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Tourismus und mobile Freizeit: Lebensformen, Trends, Herausforderungen
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Tourismus und mobile Freizeit: Lebensformen, Trends, Herausforderungen
eBook866 Seiten9 Stunden

Tourismus und mobile Freizeit: Lebensformen, Trends, Herausforderungen

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Über dieses E-Book

Hat die Spaßgesellschaft ausgelacht und hat die Krise der Wirtschaft und der Werte sämtliche Lebensstrukturen durchdrungen, sodass schon aus psychohygienischen Gründen eine permanente Ablenkung erforderlich wird, um das Leben durchzustehen? Oder haben sich die Gewichte einfach so verschoben, dass Arbeit oder besser sinnstiftende Arbeit ihren Stellenwert zurückbekommen hat und sich in den Arbeitsprozessen heutzutage mehr Entfaltungsmöglichkeiten bieten, sich Arbeit und Freizeit also nicht mehr als Antipoden einander gegenüberstehen, sondern eher ineinander greifen? Sind Urlaubs- und Ferienzeiten einfach dadurch geprägt, dass man sich von Routinen befreit bewegen kann und das möglichst weit weg oder man an solche Orte reist, die der Anmutung von Paradiesen entsprechen, Heterotope mit Glückseligkeits¬versprechen, wohl wissend, dass es sich nur um ein zeitweiliges Abtauchen in solche Glücksräume handeln kann? Oder suchen wir nur nach Phasen der Ruhe, weil der kinetische Overkill zu einer Überhitzung des Systems Mensch führt, Kopf- wie Atemlosigkeit die Sinne benebeln und das Kontrastprogramm in einem demonstrativ rasenden Stillstand besteht, in Zeiträumen, in der Zeit keine dominierende Rolle spielt? Es sich leisten können, sich im Lotussitz niederzu¬lassen und die Augen auf die Ewigkeit zu richten – wäre das eine Alternative zu den Millionen Stunden verlorener Zeit in den Wartehallen der Flughäfen und im Stau auf Autobahnen?
Die dramatischen Veränderungen in unseren Gesellschaften während der letzten Jahrzehnte haben Arbeit und Freizeit entgrenzt und ent¬koppelt, eigene und doch ineinander verzahnte Bereiche geschaffen. Was können wir erwarten und welche Aussichten ergeben sich im Kontext von Klimawandel, demographi¬schen Verschiebungen, der Beschleunigung des Lebens durch die Entwicklung der Technik – das sind entscheidende Fragen für den Tourismus- und Freizeitmarkt der Zukunft.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum14. Jan. 2015
ISBN9783738685930
Tourismus und mobile Freizeit: Lebensformen, Trends, Herausforderungen
Autor

Roman Egger

Roman Egger is a professor and divisional director of eTourism at the Department of Innovation and Management in Tourism at the Salzburg University of Applied Sciences. He serves as an advisor to a number of national and international projects that relate to Information Technologies in Tourism and is a consultant for eTourism-development activities. He has written and co-edited fifteen books, published a number of articles in books and journals and is co-editor of the scientific Journal “Zeitschrift für Tourismuswissenschaft”. He is a member of the International Federation of Information Technology for Travel and Tourism (IFITT), ÖGAF, DGOF, DGT and AIEST.

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    Buchvorschau

    Tourismus und mobile Freizeit - Roman Egger

    2014

    Freizeit, Arbeitswelt, Utopie

    Vom Verlassen der Paradiese

    Des unüberholbaren Romantikers philosophische Perspektive auf das Reisen, auch das touristische

    Klaus Kufeld

    Abstract

    Tourism is an industry like any other and therefore follows the law of the market. The ancient motive was travelling, but today more value is generally placed in ‘holidays’ and not travel as such. Those who still want to travel today have to re-invent the concept and the challenge of discovery. Finding a way out of this ‘tourist dilemma’ will require an understanding of travelling from a philosophical perspective and establishing new ways of using Ethics under the global conditions of today. Here we can build up cultural values found in earlier prototypes of travel dating some 2500 years back in time to Herodotus, then on to Christopher Columbus, Johann Gottfried Seume, and Hermann Graf Keyserling and in modern times to Bruce Chatwin and Ryszard Kapuscinski. All these views sprang from the essential conflict between ‘travel bid’ and ‘travel ban’, which Platon described his utopian travel philosophy. Dealing with the strange and new, in conservation and in a cosmopolitan ethic, entails a codex of values. Now that all the ‘paradises’ of this world have been entered, we must abandon them – in order to protect them. The Earth has become subjected to the rule of man, a dictatorship of the cultural treasures and even nature itself. It may be possible to reconcile travel and tourism, if we can find the Aristotelian Golden Mean: a middle way between curiosity, self-enlightenment and asceticism. Therefore, travelling and remaining can become one.

    Keywords: travel philosophy, future of travelling and tourism

    1 EINLEITUNG

    Wie hat der Tourismus angefangen? Nein, nicht erst vor über zweihundert Jahren. Der Tourismus hat angefangen, seit wir wissen, dass die Erde eine Kugel ist. „Verläßt man auf einer Erdkugel einen Punkt, so heißt das, dass man sich ihm schon wieder nähert! Die Kugel ist monoton." (Segalen 1983, 75)

    Bezogen auf die Geschichte des Reisens bedeutet das, der Mensch macht auf der Strecke zwischen seiner Sesshaftigkeit und seiner eingegrenzten Mobilität die fatale Erfahrung, dass er tendenziell nichts mehr erleben kann und nichts mehr zu erzählen hat. Stimmt diese Vision von Hamilton-Patersen (2007, 16), Mitglied der Royal Geographical Society, ist das Reisen auf einem anthropologisch bedenklichen Weg. Zugespitzt gesagt: der Tourismus, Vorläufer der Globalisierung und Industrie des Reisens, ist das Ende vom Reisen (vgl. Schütze 1995, 58). Die Räume gestaucht, die Zeit pressiert, präsentiert sich die totalmobile Welt um das Unterwegs entleert und dem Interesse der Ankunft geopfert. Die Raum- und Zeitinsel Urlaub (etymologisch: die Erlaubnis fortzugehen), für Paul Theroux (2000b) das Gegenteil vom Reisen, koppelt den Menschen nicht nur von der Arbeitswelt ab, sondern auch von der Erlebenswelt. So bedeutet der Tourismus, der nichts anderes und nichts besser organisiert als die perfekte Ankunft, in the long run den Abschied von seinem Urmotiv – dem Reisen. Und mit ihm verschwinden auch die Konturen der sensiblen Sphären der Entdeckung, der Erfahrung und des Erkennens der Welt mit der Folge, dass die Menschen allein mit ihrer Sehnsucht nach dem Paradies zurückbleiben. Mit der Geburt des Tourismus als der Erfahrung der Monotonie der Erdkugel beginnt eine neue, vollkommen inszenierte und formatierte Reisepolitik. Auf dem Zenit dieser Entwicklung sucht der Mensch fortan das Weite in der Beschleunigung. Derartiger Fortschritt, der dem reiselustigen Menschen tendenziell nichts zu bieten hat und letztlich Marktgesetzen gehorcht, zwingt dazu, die Welt zu konsumieren, immer höher hinaus und weiter weg, immer schneller und luxuriöser, bis wir fast nichts mehr zu tun haben. Um in seinem Finish vor den Ergebnissen kapitalistischer Gewinnmaximierung zu stehen: überlaufene Kulturdenkmäler, Raubbau an der Natur, Eingemeindung fremder Kulturen ins globale Dorf, Reisen verkauft als Geschäft. Entdeckung wird der Routine, Erholung der Erschlaffung geopfert.

    Die World Tourism Organization (UNWTO) hat das im wahrsten Sinne flächendeckende Problem erkannt und den „Global Code of Ethics" entwickelt, aber zu mehr als einer appellativen Fünf-vor-zwölf-Politik kommt es kaum. Mehr denn je wirkt die Eigendynamik des Tourismus, denn dieser gewinnt den Hase-und-Igel-Wettlauf gegen das Reisen schier immer: Das touristische Angebot ist immer schon da und notfalls werden wir – totalentlastet – zum Reiseziel hingetragen und hingesteuert.

    Hier überrascht nun aber die Beobachtung, dass wir ausgerechnet an dem Punkt, wo der Tourismus alle Paradiese erreichbar gemacht hat, wieder etwas vermissen: Das Erleben, das Erzählen, das fremde Neue, eben die Glücksmomente des Reisens. Der neuralgische Verlust schlägt auch beim Tourismus zu Buche: es genügt nicht mehr, aus den Träumen der Menschen Kapital zu schlagen, indem er ihnen ihre Sehnsucht erfindet und dann als Sensation wieder verkauft; es gilt nun, Verantwortung zu übernehmen und dem Reisen seinen Wertegehalt zurückzugeben. Sustainable Tourism, World Heritage und Sentimental Journey sind die Stichworte, wenn es darum geht, die Eigendynamik der touristischen und mobilen Freizeitentwicklung zu durchbrechen. Dafür braucht es einerseits den unaufgeregten Blick für die kalte Wirklichkeit der globalen, total beschleunigten sowie inzwischen auch weitgehend digitalen und durchformatierten und im Übrigen Marktgesetzen gehorchenden Welt. Andererseits braucht es ein sensibles Bewusstsein, sehenden Auges durch die Welt zu gehen, um unsere Genusssucht mit der Verletzlichkeit dieser unserer einen Welt abzugleichen.

    Das will ich in vier Schritten bewältigen:

    In einem ersten Schritt bleibe ich auf dem Boden der Fakten und skizziere im historischen Streifzug, wie der Wirtschaftsfaktor Tourismus das Reisen überholt hat.

    In einem zweiten Schritt befinden wir uns im Transitraum der Widersprüche: wie können wir in der Welt, die sich ausdehnt und gleichzeitig zusammenzieht, überhaupt noch Reisende bleiben? In einem dritten Schritt machen wir den philosophischen Abflug und nehmen den wolkenfreien Himmel der Werte ins Visier. Was ist unser Reisemotiv und wie ist der moderne Prototyp eingestellt? In einem vierten Schritt versuchen wir eine utopische Landung in einer Landschaft, wo das Reisen neu erfunden wird und Reisen und Bleiben eins werden. Dort begreift sich der Reisende als Gast der Welt.

    2 DER REISENDE AUF DEM BODEN

    Machen wir uns nichts vor: Unsere globalisierte Welt folgt dem Diktat der Beschleunigung. Dem Tourismus ist es gleichgültig, ob und warum wir in Urlaub fliegen oder auf Geschäftsreise gehen – und eigentlich ist es uns selbst sogar gleichgültig: „Wir sind eben lieber Touristen als Reisende. Wir gehen weg, um dem Alltag zu entfliehen, aber wir wollen nicht der Reise wegen unterwegs sein und dabei Verzicht üben müssen an dem, was wir bereits kennen und schätzen. Das Ziel ist die Ankunft, und das bitte rasch (Spillmann 2013). Niemand, und auch nicht der vollkommen ethisch aufgestellte Reisende, kann heute ohne den Tourismus auskommen. Selbst der Präsident von „Atmosfair musste einst die Erfahrung machen, dass der Verzicht aufs Flugzeug, um zu einem Klima-Gipfel nach Manila zu gelangen, ihn zwei Wochen Reisezeit und damit Arbeitszeit (wenn nicht gar Lebenszeit) kostete. Der Tourismus lässt auf seinem globalisierenden Siegeszug unweigerlich alle einsteigen – oder er lässt sie zurück. Alle nämlich wollen schnellstmöglich an ihr Ziel und vergessen das Unterwegs.

    Die „touristische Wende, also der Beginn der Serienorganisation des Reisens, ist noch vor 1800 anzusetzen und die Entwicklung des Tourismus ist in zweierlei Hinsicht eine Erfolgsgeschichte: Erstens steht der Tourismus in seiner Entwicklung für die Demokratisierung des Reisens, die auch das Ende der soziokulturellen Isolation und Frauenausgrenzung einläutet (vgl. z.B. Pelz 1993, Stiegler 2010, 41ff.). Zweitens steht der Tourismus für die drittgrößte Wirtschaftsbranche der Welt, denn „weder in der Pharma-Produktion noch in der Chemie- oder Computer-Industrie (werden) so große Umsätze erzielt und so viele Personen beschäftigt wie im Tourismussektor (Hennig 1999, 9), mit steigenden Zahlen. Und das nüchterne Gesetz heißt: Markt und Wachstum. Die UNWTO’s „Tourism 2020 Vision prognostiziert für 2020 fast 1,6 Milliarden internationale Flüge; das bedeutet allein bei 378 Millionen Fernreisen einen CO2-Ausstoß von unglaublichen 1,5 Milliarden Tonnen pro Jahr. Ob Dienstreise oder Urlaubsreise, in allen Bereichen außerhalb der „Kfz-Reichweiten haben sich die Krakenfänge des (Flug-)Tourismus bereits festgesaugt und bestimmen Art und Preis des globalen Verkehrs. Der Zukunftsfaktor Tourismus ist die unaufhaltsame, praktische Globalisierung. Damit hat der Tourismus alle Trümpfe der mobilen Welt in der Hand, auch weil er sich immer wieder neu erfindet, vom gepflegten Agriturismo bis hin zum Ein-Euro-Fliegen. So ist aus der Kutsche der Jet, aus der Demokratisierung die Pauschalierung hervorgegangen, und der Slogan „Now everyone can fly!" (Air Asia) klingt wie das perfekte touristische Rezept.

    Um angesichts des Trends auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, halte ich es auch heute noch gerne mit Hans Magnus Enzensbergers Theorie des Tourismus (1958 verfasst). Diese klarsichtigste Wesensbestimmung der touristischen Entwicklung nimmt den Wirtschaftsfaktor Tourismus nicht einseitig aufs Korn, sondern als notwendig und gegeben hin. „Der Fortschritt des Tourismus (…) lässt sich an drei Errungenschaften darstellen, deren jede für die Entwicklung einer Industrie großen Stils unentbehrlich ist: Normung, Montage, Serienfertigung." (Enzensberger 1971, 196)

    Damit vollzieht sich zunächst eine „Revolution der bürgerlichen Erkundung der Welt, die tendenziell nahezu alle Bedürfnisse nach Mobilität befriedigen kann. Das Reisen als soziales Privileg der Bildungsbürger entwickelte sich sodann mit seinen Pionieren Murray (Red Book), Thomas Cook und Baedeker hin zu einer Emanzipationsbewegung (zum Beispiel im Recht auf Urlaub), aber auch zu einer mit pauschalierenden Vorzeichen (Reisen für alle). Für Burghart Schmidt ist der „Kategorische Voluntativ hervorgebracht, „ein besichtigendes Nachhecheln dem, was einem die Reiseführer versprechen" (Schmidt 2014, 12). Trotz dieser Eskalation der Mobilität (und Reisefreiheit) gäbe es allerdings keinen Grund, so Enzensberger, den Tourismus historisch zu isolieren (ebd., 185) und so zu tun, als wäre er eine Fehlentwicklung, weil die Menschen seit je reisen und immer auch bedient werden wollen. Wichtiger sei anzuerkennen, dass aus einem exklusiven Privileg eine inklusive Bewegung werden konnte. Mit anderen Worten: Die genormte und serielle Ausbreitung des Reisens im Tourismus ist im Grunde nichts anderes als die zum Industrieformat raffinierte Weltneugier des Menschen.

    Das faustische Fahrtmotiv, „tätig weites Erfahrenwollen übers Bekannte und Gewesene hinaus" (Bloch 1970, 64), ist sozusagen der Garant, denn es siegt über das Zuhause-Bleiben immer, zumindest statistisch. Die Konsequenz Enzensbergers gilt nicht pauschal dem Tourismus, sondern dem pauschalen Kritiker am Tourismus und letztlich der Diskrepanz zwischen Genuss und Selbstbetrug, zwischen Normung und Freiheit (vgl. ebd., 185; Kufeld 2010, 101). Das ist schon ziemlich philosophisch gedacht.

    3 DER REISENDE IM TRANSIT

    Mit diesen Einsichten befinden wir uns im Transit zwischen den Welten und beginnen aber gleichzeitig zu zweifeln. Wir wollen etwas erleben und wollen schnell weg, aber wir spüren eine Grenze, die uns nicht sorglos abheben lässt. Denn die Endlosspirale der Wachstumsraten und der Beschleunigung trifft auf ein gewaltiges Veto der aufgeklärten Welt: Die Natur rebelliert, die fremden Kulturen rebellieren, die Stresshormone rebellieren – und alle gebieten sie Einhalt, aber alle machen weiter. Der Tourismus ist Realität, ebenso der „rasende Stillstand" (Rosa 2013). Und es steht nichts weniger auf dem Spiel als das Reisen. Ob wir nun in Angkor in Kambodscha, im Vallée de Mai auf den Seychellen oder in Machu Picchu in Peru sind, allzu viele waren irgendwie sichtbar schon einmal da. Trampelpfade, Müllberge, übervölkerte Küsten: das sind die Spuren der Besichtigungs-, Besteigungs- und Bevölkerungstouristen, einst mit ihrer Sehnsucht nach dem Neuen im Gepäck, heute desensibilisiert in Sachen Weltkultur, Völkerstolz und Naturwürde.

    Der „Homo Everestus Touristus, der heute mit einem katastrophalen Müllverhalten in Verbindung gebracht wird, ist nur ein Beispiel dafür (vgl. Posch 2014). Eigentlich ist die Massengenusssucht eine Massenerlahmung, denn weder im Großen noch im Kleinen gibt es ein wirkliches Bewusstsein einer Täterschaft. Wo keine Tat, da kein Bewusstsein, frei nach Marx gedacht. Die „kleinen Täter, die wir einzeln alle sind, wenn wir nicht „grün reisen oder gar daheim bleiben, schieben die Schuld auf die „großen Täter, die von Weltklimakonferenz zu Weltklimakonferenz hetzen. Die „großen Täter reagieren mit Verbotspolitik, die nur die „kleinen Täter treffen und im Großen verpuffen. Immerhin beruhigen wir unser Gewissen, wenn wir uns Ethik-Codes ausdenken und – nostalgisch gesagt – „empfindsam reisen (vgl. Sterne 1972), aber vielleicht schon dann nicht mehr, wenn wir uns von George Monbiot, Journalist der Londoner Tageszeitung „The Guardian, durchschaut fühlen, der da sagte: „Wenn wir verhindern wollen, dass der Planet weiterkocht, müssen wir ganz einfach darauf verzichten, so schnell zu reisen, wie dies Flugzeuge erlauben. Die moralische Dissonanz ist ohrenbetäubend." Wir begreifen sofort, um was es geht, und doch: Begreifen wir überhaupt, dass es um das Überleben des Planeten geht? Muss der Tourismus auf die Hebebühne der Verkehrstauglichkeit? Und wie viel Mitschuld haben seine Nutzer?

    Von derlei Zweifeln geplagt rumort unser Gewissen. Wo die ungleichzeitigen Welten kollidieren und unsere Sinne überfordern, leiden wir nämlich schon unter dem Jetlag der Epoche. Mit dem Sinnbild des dauernden Unterwegs von Transitraum zu Transitraum wird für Durs Grünbein das „Reisen ein Vorgeschmack auf die Hölle, wo „dem Körper Zeit gestohlen ist, den Augen Ruhe. Das genaue Wort verliert seinen Ort (Grünbein 2009, 7). Derlei Gedanken schwirren dem Reisenden durch den Kopf und genau dagegen will er wirken, nämlich das Horrorszenario, den Zustand unaufhörlicher emotionaler Stressbildung zu überwinden. Im Transitraum kämpfen wir an zwei Fronten. Die eine Front ist die besagte sich ausbreitende Lethargie in der entdeckten Welt, wo wir uns in einen Hedonismus hineinsteigern, um einmal Ruhe zu haben und Muße zu tun. Wir nennen das Urlaub. Die andere Front ist der eigentlich nicht mehr zu ignorierende Zielkonflikt zwischen Tourismus und Reisen und berührt die Frage nach dem objektiven Zustand unserer Erde und unsere (Mit-)Verantwortung darin. Der Stress, unser „touristisches Dilemma" (Kufeld 2010, 97 ff.) dabei ist, dass wir als Nutzer und zugleich Kritiker gefangen und befangen sind.

    Andererseits ist der Transit nicht nur Wartehalle und Stau, sondern auch Übergang und Chance, also durchaus die Suche nach der rechten Balance zwischen Verbot und Gebot. Manches Internet-Reisebüro wie lastminute.de bittet bei der Flugbuchung um freiwillige Entrichtung eines Umweltobulus (in diesem Fall an atmosfair.de), um mit dem Geld zum Ausgleich für den CO2-Ausstoß kompensatorisch Reyclingprojekte zu unterstützen. Atmosfair rechnet vor, dass man mit einer einzigen Flugreise in die Karibik mit einem CO2-Ausstoß von 4000kg bereits deutlich über dem klimaverträglichen Jahresbudget eines Menschen von 3000kg CO2 liege. Mit dem Obulus würde zwar nicht das Fliegen legitimiert und der entstandene Umweltschaden nicht ungeschehen gemacht, aber eine solche Abgabe sei ein Reparaturversuch und besser, als die Folgen zu ignorieren. Das klingt salomonisch, denn es ist gut fürs Gewissen, tut etwas für die Umwelt, aber die Atmosphäre wird nicht minder geschädigt. Mit jedem Flugticket tut sich eine neue, bisher nicht dem Tourismus verantwortete Rechnung auf. Den wahren Preis zahlen nicht die Fluggesellschaften, sondern – per Kostenumlage – wir Fluggäste und wir als Gesellschaft. Diese muss mit der geschädigten Umwelt und im Übrigen auch mit den sozialen Folgen, die aus der Kluft zwischen Arm und Reich resultieren, fertig werden. Mit Appellen ist es nicht getan, das wissen wir seit Kyoto, Rio und Warschau bestens. Wahrscheinlicher ist eine weitere globale Panikreaktion: Die Prognosen der UNWTO oder der BAT-Umfrageforschung zeigen uns – statistisch – schon heute den absoluten Overdrive. Außerdem ist es fraglich, ob die Prognosen hinreichend sind, denn sind allein die Tourismuspotenziale Chinas oder Indiens realistisch hochzurechnen? Sicher ist, dass die Chinesen ein äußerst reisefreudiges Volk sind (die Japaner lassen grüßen!), die sich zu Hunderten von Millionen vor den Toren der Welt drängeln und auf den Startschuss der wirklichen Öffnung Chinas warten, dem sich die Globalmacht nicht mehr lange wird verschließen können. Der Biergarten am Chinesischen Turm im Münchner Englischen Garten könnte sich allmählich für den Ansturm seiner originären Kundschaft rüsten. Das Ferne wird so nah rücken, dass das Wort des Jahrhunderts einmal heißen könnte: Globale Klaustrophobie. Genau hier, wo die Welt sich ausdehnt und sich gleichzeitig zusammen zieht (Theroux 2000a), stoßen wir an Grenzen und es stellen sich Wertefragen und sogar existentielle Fragen. Denn: Sind diese hemmungslosen, menschlichen Bedürfnissen folgenden Genussmaximierungen auch gut? Wie steht es mit dem kulturellen Respekt, der Umweltverantwortung und dem globalen Konsens? Und hier, spätestens hier befinden wir uns mitten im Terrain der Philosophie. Auf diesem Gebiet wollen wir aufrichtig und unbestechlich sein und wollen uns nicht mehr herausreden: „Alle reisen, doch niemand möchte Tourist sein. Touristen, das sind die anderen." (Hennig 1999, 13)

    4 DER REISENDE BEIM ABFLUG

    Paradiese zu verlassen setzt voraus sie betreten zu haben (vgl. Kufeld 2005). Die Frage ist, ob es mit Columbus, Cook, gar Humboldt einen Sündenfall gab, ein Vergehen an ihnen. Mit anderen Worten: Ist das eingelöste Flugticket der verbotene Apfel und die auferlegte Schuld? Es könnte ja immerhin sein, dass wir das Paradies naiv für einen Urlaubsort – die Heterotrophie schlechthin (Foucault 2005) – gehalten haben, dessen wir uns bedienten und uns an ihm bereicherten zum eigenen Genuss, achtlos und ohne die Demut, ohne die kein Paradies ein Paradies bleiben kann. Paradiesische Orte mit dieser Verwechslungsgefahr sind die Alpen, ist der Himalaya, ist der – so genannte – Traumstrand, ist das Natur-Idyll an einem einsamen See; Orte also, die unsere Erwartungen an die Natur und Neugier auf fremde Kulturen befriedigen, ohne an die Verletzungsgefahr zu denken. Diese Arglosigkeit – der Mensch ohne Kopf – entschuldigt uns aber nicht. Im Gegenteil, was hier vonnöten wäre, ist Achtsamkeit – der Mensch mit Kopf.

    4.1 Motive

    Die englische Sprache kompromittiert – unfreiwillig – diesen immanenten Konflikt, der das „touristische Dilemma zum Ausdruck bringt: ein Land bereisen heißt, „to cover a country, und es zu entdecken „discover. Im selben Augenblick, da ich ein Land entdecke, bedecke ich es, mit meinen Bedürfnissen – aber lasse ich ihm dann, als Eindringling, als Fremder, auch seine Eigenheit, seinen Charme, seinen Stolz? Allein schon dieses Paradox, Entdecker und Bedecker zugleich zu sein, wirft in einem philosophischen Sinn die Frage nach dem normativen Reisemotiv auf. Ein philosophisches Reisemotiv allerdings bleibt nicht am subjektiven, gar egoistischen Motiv haften, sondern es klärt das Interesse – und bezieht den Anderen ausdrücklich mit ein. Die praktisch-philosophische Ambivalenz zwischen Eigen- und dem Fremdinteresse formuliert immerhin schon Platon, als er zwischen Reisegebot und Reiseverbot unterscheidet und damit die ganze dialektische Spannung im Thema aufmacht (vgl. Schmidt 1997). Platon bringt eine Fürsprache im „Siebten Brief zum Ausdruck, die sich als „Reisegebot lesen lässt. „(…) trotz allen Schwankens, ob ich die Reise antreten und dem Rufe folgen sollte oder wie, siegte doch die Überzeugung von der Notwendigkeit der Sache. (…) Erfüllt von solchen Gedanken segelte ich in gutem Vertrauen von der Heimat ab (…). Vor allen bestimmte mich dabei die Achtung vor mir selbst: ich wollte vor mir selbst nicht so schlechthin als ein bloßer Vertreter der Theorie erscheinen, der sich aus freien Stücken niemals an die Tat heranwage; sodann wollte ich den Verdacht vermeiden, zum Verräter zu werden an der Gastfreundschaft (Platon 1993, Siebter Brief, 51). Zum „Reiseverbot heißt es im „Elften Brief: „(…) bin ich auch körperlich infolge meines Alters nicht imstande in der Welt herumzureisen und mich den möglichen Gefahren zu Wasser und zu Lande auszusetzen, zumal jetzt für Reisende alles voll von Gefahren ist (Platon 1993, Elfter Brief, 100). Mit Platon manifestiert sich erstmals ein fundamentalphilosophisches Interesse am Reisemotiv. Einerseits als dem „Absegeln von der Heimat und der Hinwendung zur Welt, um sich von „bloßer Theorie abzuheben und sich der Welt in eigener Anschauung zu vergewissern. Andererseits als dem Vorstellen von Gefahren und Risiken, für den Reisenden selbst wie für die Welt. Pascal hat später diesen Konflikt am radikalsten zugespitzt, nämlich zu reisen oder daheim zu bleiben, weil „das ganze Unglück der Menschen aus einem einzigen Umstand herrühre, nämlich, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können (Pascal 1988, 69).

    Die Frage nach dem Reiseinteresse zu stellen bedeutet demnach, sein Motiv normativ zu klären. Am Motiv bemisst sich schließlich der Ertrag: bleiben wir, wie wir sind (wie im Urlaub), oder lassen wir uns belehren (wie beim Reisen). An dieser Stelle ahnen wir, dass es ein Aktivum der Reise ebenso gibt wie ein Passivum der Reise (vgl. Kufeld 2010, 221): Der Reisende macht die Reise in der bewussten Erfahrung der Welt im buchstäblichen Sinn, die Reise macht aber auch ihn – und manchmal sogar kaputt (vgl. Bouvier 2001, 8).

    4.2 Der ideale Reisende

    Die Frage ist, wie ich souverän und Herr der Sache bleibe. Als Tourist bin ich das nämlich längst nicht mehr, weil Normung, Montage und Serienfertigung mich total abhängig gemacht haben. Wir finden hier in der Geschichte des Reisens eine Reihe prototypischer Dispositionen auf die Welt zuzugehen, um von der Erfahrung an ihr nicht vereinnahmt zu werden. Für das Reisemotiv charakteristische ethische Haltungen finden sich – sogar losgelöst vom zeitgeschichtlichen Kontext – in den unterschiedlichsten Prototypen seit 2000 Jahren, von Herodot über Columbus bis Chatwin. Ich greife hier exemplarisch einige wenige heraus und beschränke mich mit Seumes „Selbstaufklärung, Keyserlings „Empathie und Chatwins „Zivilisationskritik auf die klassisch-modernen Prototypen, weil wir an ihrem Beispiel auch schon die Kontrastierung zum Tourismus mitdenken können (vgl. Kufeld 2010, 46 ff. und 173). Bei Johann Gottfried Seume gibt es den zentralen Begriff des kosmischen Sehens. Er sagt: „Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr als wer fährt. (Seume 2001, 8)

    Seume grenzt sich schon von Goethes Kutsche ab, weil erst das Gehen (Seume nannte es „Fußwandeln), die unmittelbare Nähe des ihn unmittelbar umgebenden Kosmos ihn zum Menschen macht: „Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. (Ebd., 10)

    Im Spazierengehen – in seinem Fall von Leipzig bis Syrakus – hat er sich als Mensch noch selbst fest in der Hand. Dieser Typus des Reisenden ist ein Seher und ein im weitesten Sinne politischer, souveräner, unabhängiger und sich selbst aufklärender Mensch.

    Einen zweiten Prototyp finden wir in Graf Hermann Keyserling mit seinem Credo der Empathie. Keyserling, der vielleicht erste wirkliche Reisephilosoph, sah sich als eine Art „Ich-Forscher, der zur Erkenntnis aber erst gelangt, wenn er sich in die Koordinaten der Welt zu verorten vermag. Von ihm lernen wir, dass der Umweg der wahre Weg ist im doppelten Sinne: Weg als Wagenspur und Weg als Art und Weise (vgl. Schütze 1995, 195). Ganz im Sinne komparativer Sichtweisen „erweist eine Europäerseele sich am dienlichsten zur äußeren Gestaltung des Lebens, eine indische zur Realisierung in der psychischen Sphäre, eine chinesische zur Konkretisierung der Idee, eine japanische zum ästhetischen Naturverständnis (Keyserling 1932, 745). Keyserling war in der Tat einer der ersten Reisenden, die östliches Denken in empirischer Tiefe in das europäische Denken eingebracht haben (ebd., 388, vgl. auch Kufeld 2010, 63). Keyserling übt das, was Rilke später „völlige Eingelassenheit" nennt (vgl. Rilke 1966, 522 ff.).

    Schließlich ist da Bruce Chatwin, dessen Reiseprosa einen zutiefst zivilisationskritischen Hintergrund hat, mal in literarischer Reiseprosa wie den Traumpfaden (Chatwin 2006; Chatwin & Theroux, 2004), mal im sozialkritischen Essay. Chatwins Antrieb ist die Spurensuche, um gerade in den entferntesten Weltgegenden (und aus deren Perspektive) große Werteverluste der modernen Zivilisation zu konstatieren, wo „die Welt ein globales Dorf geworden sei (Chatwin 1998, 109), wo „ein großer Teil der Weltbevölkerung mehr denn je unterwegs ist: Touristen, Geschäftsleute, Wanderarbeiter, Aussteiger, politische Aktivisten usw. (…). Doch dieser neue Internationalismus hat einen neuen Lokalpatriotismus hervorgebracht. Separatismus greift um sich (ebd., 110). Chatwin thematisiert die „Sehnsucht zivilisierter Menschen nach einem einfachen Leben, das mit dem Leben von Nomaden und anderen ‚primitiven‘ Völkern gleichgesetzt wird (ebd., 105). Er plant ein Buch mit dem Titel „Heimweg nach dem Paradies, das er nie schreibt.

    5 DER REISENDE BEI DER LANDUNG

    Nun, voller kritischer Gedanken und guter Vorsätze, die uns die Urgroßväter der Touristen mit auf den Weg gaben, setzen wir zur Landung an und bereiten uns philosophisch darauf vor. Kann es den Aufgeklärten gelingen, das Reisen neu zu erfinden? Vielleicht heißt das ja, dass wir das Bleiben lernen müssen? Wir wollen genießen (was ja verweilen, bleiben heißt), gleichzeitig wollen wir Neues erfahren (was ja fortschreiten, verändern heißt). Wir sind uns aber auch der Gefahren bewusst. Wir fragen uns, wie wir das Platonsche Reiseverbot und Reisegebot austarieren können, um dem Transit des Zweifels endlich eine moralisch verträgliche Richtung zu geben. Ein Dilemma im Gepäck zu haben, bedeutet noch lange nicht, sich etwas verbieten zu lassen oder gar sich selbst etwas zu verbieten. Der Philosoph denkt grundsätzlich nicht in Verboten, denn seine Ethik ist eine Gebotskultur, die bei aller Gelassenheit schon auch eine Zumutung sein darf. Umso mehr denkt der Philosoph gerne an das Golden-Mittige, wenn es gilt, Extreme auszutarieren. Schon Aristoteles‘ Tugendbegriff steuert eine „Mitte zwischen den beiden falschen Weisen, die durch Übermaß und Unzulänglichkeit charakterisiert sind", an (Aristoteles 1969).

    In der heutigen Sprache der Ethik – und mit Georg Simmels Worten – entspricht die „Mitte dem „griechischen Ideal der Sophrosyne, der schönen Selbstbeschränkung, jenes inneren Maßhaltens, das gleichmäßig vom Zuviel und vom Zuwenig absteht (Simmel 1989, 91). In diesem Sinne könnten wir auch sagen, der (Pauschal-) Tourismus ist das „übertrieben Gute, der Überfluss, die Maßlosigkeit vielleicht, die eher hedonistischen und ökonomischen als Gesetzen „sittlichen Handelns folgt. „Mitte meint aber nicht einfach einen „Ort zwischen „aktivem Reisen und „kreativer Muße, auch nicht schon das „gute Reisen selbst. Mitte ist sozusagen der „philosophische Ort des Anzustrebenden, was wir mit ethischen Handlungen zu füllen und dem wir „sittlichen Geist erst noch einzuhauchen haben. Erholung wird nicht als „Endziel, quasi als Erfüllung, begriffen, „denn man gönnt sie sich um der Tätigkeit willen" (Aristoteles 1969, 287). Die ethische Maxime könnte dann lauten: Nimm an der Welt teil und lass es dir dabei gut gehen, achte aber darauf, dass du auch zu ihrem und nicht nur deinem Nutzen beiträgst. So ringen wir heute auch um die Ermöglichung globaler Kommunikation ebenso sehr wie um den Stolz der Kulturen, um den Naturgenuss ebenso sehr wie um die Würde der Natur.

    An allem ist der Tourismus mit seinem Angebot für Entdeckungen ebenso sehr beteiligt wie bei seinen Flügen und Luxusresorts. Heute ist die Welt total entdeckt und wir können alles wissen. Wir wissen sogar, dass es bald ungemütlich werden könnte auf dem Planeten, wenn wir nichts tun. Die Natur hat längst begonnen zu rebellieren und erschüttert katalytisch unser Bewusstsein (vgl. Luger & Wöhler 2008; Luger 2014; Pfaller & Kufeld 2014). Überließen wir unser „Reiseschicksal allein dem Marktmechanismus des Tourismus, wird aus dem Zusammenrücken ein Zwang, denn es wird enger – auch für die Privilegien. Andererseits gibt es auch ein wachsendes Naturbewusstsein, ja vielleicht sogar eine neue Demut. Denn immerhin konstatieren wir auch die kompensatorischen und verlangsamenden Gegenbewegungen, wie sie beispielsweise in den remythisierten Formen des Reisens wie dem „Urlaub auf dem Bauernhof, dem „Agriturismo in Italien, der Bäder- und Spa-Kultur, dem „peregrinischen Kult-Pilgern (nach Santiago de Compostela, nach Machu Picchu oder sonst wohin) und generell dem so genannten „Nah-Reisen" zum Ausdruck kommen. (Vgl. Kufeld 2010, 175 ff.; Stiegler 2010)

    Diese Trends, die mit einem Bewusstsein der Nachhaltigkeit einhergehen, sind zweifellos die Chance für den Tourismus. Hier ist das Terrain, wo das Reisen wieder neu zu erfinden ist.

    5.1 Gast der Welt

    Je mehr wir uns von der Beschleunigung der Welt mental distanzieren, desto größer die Chance für eine Reiseethik, die die Utopie nicht aus den Augen verliert und erkennt, dass „Bleiben und Reisen eins sind (Groys 2002). Der Gedanke nämlich, an einem bereisten Ort auch bleiben zu können, lässt mich den Ort mit größerer Achtsamkeit behandeln, so als würde ich ihn gar nicht wieder verlassen. Das bezieht sich auf meinen respektvollen Zugang ebenso wie auf meine hinterlassene Zahnpasta-Tube, also auf die Frage, sich auf den Ort einzulassen, anstatt ihn zu konsumieren. Ich will dies mit einer Metapher zeigen, die in nahezu jeder Reise wirksam wird und die zwischen der Entfremdung von und der Annäherung an die Welt vermitteln kann: es die Metapher des Gasts. Mit Bloch wissen wir, dass in der Fremde nicht der Fremde der Fremde ist, sondern dass ich selbst der Exot bin (vgl. Bloch 1959, 434). Die Frage der Perspektiven, wie wir auf das Fremde zugehen, ist eine Gratwanderung zwischen Verstehen und Missverstehen. Im Lateinischen bedeuten sowohl hospes als auch hostis „Fremder, Ausländer. Interessant nun, dass sich hospes zur Bedeutung „Gast, Gastgeber entwickelt (hospitality), während hostis zum „Feind wird (hostility). Freundschaft und Feindschaft haben also eine gemeinsame Sprachwurzel. „Es sieht also danach aus, als sei der Fremde ein potentieller Feind." (Waldenfels 2006, 12)

    Das grundsätzliche Gastsein des Reisenden bedeutet demnach, auf einer Schwelle zu sein und weder völlig drinnen, noch völlig draußen. Er ist eine Art Zwischenwelt-mensch. Die Ambiguität wird zur normativen Herausforderung, da beide Seiten gefragt sind, was zu tun ist. Keiner von beiden kann nur „bei sich bleiben, wenn er am Gast- bzw. Gastgeberstatus nicht exklusiv festhalten will (vgl. Kufeld 2010, 125). Der Reisende bleibt „radikal fremd (Waldenfels 2006, 7), wenn er nicht versucht, sich nicht nur vorübergehend, sondern grundsätzlich, tendenziell dauerhaft, mit dem Fremden zu arrangieren und sich entsprechend mental einzustellen.

    Georg Simmel bietet in diesem Spannungsbogen hier einen auch für eine Reiseethik relevanten Handlungsansatz an. In seinem „Exkurs über den Fremden (Simmel 1992) vermittelt er im normativen Konflikt zwischen (Gast-)Freundschaft und Feindschaft. Er „entschärft den Konflikt dahingehend, dass er Fremdsein einerseits und als Gast einer Gruppe zuzugehören andererseits nicht trennt. Simmel definiert den Fremden nicht als „Wandernden, der heute kommt und morgen geht, sondern als den, der heute kommt und morgen bleibt (ebd., 764). Der Status der „Zugehörigkeit in der Nichtzugehörigkeit ergibt sich für Simmel aus der „Einheit von Nähe und Entferntheit (…): die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, dass der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, dass der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform." (Ebd., 765)

    Damit wissen wir schon genauer, was es mit dem Fremden- bzw. Gaststatus auf sich hat. Wichtig ist, dass wir uns des grundsätzlichen Konflikts, also des Gefahrenpotenzials, bewusst sind und sozusagen eine „Meta-Gast-Rolle einnehmen. Aus dieser Warte treten Gastgeber und Gast in ein offenes Kommunikationsverhältnis, in dem sich die Gast- bzw. Gastgeberrolle etabliert oder in dem Feindschaft dominiert. Der Simmel’sche „Fremden-Begriff schlägt die Brücke zwischen Toleranz (Goethe: „Dulden heißt beleidigen) und Anerkennung und ermöglicht eine objektivierte soziologische bzw. moralische Gemengelage. Eben diese Objektivität bedeutet für Simmel Freiheit (vgl. ebd., 767), das heißt eine „Exaggerierung der spezifischen Rolle des Fremden, in der er „der Freiere ist, praktisch und theoretisch, er übersieht die Verhältnisse vorurteilsloser, misst sie an allgemeineren, objektiveren Idealen (…) (ebd.). Der freie Gast nimmt keinen festen „Standpunkt (Jaspers) ein, lässt kulturarrogantes Denken gar nicht aufkommen. Erst diese Offenheit kann ein kosmopolitisches Ethos begründen. Legen wir an dieser Stelle – wie zur Probe – die Folie Tourismus auf die fremde Kultur beziehungsweise Landschaft. Wir machen dann die interessante Beobachtung, dass der geschäftstüchtige Tourismus bereits in die Rolle des Gastgebers geschlüpft ist, bevor der Fremdenstatus geklärt ist, wenn er nämlich via Angebot (Flug, Urlaubsresort) eigenmächtig seine Rolle im fremden Land besetzt beziehungsweise getauscht hat. Entsprechend „verdrehen Touristen das Gastrecht. Sie behandeln die Welt als eine, die ihnen selbstverständlich zu Diensten ist" (Schütze 1995, 61).

    Die Vollkasko-Mentalität „genießt" das All-Inclusive-Angebot. Damit wären Primärfakten geschaffen, die den Wertekonflikt zum Nebenkriegsschauplatz machen. Erst das Geschäft, dann die Werte. Und eben diese Folie können wir mühelos auf die Landkarte Natur legen. Auch unser Bezug zur Natur, die schließlich unser Tourismusbzw. Reiseumfeld ist, ist von unserem Fremden- bzw. Gaststatus her zu denken. Auch hier kommunizieren wir, sensibilisieren wir uns und haben Widersprüche zu lösen im Kontext der Interessen (vgl. Kufeld, Luger 2014).

    Konrad Ott fordert gerade vor dem Hintergrund der weltweit voranschreitenden Politik der Nachhaltigkeit einen Gestaltwandel, der für den Tourismus sogar unter wirtschaftlichen Prämissen von Interesse sein könnte. Ott meint, dass „der Tourismus an einem gedeihlichen Miteinander mit den Nationalparken ein stärkeres Interesse haben wird als an Dauerkonflikten. Der Tourismus sollte jenseits des „Win-win-Geschwafels einsehen, dass er von einem kollektiven Schutzgut profitiert, dem ein hoher Rang zukommt und das aus Steuergeldern unterhalten beziehungsweise verwaltet wird. Der Tourismus wäre zu verpflichten, in der Umgebung von Nationalparken und wohl auch von Biosphärenreservaten einen Gestaltwandel hin zu einem Naturtourismus vorzunehmen, anstatt die Denkschablonen des Massentourismus auf geschützte Landschaften zu übertragen. Ein partnerschaftliches Verhältnis zum Naturschutz setzt einen Gestaltwandel des Tourismus voraus – nicht umgekehrt! (Ott 2014, 59 f.)

    4.2 Parthenogenesis

    Nun sind wir längst utopisch gelandet. Der Tourismus hat uns das vorbereitete Ziel versprochen, die Reisephilosophie sagt uns dagegen, dass die Tilgung des Unterwegsseins zum Ende des Reisens führt. Urlaub ist Ankunft, Reise ist der unendliche Neustart. Der Homo ethicus weiß, dass er sich sein Glück zu erarbeiten hat, um dabei – wie Sisyphos – ein glücklicher Mensch zu sein. Mit ihm wird der Tugendbegriff einer zeitgemäßen, globalen, dauerhaften Prüfung unterzogen, die Balance zwischen der „Erfahrung der Welt" (Nicolas Bouvier) und der Sophrosyne, der Selbstbeschränkung, zu finden. Erst jetzt, im Tugend Stand der tätigen Selbstaufklärung, hat der Reisende auch wieder zu erzählen.

    Wir müssen nun aber nicht alle zu Mönchen und Nonnen werden, wenn wir Verzicht üben und doch unsere Kreise ziehen. Bleiben heißt nicht Reiseverzicht. Denn Bleiben kann ja schon heißen bescheidener zu werden, nicht alles zu erwarten, sich überraschen zu lassen, sich einzulassen statt sich auszulassen, „sesshafte Reiselust (Cristoff 2011) zu üben statt zu übersehen. Reisen muss nicht abheben um jeden Preis. Fassen wir das epikureische Genießen nicht als allverfügbaren und damit missverstandenen Luxus auf, bedeutet es bewusstes Leben, Gebrauch der Sinne, Rücksicht auf Natur, Zurücknahme des Ichs. Und was für das Subjekt gelten kann, soll auch für das System gelten. Da wir alle auf dieser einen Welt Gast sind und die Weltbevölkerung in hundert Jahren komplett ausgetauscht sein wird, müssen wir lernen, an morgen zu denken, das Ganze so zu teilen, dass Wildnis Wildnis bleibt und dass wir nicht alles haben können. Ein nachhaltiger Tourismus kann hier schützen helfen, was zu schützen ist, indem er sein Geschäft mit der Zumutbarkeit für fremde Völker und für die Natur abgleicht. Das Beispiel Galapagos zeigt wie das geht: „Der Tourismus schützt Galapagos, weil Galapagos den Tourismus fördert, der die Naturschutzpolitik ökonomisch rechtfertigt. Ohne Tourismus kein Naturschutz, ohne den es keinen Tourismus gäbe. (Schütze 1995, 160)

    So resultierte aus einer ungebremsten Genusspolitik einerseits und einer Verbots- oder gar Tabupolitik andererseits eine Gebotskultur der Absprachen zwischen Ökonomie, Wissenschaft und Politik. Die Instrumente, seien es UNESCO oder UNWTO, sind ja immerhin schon da und warten auf Anwendung. Als überholbarer Romantiker gebe ich hier und nicht zuletzt ein kleines paradigmatisches Naturerlebnis zum Besten, wie ein philosophisch innehaltendes Leben zur Gewinn bringenden Sensation werden kann, zum Beispiel, wenn wir uns ganz einfach auf die Lehrerin Natur einlassen:

    Auf der kleinen Seychellen-Insel „La Digue gibt es einen nur dort lebenden kleinen Vogel, den „Paradies-Fliegenschnäpper. Es gleicht einer Sensation den Vogel zu Gesicht zu bekommen. Jedoch hatte ich eine Vorstellung ihn aufzuspüren. So bin ich per Fahrrad in das Naturschutzgebiet „Vev Reserve gefahren und platzierte mich direkt „irgendwo am Ufer eines kleinen Tümpels. Es genügte, sich nur fünf Minuten mäuschenstill zu verhalten und völlig regungslos dem Kommenden entgegen zu warten. Die Geduld wurde mit einem zunächst unverhofften kleinen Wunder belohnt: plötzlich fing alles um mich herum an sich zu regen; zuerst ein paar wenige, dann immer mehr und schließlich Hunderte von feuerroten kleinen Krebsen schlüpften aus ihren Löchern, die sie in den Ufersand gegraben hatten, und lugten mit ihren Stielaugen neugierig in die Luft. Die Krabben, sonst extrem scheu, fühlten sich in der vertrauten, weil regungslosen Szenerie sicher und krabbelten seitwärts sogar etwas von ihren Löchern weg. Eine derartige Naturszene kann man erleben, ja herbeiführen schon mit ein paar wenigen Minuten völligem Einswerden mit der Natur: eine Art Meditation und poetische Andacht. Am gegenüberliegenden Ufer flogen kleine Schwalben und der eine oder andere Reiher aufgeregt hin und her und fühlten sich wie das rote Krebsvolk ungestört. Eine Ahnung sagte mir, dass nun der Augenblick reif sein sollte, um den Paradiesfliegenschnäpper zu sichten. Und es kam so: zuerst sah ich lediglich ein längliches schwarzes Etwas durch die Büsche schwirren, bis dieses Etwas sich auf einen Baum setzte. Die Sensation war perfekt: es war der gesuchte kleine Vogel. Er war deutlich zu erkennen an seinem Gefieder mit einem feinen schwarzblauen Glanz und an seinem auffälligen Schwanz mit seinen langen, eleganten Federn, die für perfekte Flugbalance sorgen. Als stiller, scheinbar gar nicht anwesender Beobachter hatte ich das intensive Erlebnis der Berührung einer Idylle, von unverfälschter, harmonischer Natur. Derartige Teilnahme ist das Ergebnis äußerster Geduld und Konzentration und völliger Zurücknahme der Person. Die Natur hat, nimmt man so intensiv an ihr teil, etwas Unberührbares – O wunderbares Land! (Vgl. Kufeld 2007, 32)

    Dass die Natur, nimmt man intensiv an ihr teil, etwas Unberührbares habe, heißt, dass das Utopische als das scheinbar Unmögliche gelungen ist, nämlich das betretene Paradies zugleich verlassen zu haben: Die Krebse und der Vogel haben mich nicht wahrgenommen; ich war da – für mich, aber ich war zugleich nicht da – für sie. Das gleiche Bild können wir bemühen, wenn wir uns auf Galapagos, am Titicacasee befinden und wenn wir den Everest besteigen. Wir können es so tun, als seien wir nicht da gewesen. Wir tun es, um der Erdkugel ihre Monotonie zu nehmen.

    Literatur

    Aristoteles (1969). Nikomachische Ethik. Übersetzung und Nachwort: Franz Dirlmeier. Stuttgart.

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    UN-WTO. Tourism 2020 Vision. Verfügbar unter http://unwto.org/facts/eng/vision.htm

    Über den Autor

    Klaus Kufeld (Dr. phil.) Studium der Sozialwissenschaften und Politologie in München und Regensburg; Gründungsdirektor des Ernst-Bloch-Zentrums Ludwigshafen am Rhein, Geschäftsführer der Bloch-Stiftung; Tätigkeiten als Bildungsberater, Kulturberater und Kulturmanager; Lehraufträge an verschiedenen Universitäten. Veröffentlichungen zum Reisen: Die Reise als Utopie. Ethische und politische Aspekte des Reisemotivs, Wilhelm Fink Verlag, München 2010; Reisen. Ansichten und Einsichten, Frankfurt 2007; Die Erfindung des Reisens. Versuch gegen das Missverstehen des Fremden, Wien 2005.

    Weitere jüngste Veröffentlichungen: Arkadien und Dschungelcamp. Leben im Einklang oder Kampf mit der Natur? Hg. von Robert Pfaller und Klaus Kufeld, München/Freiburg 2014; Die Gegenwart der Utopie. Zeitkritik und Denkwende, Hg. von Julian Nida-Rümelin und Klaus Kufeld, München/Freiburg 2011; „Mir san mir." München, Bayern und der Rest der Welt, Hamburg 2011; Europa – Wandel durch Kultur, Hg. von Klaus Kufeld, Freiburg/München 2008; Der kulinarische Eros. Geschichten über die Seele des Essens und Kochens, Wien 2009.

    Website: www.klaus-kufeld.de

    Die Welt wird phygital

    Metamorphosen touristischer Räume

    Roman Egger

    Abstract

    Space, travel and communication are interdependent concepts which are and have been subjected to a historically rooted process of change. The present contribution elaborates on the relationship of the three concepts to each other and focuses on an examination of the change in the current concept of space against the background of new information and communication technologies within the framework of this triad. The author uses five theses to describe current tendencies of change and their impact on the tourism and leisure industry, thereby substantiating the need for a new conception of space.

    Keywords: eTourism, Outernet, Augmented Reality, virtuality, space

    1 EINLEITUNG

    „Das elektronische Zeitalter vernetzt seine Akteure in einem fast nicht mehr greifbaren zeit- und raumlosen Gefüge. Die uns gesetzten Grenzen von Raum und Zeit werden zunehmend überwunden – das Modell der Zukunft trägt den Namen Globalisierung." Krepela, 2012

    Der soziale Wandel ist unter anderem durch neue Einkommens- und Vermögensverhältnisse, veränderte Freizeitbudgets, ein geändertes Freizeit- und Konsumverhalten, dynamische Bevölkerungsentwicklungen und restrukturierte Familien- und Haushaltsformen gekennzeichnet (vgl. Kroeber-Riel & Weinberg, 1999; Tromsdorff, 2004). Gleichzeitig fördert er die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile (vgl. Walter, 2001; Gluchowski, 1998). Als Folge der technologischen Entwicklungen eröffnet sich neben der primären Realität der Cyberspace damit parallel zur Konstruktion virtueller Welten auch eine Virtualisierung der Gesellschaft stattfindet (vgl. Egger, 2007). Der deutsche Philosoph Karl Jaspers gab bereits 1955 zu bedenken: „Man kann den Einbruch der modernen Technik und ihre Folgen für schlechthin alle Lebensfragen gar nicht überschätzen und während McLuhan schon Ende der 60er Jahre die Vorboten einer globalen Informationsgesellschaft sieht, sprechen Nora und Minc bereits 1978 von der „Informatisierung der Gesellschaft. Treffsicher erkannte McLuhan das davon ausgehende Veränderungspotenzial und prophezeite die bevorstehende Auflösung von Raum und Zeit in einer Welt, die er als „global village (vgl. McLuhan, 1968) bezeichnete. Es entstand eine globale Gesellschaft der Cyberkultur, hervorgebracht und geformt durch Telematikanwendungen, die letztlich zum endgültigen Abschied der Gutenberg-Galaxis führt (vgl. Hartmann, 1996). Mit dem Spatial Turn der 80er Jahre kann kulturwissenschaftlich eine Neuorientierung des Raumes beschrieben werden (vgl. Krepela, 2012). Diese topologische Wende ist als „Kind der Postmoderne (vgl. Bachmann-Medick, 2011) anzusehen und wird besonders gut durch die Virtualität des Internets ersichtlich (vgl. Döring & Thielmann, 2008), die unseren physischen Raum durchkreuzt. Die Diffusion neuer Medien durchdringt unsere Gesellschaft und verändert so nicht nur unser Leben, sondern zwangsläufig auch unsere Lebensstile (vgl. Walter, 2001). Heutzutage ist für 50 bis 95 Prozent der Europäer (je nach Land) die Nutzung des Internets zur Lebensroutine geworden (vgl. GfK, 2013). Diese Tatsache betrifft auch den Tourismus so massiv, dass Buhalis und Law (vgl. 2008) feststellen: „The significance of crossing the new information threshold of universal, ubiquitous communication access has brought the entire tourism industry to the new levels of interactivity, propelling management by wire."

    In der wissenschaftlichen Literatur, welche sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sowie dem Tourismus beschäftigt, ist die Aussage von Poon (1993) „Information is the lifeblood of Tourism" eine viel zitierte. Poon bringt mit diesem Statement die Bedeutung der IKT für die Tourismuswirtschaft auf den Punkt. Diese Technologien sind zur Verarbeitung der immensen Datenmengen notwendig, welche durch die Beschreibung eines komplexen, vorab nicht testbaren Produktes entstehen. Gleichzeitig ermöglichen sie die Interaktion zwischen allen Stakeholdern und unterstützen die Interoperabilität von Software, Hardware und Humanware (vgl. Buhalis, 2003). Vor allem durch die flächendeckende, weltweite Verbreitung des Internet – welches nun zusehends auch mobil genutzt wird – wurde der Endkundenzugang zu vormals brancheninternen Daten ermöglicht (vgl. Schulz et al., 2014). Dies führt zum einen zu einer Restrukturierung der gesamten Tourismuswirtschaft, aber auch zu einem veränderten Kräfteverhältnis zwischen Anbieter und Nachfrager (vgl. Egger, 2005). Der Konsument ist zentraler Bestandteil des Leistungserstellungsprozesses und dank der IKT in der Lage, auch ohne Unterstützung durch Fachkräfte bzw. Expedienten, sich über bevorstehende Reisen zu informieren und diese zu buchen. Er erlebt die Destination IKT-gestützt vor Ort, um anschließend seine Erlebnisse multimedial und weltweit publizieren zu können. Schirrmacher (2010) zufolge werden Erfahrungen sogar zunehmend nur gemacht, um sie anschließend digital verbreiten zu können.

    Zur Analyse der Einsatzmöglichkeiten neuer Technologien von „Cyberglobetrottern (Egger, 2007), eignet sich der Customer Buying Cycle (CBC), auch „Customer Journey genannt, hervorragend. Erbeldinger und Ramge (2013) bemerken dahingehend: „Die Customer Journey ist die wichtigste Methode um aus der Kunden-, Anwenderoder auch Mitarbeiterperspektive heraus Ansatzpunkte für die Innovationen von Abläufen, Leistungen und Produkten zu finden". So lässt sich auch der Einsatz der IKT entlang des CBC gut verorten und durch empirische Daten unterstützt, interpretieren.

    Abb. 1.2.1 IKT gestützte Kundenprozessphasen einer Reise Rund 5000 deutsche und österreichische Urlauber in Österreich Quelle: Österreich Werbung, 2012

    Wie in Abbildung 1.2.1 ersichtlich, spielen Informationstechnologien mittlerweile in allen Kundenprozessphasen eine bedeutende Rolle. Auch die neuesten Zahlen der FUR (2014) liefern ähnliche Ergebnisse. Etwa, dass 37% aller Reisen von Deutschen bereits online gebucht werden, sich 27% der Deutschen in der Destination via mobilem Internet Informationen besorgen und 36% ihre Urlaubsergebnisse online, etwa in sozialen Netzwerken, teilen. Um auch künftig wettbewerbsfähig zu bleiben, gilt es, den Kundenanforderungen gerecht zu werden. Dies bedeutet auch, dass man einem veränderten Informations- und Kommunikationsverhalten adäquat zu begegnen hat. Dass in Folge der Virtualisierung auch neue Raumkonzepte entstehen, die in diesem Zusammenhang mitgedacht werden müssen, stellt eine, in der Literatur bislang wenig diskutierte Tatsache dar. Der vorliegende Beitrag thematisiert erste Überlegungen in diesem Zusammenhang und versucht, mögliche Metamorphosen touristischer Räume, ausgelöst durch den Einsatz von IKTs, zu skizzieren.

    2 DIE TRIAS VON RAUM – REISEN – KOMMUNIKATION

    Reisen und Kommunikation haben seit jeher ein enges Naheverhältnis (vgl. Pendyalah et al., 2005). Luger (2000) zufolge wurden die beiden Begriffe früher sogar als Synonyme verwendet. Kommunikation ging mit Mobilität einher. Die Glasfaserkabel unserer heutigen Kommunikationskanäle substituieren die Straßen und Wege zu Land sowie zu Wasser von damals. Bereits vor 5000 Jahren begann man, zu Kommunikationszwecken zu reisen und somit Raum zu überwinden. Das Straßennetz „cursus publicus" des römischen Reiches organisierte später auf 300.000 Kilometern den Postverkehr, und das Verpflegungs- und Beherbergungswesen entwickelte sich parallel dazu (vgl. Bender, 1978; Reinhardt, 2012). Die technologischen Weiterentwicklungen des Verkehrswesens erlauben uns heutzutage ein Höchstmaß an Mobilität, und ein Ende dieser Entwicklungen ist noch nicht in Sicht. So wird aktuell etwa viel über selbstfahrende Autos diskutiert und es ist in diesem Zusammenhang interessant festzustellen, dass auch diese Entwicklungen federführend von einem Kommunikationsunternehmen, nämlich Google, vorangetrieben werden und bereits 2020 die Marktreife erzielt sein soll (vgl. Barr, 2014). Auch zwischen den Begriffen Kommunikation und Raum lässt sich ein Zusammenhang feststellen. Nämlich dann, wenn Kommunikationstechnologien zur Überwindung von Raum verwendet werden. Die Ursprünge der Telekommunikation können wohl in den optischen Signalketten und Leuchtfeuern der Antike gesehen werden (vgl. Hartmann, 2006). Mit dem Aufkommen der Telegraphie erreicht man schließlich eine neue Qualität und erschließt erstmals einen virtuellen Raum (vgl. Burckhardt, 1994), der seine Manifestation im Internet findet und nicht nur die Kommunikation revolutioniert, sondern auch ein neues Raumverständnis erfordert.

    Im Laufe der Menschheit wurden immer wieder neue Raumkonzepte entwickelt. Das aristotelische Raumverständnis beispielsweise entspricht einer geozentrischen Kosmologie, in der die Erde als Mittelpunkt des Kosmos, und die Menschheit im Zentrum einer nicht sichtbaren Ordnung verortet wird. Dieses Schichtenmodell von Aristoteles entspricht einer großen metaphysischen Hierarchie, auch „Kette des Seins genannt. Der gesamte Kosmos war in 10 himmlische Sphären unterteilt und somit endlich (vgl. Wertheim, 2000). Man stellte sich jedoch auch vor, dass es jenseits des physischen Raumes auch „Platz gibt. Hinter der letzten Sphäre von Sternen liegt das Primum Mobile, an dem Raum und Zeit enden. Jenseits dieser äußersten Sphäre beginnt der empyreische Himmel Gottes (vgl. Sprinkart & Gottwald, 2013).

    Heutzutage verstehen wir Raum als „ein sich in drei Dimensionen ohne feste Grenzen ausdehnendes Gebiet. Wir neigen jedoch dazu, Räume sowohl territorial, kulturell oder im sozialen Sinne abzustecken und somit „fest einzugrenzen (vgl. Krepela, 2012). Soziales Geschehen verstehen wir häufig als etwas in einem Raum stattfindendes und viele Redewendungen des Alltags belegen, dass wir Raumbezüge als Metaphern von nicht wirklich räumlichem verwenden. So steigen wir beispielsweise „sozial auf oder ab, wir „gehen etwas auf den Grund, wir „brechen aus Gewohnheiten aus (vgl. Meystrik, 2005) oder „steigen ins Internet ein um schließlich dort „zu navigieren". Das triadische Verhältnis von Raum, Reisen und Kommunikation unterliegt, ausgelöst durch den technischen Fortschritt, scheinbar einem ständigen Wandel, der die einzelnen Konzepte nicht weiter linear beschreiben lässt.

    3 RAUM – REISEN – KOMMUNIKATION – STATUS QUO & PRÄMISSEN

    Die Erweiterung des bislang für unsere Gesellschaft gültigen Raumkonzeptes um virtuelle Dimensionen beeinflusst uns in allen Lebenslagen und auch dies scheint bereits mehr Gewohnheit als Novum zu sein. Spätestens seit diesem Zeitpunkt scheint ein „Spatial Turn 2.0" in Aussicht, ein Paradigmenwechsel, der nicht nur eine neue Raumauffassung im Sinne der Koexistenz von virtuellem und realem Raum beschreibt, sondern die synthetische Dualis beider Raumkonzepte. Zusehends beginnen wir, die unterschiedlichen Raumkonzepte zu vermischen und weitere, neue Raumvariationen zu kreieren und zu

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