende doch noch ein Schlupfloch findet). Winnetou ist männlich erzürnt über die vermeintliche Lüge Old Shatterhands, er sei kein Feind der Apatschen. Man könnte auch sagen, dass der Häuptlingssohn schlicht und einfach stinksauer ist, weil der als Seelenfreund begehrte junge Deutsche sich allen Anschein nach als nichtswürdiger Knilch erwiesen hat.

    Dem heroischen „Verhaltenskodex" folgend, weigert sich Winnetou, noch einmal mit besagtem Knilch zu sprechen. Für Old Shatterhand, der ja inzwischen Westmann ist und innerlich sowieso schon immer ziemlich heroisch war, gilt genau derselbe Kodex wie für den Indianer Winnetou. Deshalb muss der Weiße seinerseits auf seine Ehre achten und darf dem Häuptlingssohn keinesfalls die Haarlocke zusenden, die ihn als Retter des Apatschen ausweisen würde. Am Ende würde er noch das Gesicht verlieren, weil er Winnetou nicht auch in punkto Stolz (Sturheit) das Wasser reichen kann!

    Die beiden Helden sind also zu männlichem Schweigen gezwungen, weil sie dem „heroisch-stoischen Verhaltensmodell" folgen müssen, wie Ulrich Melk es nennt[9]. Dieses verlangt einem ‚echten Mann‘ nicht nur alle Fähigkeiten eines Jägers und Kriegers ab, sondern auch absolute Selbstbeherrschung. In der Tat besteht das Erzähler-Ich während seiner gesamten textuellen Existenz darauf, dass die Fähigkeit, seine Gefühle zu beherrschen, den Mann deutlich von der emotionsgesteuerten Frau unterscheidet.

    Ein Mann, ganz zu schweigen von einem Helden, hat seine Emotionen unter Kontrolle, er zeigt sie nicht und er spricht auch nicht darüber. Vielmehr übt er sich in stolzer Schweigsamkeit. Infolgedessen können weder Winnetou noch Old Shatterhand in dieser Phase die Hinwendung zum anderen suchen, sprich: die Kommunikation eröffnen, die zur Klärung all der Missverständnisse notwendig wäre. Nscho-tschi durchschaut die verfahrene Situation durchaus: „Was für harte Leute ihr Krieger doch seid!", ruft sie aus, als Old Shatterhand sich weigert, sie als Botin zu benutzen.

    Als Indianerin hat Nscho-tschi die Werte des heroischen Kodex ebenfalls vollständig internalisiert; das zeigt sich später, wenn sie Old Shatterhand bittet, ihr zuliebe am Marterpfahl als „Held" zu sterben. Genau diese Internalisierung ist übrigens auch einer der Gründe für ihre ‚herzlose‘ Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod; das sonst so interkulturell versierte Ich begreift hier nur (noch) nicht, dass diese heroischen Werte auch das Denken einer Frau bestimmen können.

    Nscho-tschi kann das Verhalten ‚ihrer Männer‘ also nachvollziehen und akzeptiert es auch. Ihr Ausruf ist nur Feststellung, keine Kritik. Das hindert sie allerdings nicht daran, ihre weibliche Freiheit auszunutzen.

    Welche weibliche Freiheit?, wird da vielleicht gefragt. Die kriegerische Kultur der May’schen Indianer ist ganz und gar maskulin dominiert; wo innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie ein Individuum zu situieren ist, bestimmt in erster Linie der Grad seiner ‚Männlichkeit‘. Eine Frau hat in einem solchen kulturellen System entweder gar keinen Platz, oder aber sie nimmt einen negativen Wert ein (als Gegenteil des positiven Wertes ‚Mann‘ bzw. ‚Krieger‘). Dies verdeutlicht allein schon der Umstand, dass in Mays Westen der Vorwurf, sich „wie ein Weib" zu verhalten, als grobe Beschimpfung gebraucht wird (da ‚weiblich‘ bzw. ‚weibisch‘ gleichbedeutend mit Schwäche, Emotionalität und Furcht verstanden wird).

    Wenn die Frau schon allein wegen ihres Nicht-Mann-Seins außerhalb des Wertesystems verortet wird, ist das einerseits eine Abwertung. Anderseits gibt es ihr aber auch unerwartete

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