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Nach Russland zu neuen Ländereien. Band 1: Die Prophezeiung des Grafen Woronzow
Nach Russland zu neuen Ländereien. Band 1: Die Prophezeiung des Grafen Woronzow
Nach Russland zu neuen Ländereien. Band 1: Die Prophezeiung des Grafen Woronzow
eBook427 Seiten5 Stunden

Nach Russland zu neuen Ländereien. Band 1: Die Prophezeiung des Grafen Woronzow

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Über dieses E-Book

Deutschland im 18. Jahrhundert. Die Menschen leiden unter der Willkür der Herzöge und Landgrafen und unter den Folgen des Siebenjährigen Krieges. Auf der Suche nach einem besseren Leben beschließt der hessische Bauer Adam Wagner, dem Manifest der Zarin Katharina Folge zu leisten, in dem Ausländer aufgerufen werden, sich in Russland niederzulassen. Gemeinsam mit anderen Bauern lässt er sich mit Frau und vier Kindern auf das große Abenteuer ein: die Reise in das ferne Wolgagebiet. Allerdings ist die 14-monatige Reise weder einfach, noch problemlos: Die unzureichende Organisation der Umsiedlung seitens der russischen Beamten, die Kälte, das Winterquartier in einfachsten Wohnbaracken – diese schwere Zeit überleben die Umsiedler nur dadurch, dass sie an ihrem Traum von einem besseren Leben in einer nahen Zukunft festhalten.
In der Wolga-Region angekommen, müssen sie weiter kämpfen: Entgegen den vertraglichen Festlegungen werden sie mit unmäßig hohen Abgaben belastet, die Preise für ihre Ernte werden zu niedrig angesetzt und ihre Verpflichtungen gegenüber der Staatskasse erhöht.
Ihr Leben wird von Nomaden bedroht, die Überfälle auf die nahe gelegenen Dörfer der Deutschen verüben. Die deutschen Siedler sind gezwungen, diese Angriffe zurückzuschlagen. Selbst der Bauernaufstand unter Jemeljan Pugatschow geht nicht an ihnen vorbei.

Parallel dazu wird von einem fernen Nachkommen Adams berichtet – von Arnold Wagner. Dieser lebt in der Sowjetunion zur Zeit der Perestroika. Aus seiner eigenen Familiengeschichte und aus Erzählungen von Freunden und Bekannten weiß er, wie schwer das Schicksal der Russlanddeutschen war. Er ist dabei, als der „Eiserne Vorhang“ fällt und sein Volk vor der Frage steht, entweder innerhalb Russlands wieder eine autonome deutsche Republik zu errichten oder in die historische Heimat zurück zu kehren.
Als Arnold und seine Freunde versuchen, ersteren Weg zu gehen, stoßen sie auf bürokratische Hindernisse und beschließen, nach Deutschland auszuwandern.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum3. Aug. 2015
ISBN9783735714732
Nach Russland zu neuen Ländereien. Band 1: Die Prophezeiung des Grafen Woronzow
Autor

Johann Vogt-Wagner

Avtor okonchil matematicheskij fakul'tet Sverdlovskogo Gosudarstvennogo Pedagogicheskogo Instituta. Posle otrabotannyh treh let uchitelem navsegda ushel v prikladnuju matematiku.

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    Buchvorschau

    Nach Russland zu neuen Ländereien. Band 1 - Johann Vogt-Wagner

    Epilog

    I

    Zu Beginn des Sommers 1765 war der Accreditierte Gesandte Ihrer Kaiserlichen Majestät Katharina der Zweiten Alexander Romanowitsch Woronzow im Begriff, aus Holland in die Sommerferien nach Russland zu reisen. Die Weißen Nächte von Petersburg hatten es dem Grafen seit seiner Jugend angetan; bei jeder anstehenden Reise ins Palmyra¹ des Nordens genoss Seine Durchlaucht die Vorstellung, wie ihn ein Wirbel dem Herzen angenehmster Erinnerungen mit sich reißen und wie neue Eindrücke diese wieder beleben würden. Die sanfte, helle Dämmerung, die die Nacht ankündigte, die Ankündigung aber nie wahr machte, war die beste Zeit für lange Spaziergänge und beschauliche Gedanken, gleichwie für mutige Träume und kühne Inspirationen; es war eine Zeit, in der die Jugend unvergänglich schien und in der man noch alles vor sich zu haben glaubte: das Leben, Erfüllung, Siege.

    Von überall her kamen zu den Weißen Nächten Politiker und Staatsmänner in die Sommerresidenz Ihrer Majestät, wo ein Ball zu hellnächtlicher Zeit sie erwartete, sowie zauberhafte Konzerte der russischen und italienischen Orpheis der Newa, und ausgiebige Spaziergänge rund um den Großen See. Jene Divertissements wurden unaufdringlich mit staatspolitisch wichtigen Gesprächen verknüpft, dieselben mit Umsicht gelenkt von der Gastgeberin höchstpersönlich.

    In diesem Sommer aber war alles anders! Zum ersten Male empfand Graf Alexander Romanowitsch ein Gefühl der Unsicherheit. Zum einen beunruhigte ihn die Abberufung seines Onkels Michail Illiaronowitsch vom Posten des Kanzlers; zum anderen verlief die Anwerbung besitz- und landarmer Bauern aus Westeuropa für die Gründung von Kolonien in den mittleren und unteren Wolgagebieten nicht so glatt und weit weniger zügig als erwartet. Der Onkel war unmittelbar nach seiner Ankunft in Sankt Petersburg vom Amt des Kanzlers abberufen worden, aus Gründen, die seinem Neffen gänzlich unbekannt waren; unklar war auch, inwiefern dies der Gunst Ihrer Kaiserlichen Majestät gegenüber Alexander Romanowitsch selbst abträglich sein würde. Bis dahin hatte die Monarchin ihm ihr Wohlwollen nie versagt, und seine Karriere gestaltete sich mehr als erfolgreich. Mehr noch als offenkundige Ungnade bedrückte ihn die Ungewissheit der derzeitigen Situation. Das Manifest „Über die Verstattung allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen und über die denselben gewährten Rechte" hatte in den zwei Jahren seit seiner Veröffentlichung nicht zu dem erwarteten Ergebnis geführt. Unter den Franzosen, Holländern und Schweizern gab es, soweit Woronzow wusste, kaum Ausreisewillige; auch von den Deutschen hatten es nur die mutigsten gewagt, ihr Land zu verlassen – nach vorläufigen Angaben lediglich etwa siebentausend Menschen. Der Plan Ihrer Majestät aber war es gewesen, 10.000 Bauernhöfe mit einer Gesamtzahl von 50.000 Kolonisten zu gründen. Einerseits ließ sich eine solch gemäßigte Emigration leichter organisieren, denn es brauchte Zeit, die neu ankommenden Kolonisten zu beköstigen, zu verteilen und auszustatten, andererseits begannen die deutschen Landgrafen bereits zu begreifen, dass man ihnen ihre Leute direkt vor der Nase wegholte, und zwar nicht nur die Männer, sondern ganze Familien: Kinder, Frauen, Männer. Eile war geboten, dafür aber benötigte man zusätzliche Werber, die die deutsche Sprache beherrschten. Von den Deutschen waren nur wenige bereit, ihre Landsleute zur Umsiedlung nach Russland zu überreden; und diejenigen, die sich bereiterklärten, reisten nach einiger Zeit gemeinsam mit denen aus, die sie geworben hatten. Die meisten Bauern brachten dem Manifest vom 4. Dezember 1762 und seinem Nachtrag vom 22. Juli 1763 kein Vertrauen entgegen, da es keine beidseitig unterschriebenen Vereinbarungen waren; zudem waren die Ausführungen in einem solch haarsträubend schwülstigen, bürokratischen Stil abgefasst, dass manche Wendungen selbst bei Alexander Romanowitsch Falten des Unmuts hervorriefen; dem ungebildeten Volke indes erschienen sie wohl gänzlich unverständlich. Man musste den Text vereinfachen und eine Art Vertragsmuster herausgeben. Alexander Romanowitsch hatte den Vorschlag für einen solchen Kontrakt einschließlich einer Präambel, die das Gebiet um Saratow beschrieb, vorbereitet und beabsichtigte, diese unverzüglich, um möglichen Kritikern zuvorzukommen, mit Katharina bei ihrem Zusammentreffen in Zarskoje Selo² zu besprechen.

    Am vereinbarten Tag fuhr der Graf lange vor der festgelegten Zeit nach Zarskoje Selo, um die Schönheit des Schlossparks zu genießen und seine Emotionen in Einklang mit dessen harmonischem Zusammenspiel von Natur und Kunst zu bringen. Der vor nicht allzu langer Zeit angelegte Park rauschte im Blatt seiner schlanken Bäume, die bereits herangewachsen und kräftig gediehen waren; ruhig plätscherte das Wasser in dem Kanal, der ihn umfloss und sein wohltuendes Nass zu allem Lebenden, Wachsenden trug… Der Graf erging sich auf der breiten Lindenallee, immer wieder für eine Weile innehaltend, um die neu entstehenden Pavillons und die entlang der Allee weiß schimmernden Skulpturen zu betrachten. Oh ja! Was für Veränderungen – in nur einem Jahr… Was für ein Tempo, was für eine Wucht! Ihr habt viele Ideen, Mütterchen-Zarin³, so viele grandiose und vielfältige Ideen, nur mit wem wollt Ihr das alles in die Tat umsetzen? Eurer Einladung sind ja auch nicht viele gefolgt, da müsst Ihr wohl noch mit Geldern locken, also tiefer in die Kasse langen. Seltsam nur – den eigenen Leuten ziehen wir das Fell vom Leibe, dieweil wir den Ausländern gebratene Tauben versprechen, und dabei – sollten wir nicht lieber unser eigenes Volk ausbilden, Landreformen durchführen, das Land den Bauern geben, nicht übereignen vielleicht, aber wenigstens verpachten? In Europa erzielen die Landpächter dreimal höhere Ernten als unsere Bauern hier.

    „Mein lieber Alexander Romanowitsch, da seid Ihr ja schon, dabei erwarten wir Euch erst zu um elf, unterbrach eine Stimme die Gedanken des Grafen. „Wir beide haben einen Termin um elf.

    Woronzow wandte sich um und erblickte den eilig herankommenden Grigori Grigorjewitsch Orlow. Katharinas glanzvoller Liebhaber (und, wie man munkelte, heimlicher Ehegatte) war von geradezu reckenhafter Statur; von hohem Wuchs, mit langen muskulösen Beinen und einem wie aus Marmor gehauenen Oberkörper, schien er sich gerade aus einer der antiken Skulpturengruppen des Parkes gelöst zu haben.

    „Sehr erfreut, Euch zu sehen, Graf, die Arme ausbreitend, um Orlow zu umarmen, begrüßte Woronzow den herankommenden Favoriten. „Immer noch im alten Glanze, Grigori Grigorjewitsch. Ihre Majestät scheinen Euch ja mit ihrer Aufmerksamkeit ganz außerordentlich zu beehren.

    Diese mit leichter Ironie ausgesprochenen Worte nahmen Grigori Grigorjewitsch sogleich die Lust, Woronzow zu umarmen; er trat einen Schritt zurück, um sich scherzhaft-elegant zu verbeugen, und wich somit den ausgebreiteten Armen des Grafen aus.

    „Nun, mein lieber Graf, Ihr überschüttet mich mit Lobessang, doch spüre ich unter der Hülle den Stachel der Satire. Mit Aufmerksamkeit beehrt sie mich, sagt Ihr? Oh ja, das gebe ich ohne Umschweife zu. Wenn Ihr damit sagen wollt, dass mir nach einem ausgefüllten Arbeitstag kaum noch Zeit zum Schlafen bleibt, habt Ihr wohl recht, Graf. Die ausgesprochene Arbeitsliebe Ihrer Majestät ist überaus lobenswert und ansteckend, aber sie erfordert die höchste Anspannung aller Kräfte, mein lieber Alexander Romanowitsch, parierte Orlow und fuhr fort: „Und Ihr, Graf, wirkt etwas blass und augenfällig besorgt. Was ist los mit Euch? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Euch die Abberufung Eures Onkels so bedrückt. Euer Onkelchen ist nicht mehr der Jüngste, kommt hinter unsereins nicht mehr hinterher. Die Zeit aber drängt. Doch das wisst Ihr ja selbst, mein teuerster Alexander Romanowitsch. Europa hat uns auf allen Gebieten überholt, wir aber hinken mit der klapprigen alten Garde hinterher, aus der schon der Sand rieselt…, Orlow hüstelte und lächelte schief.

    „Mein Onkel Michail Illiaronowitsch ist ein höchst edelmütiger und ehrlicher Mann und hat sich dem Dienst am Vaterland voll und ganz gewidmet, und zwar zu allen Zeiten. Ihn einfach so, ohne jegliche Ehrerweisung aus dem Dienst zu entlassen finde ich, gelinde gesagt, äußerst undankbar."

    „Gewiss habt Ihr recht, Graf, aber aufgrund der Unzahl an Vorhaben, von denen Ihr, mein Freund, in Kürze erfahren werdet, und glaubt mir, Ihr werdet staunen, haben Ihre Kaiserliche Hoheit einfach nicht die Zeit gefunden, Eurem Onkel für seinen zu allen Zeiten untadeligen Dienst an der Krone zu danken, versetzte Grigori Orlow mit einer Intonation, die durchaus Zweifel an der Aufrichtigkeit des Gesagten ließ. Die Entrüstung in Woronzows Miene wahrnehmend, fügte er jedoch ernsthaft und ganz unzweideutig hinzu: „Alexander Romanowitsch, Ihre Majestät erlauben sich, nicht so zu regieren, wie es die Untertanen erwarten, die sich an den Regierungsstil früherer Monarchen gewöhnt haben, insbesondere an den von Peter dem Ersten. Diese Regierungsstile sind grundverschieden, sozusagen von absoluter Polarität. Hier wird niemand hinausgeworfen und niemand verfolgt. Hier wird gemeinsames Nachdenken und Handeln angestrebt. Jetzt ist eine Zeit angebrochen, in der selbstständiges Handeln zum Wohle unseres großen Reiches gefördert wird, und Fehler, die ja unausweichlich sind, werden großherzig verziehen. Hochverehrter Graf, das ist unsere Zeit, wir werden uns in unserem riesigen Mütterchen Russland entfalten. Und den Alten danken wir schon noch, sie haben dem Vaterland ehrenhaft gedient.

    „Grigori Grigorjewitsch, antwortete Woronzow weniger angespannt und in spürbar wärmerem Ton. „Ihr habt Euch seit unserem letzten Treffen verändert. Ihr wirkt wesentlich eleganter, auch Eure Ausdrucksweise ist farbiger. Von absoluter Polarität, woher habt Ihr diesen ungewöhnlichen Ausdruck?

    „He, Alexander, du wirst von mir noch ganz andere Dinge hören". Orlow war unmerklich zum Du übergegangen. „Ich habe zwei Jahre lang zusammen mit den Herrnhuter Brüdern an dem Manifest gearbeitet, die haben jedes Wort hundertmal abgewogen, jede Wortverbindung solange geschliffen, bis kein Satz mehr auch nur ansatzweise missverständlich war. Jetzt sind wir endlich fertig mit allem, und die ersten von ihnen sind unterwegs zur unteren Wolga, in die Gegend um Zarizyn. Ich bin froh, dass ich mit denen arbeiten konnte, eine hervorragende Schule war das: Verträge, Abkommen, Erläuterungen zu allen möglichen Punkten ausarbeiten… Die sind anders als unsereins, unsere Bauern würden überhaupt nichts unterschreiben, die haben nur Angst. Diese Herrnhuter aber glauben! Die glauben, dass alles, was geschrieben steht, auch erfüllt wird. Und ich glaube das auch, Alexander Romanowitsch, und wisst Ihr, warum?

    Die werden uns nämlich, wenn wir irgendeinen Punkt nicht erfüllen, dermaßen mit Briefen überhäufen und stur auf ihren Rechten beharren, bis die Zarin davon erfährt. Und wenn die erst davon erfährt, dann wird sie uns schon lehren, was es heißt, dem Vaterland würdig, treu, ehrenhaft und unter Einsatz aller Kräfte zu dienen", und Grigori Grigorjewitsch lachte fröhlich los.

    „Nun, Graf, bei der Organisation der Anwerbung habe ich auch mit den Kolonisten zu tun, und ich gebe ehrlich zu: ich kann den Sinn dieser Unternehmung nicht ganz nachvollziehen, weder aus unserer Sicht, noch aus der Sicht der Kolonisten." Woronzow holte seine Taschenuhr hervor, klickte sie mit dem Daumennagel auf, überprüfte mit kurzem Blick die Uhrzeit und fasste Orlow mit der linken Hand unter, während er ihn mit einer weitausholenden Geste der Rechten einlud, ihm zum Palast zu folgen.

    Grigori Grigorjewitsch jedoch rührte sich nicht, langte mit der Hand tief in irgendeine unsichtbare Innentasche, holte ebenfalls seine Uhr heraus, öffnete sie ohne Eile, wobei ein melodischer Klang ertönte, den er bis zu Ende anhörte, blickte vielsagend auf das Ziffernblatt und meinte:

    „Ihr habt recht, Graf, es ist an der Zeit. Ihre Majestät dulden keine Verspätung. Lieber ein wenig eher da sein, wir können uns ja noch ins Empfangszimmer setzen."

    Langsam gingen sie am See entlang und beobachteten, wie sich die Enten flügelschlagend und mit lautem Geschnatter auf das ins Wasser gestreute Futter stürzten; obwohl der Gärtner es breit auseinander warf, wollte das muntere Getümmel nicht enden. Während sie sich schon dem großen Palast näherten, unterbrach Orlow das Schweigen und fragte:

    „Alexander Romanowitsch, wieso könnt Ihr nicht nachvollziehen, warum die Kolonisten emigrieren wollen? Schließlich erhalten sie von uns solche Privilegien, von denen sie in den eigenen Ländern nur träumen können. Bei uns sind sie freie Landbesitzer, die das geschenkte Land vererben dürfen, obschon natürlich ohne Verkaufsrecht. Aber dieses Recht, edler Graf, hat bei uns sonst nur der Adel!"

    „In dreißig Jahren, Grigori Grigorjewitsch, wird dieses, wie Ihr sagt, geschenkte Land für sie nicht mehr ausreichen, und dann werden allmählich, so nach und nach, auch die Privilegien verschwin den. Zum Beispiel die Befreiung von der Wehrpflicht. Da er sich dreht, der Wind, kehrt er zurück⁴, und alles wird sich wiederholen: die Kriege, der Mangel an Ackerland, die Klagen wegen der Steuerlast. Und dazu noch diese riesige Entfernung zur Heimat, wohin sie wohl ohne Hilfe kaum jemals zurückkehren können."

    „Und wozu sollen sie zurückkehren, Alexander Romanowitsch, sie werden unsere Deutschen sein. Schließlich gibt es in Europa ganz verschiedene Deutsche, und hier werden sie halt unsere Deutschen sein: ein Volk mehr oder weniger – Russland wird das nur bereichern. Ich frage mich nur, wie Ihr die Europäer anwerben wollt, wenn Ihr solche Gedanken hegt. Kommt zu uns, sagt Ihr, und im gleichen Atemzug fragt Ihr: wozu nehmt ihr Dummköpfe das auf euch? Es scheint, als seien wir beide zwei Heere auf verschiedenen Seiten der Front, versetzte Orlow sichtbar aufgebracht und dachte bei sich „Genau wie sein Onkel und seine Schwester, immer gegenan.

    „Soeben habt Ihr noch betont, Grigori, dass eine neue Zeit angebrochen ist, in der man alle Sorgen und Zweifel offen diskutieren kann, und nicht nur mit Euch, sondern mit Ihrer Majestät selbst… Aber kaum mach ich den Mund auf, schon stempelt Ihr mich zum Feind ab."

    „Nein, nein, natürlich können wir… diskutieren wir das gleich… In nunmehr unverhohlen vertraulichem Ton fügte er hinzu: Mütterchen-Zarin werden Euch sicherlich schnell zur Räson bringen. Vergesst nur nicht, ihr Eure Sorgen und Zweifel mitzuteilen. Sonst muss ich das noch selbst tun."

    Grigori Orlow hatte schon längst jene Grenze überschritten, die, selbst wenn man seine derzeitige Position bei Hofe berücksichtigte, in einem kultivierten Gespräch als erlaubt anzusehen war, und nur seine diplomatische Schule hielt Woronzow davon ab, in ähnlich grober Manier zu antworten. Wie verwunderlich, dachte er, seitens irgendeines ausländischen Beamten hätte mich ein solch ungebührliches Verhalten völlig kalt gelassen, da habe ich gelernt, aus allen möglichen unangenehmen Dispositionen ohne Ehrverlust herauszukommen. Aber hier in Russland… Zu Hause geht einem alles viel näher, selbst das Benehmen eines ungehobelten Flegels in Uniform.

    Erregt, mit geröteten Gesichtern, betraten sie das Arbeitszimmer Ihrer Majestät. Katharina erhob sich zu ihrer Begrüßung.

    „Meine lieben Freunde, Wir sehen Euch in großer Erregung, Ihr seid doch wohl im Empfangszimmer nicht noch ins Streiten geraten? Soeben sahen Wir Euch doch hier aus dem Fenster noch friedlich plaudern!"

    „Ihre Majestät gestatten… Diese Woronzows zweifeln aber auch allenthalben, und was wir auch tun, sie haben immer etwas auszusetzen. Alexander Romanowitsch zum Beispiel macht sich Sorgen, ob nicht bei all unseren Versprechungen die Moral zu kurz komme. Mit seinen Zweifeln verschreckt er uns noch alle Kolonisten!", platzte Grigori Orlow ohne zu überlegen heraus.

    „Genug, mein lieber Grigori Grigorjewitsch, beruhigt Euch. Wir wissen, was Graf Alexander Romanowitsch meint, er hat uns in seinen Briefen seine Gedanken ohne Umschweife selbst dargelegt. Wir geben zu, wir hätten den ethischen Aspekt des Manifests im Senat besprechen sollen. Aber nicht einmal die Herrnhuter haben unseren Aufruf unter diesem Blickwinkel betrachtet. Graf, Ihr seid ein ausgesuchter Moralist! Nun, auf dass Euch Euer Gewissen nicht plage, werden wir Euch im Namen des Russischen Staates zu beweisen suchen, dass vor Gott, also im Sinne unserer christlichen Moral, da wir doch beide Christen sind, unsere Absichten wahrhaft rein sind. Sowohl gegenüber den in unserem Reich bereits wohnhaften Völkern, als auch gegenüber den neu hinzukommenden sind unsere Bestrebungen durchaus edelmütig. Aber was stehen wir herum, meine Herren, macht es Euch bequem, unser Gespräch wird lang."

    Seit sie das Arbeitszimmer der Zarin betreten hatten, war Woronzow noch nicht zu Wort gekommen. Ihn überraschte zum einen, dass im Unterschied zu früheren Zeiten überhaupt kein Austausch von Liebenswürdigkeiten stattfand, zum anderen, dass Grischka Orlow in Anwesenheit Ihrer Majestät, so ganz nebenher und ungeniert, über die Woronzws herziehen konnte und als Antwort nur ein „Genug, mein Lieber erhielt. Von dem ungenierten Verhalten dieses „Lieben hatte dem Grafen schon seine Schwester, Jekaterina Romanowna Daschkowa, berichtet. Das geht wirklich zu weit, schoss es Alexander Romanowitsch durch den Kopf, laut aber sagte er:

    „Ihre Majestät, ich habe keine Sekunde an der Zweckmäßigkeit unseres Unterfangens gezweifelt, doch wissend, mit welchem Interesse und welcher Hingabe Ihre Majestät sich der Philosophie widmen, insbesondere dem Gebiete, das die Schöngeister der Antike, Sokrates und Platon, als das für die Menschheit bedeutsamste ansahen, nämlich der Ethik, habe ich es gewagt, Ihrer Majestät in meinem Brief einzig meine Mutmaßungen bezüglich der Zukunft der Kolonisten zu schildern, so wie die alten Griechen sie erwogen hätten und wie ein Russe von edlem Gemüt es tun sollte – nicht mehr und nicht weniger."

    „Jaja, Graf, genau so haben Wir das auch aufgefasst, und Wir schätzen Eure Feinfühligkeit in Fragen, welche menschliche Schicksale betreffen, sehr, antwortete die Zarin mit einem Lächeln, während sie sich auf ihren Stuhl setzte, den der hinter ihr stehende Grigori Orlow vorsorglich herangeschoben hatte (Wie ein Lakai, dachte der Graf amüsiert). „Wir haben lange darüber nachgedacht, wie es wohl den Kolonisten in dreißig Jahren ergangen sein wird, und denken, die ersten Jahre werden die schwersten sein, deshalb befreien Wir sie von Steuern und Fron: diese Zeitspanne können wir als Entstehungsperiode der Kolonien bezeichnen. Nicht jede Familie wird vermutlich die Belastungen der ersten Zeit aushalten, und gewiss werden einige darunter sein, die nach Hause zurückkehren wollen – natürlich nach Rückzahlung aller durch sie beanspruchten Mittel. Ein Siedler, der Gewinne erwirtschaftet, wird Russland aber kaum verlassen wollen; das werden eher Familien sein, die es nicht geschafft haben, ihre Landwirtschaft in Gang zu bringen, oder die wegen anderer Dinge verarmt sind – aufgrund mangelnder Arbeitsliebe oder Unstimmigkeiten oder anderer Gründe, die es Uns bei aller Sorgfalt vorherzusehen nicht möglich ist. Aber auch jene armen Schlucker werden wir nicht im Regen stehen lassen. Im Briefwechsel mit dem Euch, Alexander Romanowitsch, bekannten Baron de Beauregard, Katharina sah Woronzow fragend an, worauf dieser bestätigend nickte, „sind wir zu dem Entschluss gekommen, die Kolonisten, ehe sie nach Russland abreisen, für den Fall der Rückkehr zu versichern. Der Baron empfiehlt, die Versicherungsbeträge in einer Schweizer Bank anzulegen. Wir gehen davon aus, dass der Senat unseren Vorschlag unterstützen wird, allerdings müssen wir noch die Höhe der Versicherungssumme festlegen. Auf diese Weise sichern wir denjenigen, die in Russland nicht heimisch werden, die Möglichkeit der Rückkehr. Sollte man das nicht human nennen, meine Herren? Konnten Wir Eure Zweifel zerstreuen, verehrter Ethiker, Alexander Romanowitsch?"

    Woronzow schaute nachdenklich auf das Tintenfass auf dem Tisch und die frischen Tintenkleckse, und dachte voll innerer Begeisterung: die Zarin schreibt viel, und sie schreibt selbst. Spricht fehlerfrei russisch, und kaum ein Akzent. Und kaum deutsche und französische Wörter…

    „Da weiß er nichts mehr zu erwidern, da schweigt er tiefsinnig, entfuhr es Grigori Orlow, und er zitierte auf Deutsch mit entsetzlichem slawischem Akzent: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.

    Die Zarin hob die Brauen, ihre Mundwinkel zuckten leicht – auch sie wundert und amüsiert sich wohl ob eines solchen Aphorismus, stellte Woronzow zufrieden fest. – Orlow aber, keineswegs verunsichert, fuhr entschieden fort: „Unsere Bedingungen sind optimal, niemand bietet zur gegenwärtigen Zeit bessere Bedingungen!"

    „Verwechselt die Auswanderung der Europäer in ihre eigenen Kolonien bitte nicht mit unserer Auswanderung, Grigori Grigorjewitsch. Die Europäer siedeln in Ländern, die sie erkämpft, oder genauer, sich angeeignet haben: die Holländer in Südafrika, die Engländer und Franzosen in Amerika et cetera. Diese Territorien gehören schwach entwickelten Stämmen, dort gibt es keine Staatlichkeit in unserem Sinne, und diese Stämme werden nicht allzu ferner Zukunft vernichtet oder bestenfalls versklavt sein, die Ländereien aber betrachten die Regierungen, und auch die Völker üblicherweise als ihnen gehörig. Wir aber wollen unsere Territorien an der Wolga besiedeln, größtenteils mit Deutschen, da wir wissen, wie dicht deren eigene Länder schon besiedelt sind. Die anderen Europäer wandern in ihre Kolonien aus, der Deutsche aber, der seine Scholle liebt, ein unübertroffener Bauer und Gärtner und von Natur aus besonnener Wirtschafter, weiß nicht, wohin. Ich prophezeie Euch, wenn wir innerhalb unseres Reiches Siedlungen von Deutschen schaffen, eines Volkes, das eine so bemerkenswerte Rolle im politischen, wirtschaftlichen und geistigen Leben Europas spielt, dann werden diese auch hier, an der inneren Brandmauer unseres Landes, nicht hinter den Kulissen bleiben wollen. Auch ihrem Glauben und ihrer Sprache werden sie treu bleiben, und sich ihre Ehepartner vorrangig unter ihresgleichen suchen… Plus alle ihnen zugestandenen Privilegien… Seht Ihr nicht auch, dass diese Siedlungen, oder besser das dort lebende Volk in der russischen Völkerfamilie Fremde bleiben werden? Fremde aber sind bekanntermaßen unbeliebt. Vor allem aber beunruhigt mich die Vorstellung, wie sich das Leben der Kolonisten gestalten wird, falls Konflikte zwischen Russland und den deutschen Staaten auftreten…"

    Ihre Majestät versuchte, die äußere Ruhe zu wahren, erhob sich langsam hinter dem Tisch, hieß Grigori mit einer kurzen Geste ruhig zu bleiben und zu schweigen, und trat an die Wand, scheinbar zerstreut die an der Wand hängenden Bilder betrachtend. Er trifft ins Schwarze, dachte sie, das sind genau meine Befürchtungen, die ich nie ausgesprochen habe. So wie ich nicht dazugehöre, werden sie es erst recht nie tun. Aber wieso – wieso haben die klugen Herrnhuter dieses Thema nie angesprochen, wieso sind die bereit, in ein fremdes Land zu gehen, und fürchten nicht, dort Fremde zu bleiben?

    „Die Herrnhuter haben dem kein Augenmerk gewidmet, Alexander Romanowitsch, was meint Ihr, warum?"

    „Das habe ich ihm auch erklärt, mischte sich Orlow wieder ein, seinen Unmut ob solch philosophischer Gespräche nicht verbergend. „Die haben den ganzen Text quasi durchgesiebt, alles, was zweideutig war, geklärt, keine Fallen entdeckt. Nur unser überaus weiser Herr Graf Woronzow… – Ihre Majestät brachte ihn wiederum mit einer strengen Geste zum Schweigen.

    „Ihre Majestät, religiöse Sekten stellen ihren Glauben über alles Irdische, und sie folgen ihrer Lehre ohne Vorbehalt. Das verleiht ihnen Kräfte, und somit können sie allen Widrigkeiten und Anfeindungen widerstehen. Sie gehören nirgendwo dazu, ob bei sich in der Heimat oder hier in der Fremde – genau das ist das Geheimnis ihrer Verbundenheit. Die fremde Umgebung und dazu ihr Glaube, das schweißt sie zusammen. Das ist es auch, was sie anstreben."

    „Mit anderen Worten, wir gründen Kolonien an der Mittleren und Unteren Wolga, die für immer Fremdkörper im Organismus unseres Imperiums bleiben werden, die entweder nicht mit unserem Volk verschmelzen werden, oder aber es wird viele Jahre dauern…Vielleicht Hunderte von Jahren… Interpretiere ich Eure Überlegung richtig, Alexander Romanowitsch?, schloss Katharina und wandte sich, Woronzow fragend anblickend, um. „Aber das ist es doch gerade, was wir brauchen! Hier in Petersburg haben wir schon mehr als genug russifizierte Ausländer, von deren Originalität nur noch die Namen übriggeblieben sind. Hätten wir einfach nur zum Ziel, die Wolgagebiete zu besiedeln, würden wir keine Europäer anwerben. Wir würden uns von jedem Gutsbesitzer einfach nur erfahrene Ackerbauern mit Familien holen, sie freikaufen, ihnen dieselben Privilegien einräumen und sie an die Wolga schicken, um Neuland zu erschließen. Aber das ist es nicht, was wir wollen, Graf Alexander Romanowitsch, o nein! Unser Ziel ist es, die Erfahrungen der Europäer zu übernehmen, diese Erfahrungen auf unsere Bedingungen anzuwenden und zu multiplizieren, zum Wohle dieses großen Reiches. Wir kaufen, werben Gelehrte, Mechanikusse, Handwerker aller Couleur, und jetzt eben auch Landwirte an, um unser Entwicklungstempo zum Wohl aller Völker Russlands zu beschleunigen. Entsinnt Ihr Euch, was König Henri von Frankreich tat, als er nicht den dreifachen Preis für Brüsseler Spitzen bezahlen wollte? Er holte hundert Spitzenklöpplerinnen ins Land, verheiratete sie nach Limoges und gestand ihren Töchtern per Gesetz eine üppige Mitgift aus der Staatskasse zu. Habt Ihr, meine Herren, fuhr Katharina fort und sah abwechselnd mal Woronzow, mal Orlow an, „denn schon einmal versucht zu errechnen, wie viel Zeit und Geld wir benötigen würden, um unsere Leute im Ausland auszubilden und einen vergleichbaren Erfahrungsschatz zu erwerben? Die Akademie der Wissenschaften hat solche Berechnungen erstellt – kein erfreuliches Bild."

    „Ganz und gar Eurer Meinung, Eure Majestät, rapportierte Grigori Orlów militärisch-zackig. „Dieses Versenken ins Thema Heimat oder Fremde bringt rein gar nichts, außer vielleicht dem Herrn Woronzów. Die Deutschen kommen gern hierher und leisten Eurer Majestät mit Vergnügen den Eid auf das Wohl des Russischen Imperiums.

    Alexander Romanowitsch runzelte die Stirn, die Zarin schmunzelte, nahm wieder auf dem Stuhl Platz, den Grigori dienstfertig beiseite zog und mit eleganter Geste wieder heranrückte, und fuhr fort:

    „Meine Herren, wir werden noch eine ganze Zeitlang im Westen Gelehrte und verschiedene Handwerker ankaufen, und auch fleißige Menschen anwerben, da wir uns das ja leisten können. Die Zeit wird kommen, und die Europäer (und ich meine nicht unsere europäischen Provinzen) werden kommen, um von uns zu lernen. Auf Deutsch fügte sie hinzu: „Wir drehen den Spieß um, und wandte sich dann an Woronzow: „Graf, Ihr wolltet Uns Eure Entwürfe für das Merkblatt zum Manifest zeigen."

    „Gewiss, Ihre Majestät, ich habe Entwürfe mit, und zwar nicht nur für das Merkblatt. Der Aufruf ist in gehobenem Amtsdeutsch abgefasst und ich habe den Eindruck, dass er bei den Bauern nicht das nötige Vertrauen weckt. Deshalb bitte ich Ihre Majestät, das Muster für einen Kontrakt mit den Kolonisten zu prüfen. Er enthält neben einer Einführung einen für Dorfleute leicht verständlichen Vertragstext. Der Kontrakt entspricht dem Manifest vom 22. Juli voll und ganz, mit einer kleinen Ausnahme: die Bauern werden in ein genau festgelegtes Gebiet eingeladen."

    Mit einer Verbeugung übergab Woronzow der Zarin ein Portefeuille mit den Dokumenten. Katharina überflog die Blätter und veranschlagte, dass sie höchstens eine halbe Stunde brauchen würde, sie zu lesen. „ Meine Herren, Ihr gestattet", sprach sie zu den beiden, die ihr gegenüber saßen, und begann zu lesen.

    Die Art Ihrer Majestät zu regieren unterscheidet sich tatsächlich sehr von der ihrer Vorgängerin Jelisaweta Petrowna, dachte Alexander Romanowitsch für sich, die Pause nutzend. Jene hätte nicht einmal andeutungsweise ein „Gestatten Sie" zwischen den Zähnen hervorgepresst, hätte die Mappe in irgendeine Ecke geschoben, ohne hineinzuschauen, und hätte die Diskussion der Frage auf unbestimmte Zeit verschoben. Später hätte sie jemand anderes damit beauftragt, um sie dann vielleicht ganz zu vergessen. Katharina aber bemühte sich, alle Vorgänge bis in jede Einzelheit zu ergründen, besonders, wenn es um die Kolonisierung ging. Wie eine fleißige, geschickte Gärtnerin versuchte sie, ihre Sämlinge behutsam zu verpflanzen – weit weg… – Woronzow überschlug die Entfernung von Lübeck bis Saratow – so um die zweitausend Werst.

    Die Kolonisierung der Steppen im Saratower Gebiet jenseits der Wolga rief in dem Grafen gemischte Gefühle hervor. Er suchte sich mit aller Kraft von dieser Zerrissenheit zu befreien, was aber nicht so recht gelingen wollte. Was könnte seine Zweifel zerstreuen? Die gewissenhafte Analyse aller Für und Wider? Das hatte er mehr als einmal getan – und stets überwog klar das Für. Und trotz allem quälte ihn die Frage. Während er versuchte, das Wesen seiner Zweifel zu ergründen, kam Woronzow zu dem eindeutigen Schluss, dass es in seinem fehlenden Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Absichten Ihrer Majestät bezüglich der Kolonisten begründet lag. Doch wiederum, wie konnte Katharina vorausahnen, dass fast ausschließlich ihre eigenen Landsleute auf den Aufruf reagieren würden? Letztendlich war er an alle europäischen Völker gerichtet. Es war diese Zerrissenheit der Deutschen, die es möglich machte, ihnen vor ihren eigenen Augen die Hälfte ihrer Bevölkerung zu entführen! Die Freie Stadt Lübeck würde nicht mit der Wimper zucken und uns für Geld gestatten, den Alten Fritzen höchstpersönlich außer Landes zu bringen. Ob Katharina eine solche Aufstellung der Kolonisten vorhergesehen hatte? Sie war bereit, ihre Landsleute an den südöstlichen Rand des Reiches zu werfen, wo Ackerbau riskant und faktisch Zwangsarbeit war. Trockene Steppenwinde verbrannten hier alles, was nicht gewässert wurde, und nur das Betreiben von Gemüsegärten würde die Kolonisten vor dem Hungertod bewahren. Zudem waren linksseitig der Wolga Zusammenstöße mit Nomadenstämmen an der Tagesordnung… Was also bezweckte sie – an den eigenen Leuten ein Exempel zu statuieren, um andere das Fürchten zu lehren?

    „Alexander Romanowitsch, Ihr beherrscht die deutsche Sprache wirklich gut. Der Text liest sich tatsächlich einfacher, es ist alles enthalten", lobte Katharina und schob die Papiere zu Grigori Orlow hinüber. Und, noch ehe sie die nächste Frage gestellt hatte, erhielt sie die Antwort.

    „Nicht ohne die Hilfe meiner Mitarbeiter, Ihre Majestät, und dank aktiver Mitwirkung des Barons Caneau de Beauregard und seines Freundes Otto Friedrich von Monjou".

    „Was haltet IHR, Graf, von der Person des Barons, könnt Ihr ihm vertrauen?", fragte die Zarin mit besonderer Betonung auf dem IHR. Grigori Orlow unterbrach die Lektüre des Dokuments und blickte Woronzow an. Misstrauen gegenüber Baron de Beauregard zu äußern, war in dieser Situation unmöglich.

    Noch eine skeptische Bemerkung, und ich verliere das Vertrauen Ihrer Majestät selbst, reagierte der Accreditierte Botschafter bei sich. (Grigori Orlow, der Präsident der Tütel-Kanzlei⁵, hatte schon längst alle Vereinbarungen mit dem Baron unterschrieben und diesem die vertraglich festgelegten Gelder überwiesen. Demnach verpflichtete sich der Baron, die betreffenden Maßnahmen zu organisieren, viertausend Kolonisten anzuwerben und auf den ihm an der Mittleren Wolga zugewiesenen Ländereien mindestens zwanzig Kolonien zu gründen.) Oh nein! Ich darf nicht riskieren, dass sich die Gewitterwolken, die jetzt schon über der Familie Woronzow hängen, noch mehr zuziehen. Die Woronzowsche Geradlinigkeit muss ich wohl schweren Herzens beiseite schieben. Meine Schwester hat dieser Emporkömmling schon aus Petersburg fortgeekelt, bei der Entlassung meines Onkels hatte er auch seine Hände im Spiel. Das reicht, schloss er seine Erwägungen, und in entschiedenem, keine Zweifel zulassenden Ton verkündete er „offenherzig: „Ich konnte beobachten, dass der Baron mit hohem Eifer bei der Sache ist, und ich kann Ihrer Majestät versichern, dass er ein brillanter Anwerber ist. Er verfügt über eine unübertroffene Überzeugungskraft, und wenn man ihn lässt, glaube ich, holt er nicht nur einfache Landwirte, sondern auch den einen oder anderen Landgrafen an die Wolga, schmunzelte Woronzów gutmütig.

    Katharina war jedoch hellhörig genug, die kaum merkliche Heuchelei zu registrieren – solch überschwängliches Lob passte so gar nicht zu dem zurückhaltenden Wesen des Grafen.

    „Demnach wart Ihr Euch wirklich in allen Punkten einig, als Ihr am Wortlaut des Kontrakts und der Präambel gearbeitet habt?"

    „Es gab einen Punkt, den wir lange diskutiert haben – den Vergleich des Klimas bei Saratow mit dem französischen Klima von Lyon. Der Baron ist der Meinung, dass die klimatischen Bedingungen in diesen Gegenden aufgrund der vergleichbaren Jahresmitteltemperaturen ähnlich sind. Tatsächlich werden an der Mittleren Wolga die kalten Wintergrade durch hohe Sommertemperaturen ausgeglichen, was zu einem vergleichbaren Jahresmittelwert in diesen Gebieten führt. Die Frage ist, ob solch heftige saisonale Unterschiede die Ernteerträge beeinflussen und vor allem, ob sie Einfluss auf die Auswahl der Kulturen haben, die wir dort ansäen wollen. Kann man am linken Wolgaufer Getreide anbauen – Weizen, Roggen, Gerste und ähnliches?"

    „Natürlich geht das, am rechten Ufer bauen sie das doch auch an", knurrte Grigori Orlow finster, mit unverhohlenem Missvergnügen.

    „Was man links der Wolga anbauen kann, und was nicht, werden die Kolonisten selbst entscheiden. Die Europäer bringen einen gewaltigen Erfahrungsschatz in Fragen der Selektion mit, daher bin ich sicher, dass sie auch hier Möglichkeiten finden werden, Getreide anzubauen. Und diesen nicht ganz geglückten Vergleich mit Lyon verzeihen wir uns als…", auf der Suche nach einem geeigneten russischen Wort stockte Katharina für einen Augenblick, fand es nicht und sagte auf Deutsch: „Als Ausgleich", um dann auf Russisch fortzufahren: „für unser unverzeihlich dummes Gleichnis, als wir die Wolgagebiete in einem Hamburger Blatt

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