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Chefsache
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eBook719 Seiten8 Stunden

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Über dieses E-Book

Lithium ist das neue Gold. Der Rohstoff ist Chefsache, und er verdirbt den Charakter.
Ohne Lithium funktioniert kein Smartphone und fährt kein Elektroauto. Es hat gedauert, aber die Politik hat das jetzt auch erkannt. Einheimisches Lithium aus Recycling und dem Tiefenwasser der Geothermie zu fördern, hat ganz oben höchste Priorität.
Ein brutaler Mord durchkreuzt die hochfliegenden Pläne. Hauptkommissarin Chris Roberts vom BKA entdeckt den ersten Hinweis auf den Killer. Zu spät erkennt sie, welche skrupellose Organisation damit ein drastisches Zeichen setzt: Hände weg von unserem Lithium!
Sie kann den Anschlag nicht mehr verhindern, und dann verschwindet ihr junger Assistent spurlos, wie vom Erdboden verschluckt.
Der 13. Fall mit BKA–Kommissarin Chris
SpracheDeutsch
HerausgeberXOXO-Verlag
Erscheinungsdatum28. März 2022
ISBN9783967525724
Chefsache
Autor

Hansjörg Anderegg

Hansjörg Anderegg wurde 1947 in St. Gallen in der Schweiz geboren und wuchs dort auf. Nach einer Ausbildung als Chemielaborant und der Matura begann er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) mit dem Studium der Mathematik und Physik, das er als Mathematiker abschloss. Er arbeitete anschließend über dreißig Jahre in Europa, den USA und Asien als Computerfachmann und Manager in der Entwicklung, der Beratung und dem Verkauf von Software für wissenschaftliche, technische und finanzanalytische Anwendungen. Seine Erfahrungen verarbeitet er als Autor von Kriminalromanen und Thrillern mit technisch-wissenschaftlichem Hintergrund.

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    Buchvorschau

    Chefsache - Hansjörg Anderegg

    Impressum

    Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

    Print-ISBN: 978-3-96752-075-0

    E-Book-ISBN: 978-3-96752-572-4

    Copyright (2022) XOXO Verlag

    Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

    unter Verwendung der Bilder: 1226792029, 1801816357

    Stockfoto-Nummer:

    von www.shutterstock.com

    Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

    Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

    XOXO Verlag

    ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

    Gröpelinger Heerstr. 149

    28237 Bremen

    Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

    KAPITEL 1

    BINGEN

    Er war solche Gesichter seit seiner Kindheit gewohnt. Nichts als Abscheu und Verachtung las er in den Augen des Alten. Der stand im Türrahmen und schien nicht einmal überrascht, ihn in seinem Büro zu sehen. Angewidert war er, nichts weiter.

    »Was soll das werden? Sie haben hier nichts verloren. Verpissen Sie sich, junger Mann, aber dalli!«

    Der Alte hob den Schraubenschlüssel, um die nette Aufforderung zu unterstützen.

    »Aber Herr Lohner, warum auf einmal so feindselig?«

    Der abendliche Besucher blätterte ruhig weiter im Ordner, den er nach kurzem Suchen vom Regal hinter dem Schreibtisch genommen hatte.

    »Wird’s bald?«, stieß der Alte wütend aus und trat näher, den Schraubenschlüssel immer noch drohend in der ölverschmierten Hand.

    Der Besucher ließ sich nicht stören, blätterte weiter. Unvermittelt hielt er inne, riss ein Blatt heraus und zeigte es dem alten Lohner mit verbindlichem Lächeln.

    »Da haben wir ihn ja, den Vertrag.«

    Lohner wusste genau, wovon er sprach. Er antwortete wie aus der Pistole geschossen:

    »Der gilt nicht mehr. Den habe ich vor einem Monat gekündigt. Das war überhaupt kein richtiger Vertrag, bloß seine Abmachung.«

    Der Besucher stimmte lächelnd zu.

    »Ein Gentleman’s Agreement würde ich sagen, richtig?«

    »Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich habe gekündigt und nichts mehr damit zu schaffen.«

    Die ölige Hand mit dem Schraubenschlüssel hing jetzt schlaff herunter und stellte keine Gefahr mehr dar. Der Besucher seufzte und schüttelte mitfühlend den Kopf. Er stellte ihn schräg, als er antwortete, wie stets auf den letzten Metern.

    »Ich weiß«, sagte er trübsinnig, »es ist ein dreckiges Geschäft. Aber jemand muss es machen, nicht wahr?«

    Der Alte wusste nicht, was er erwidern sollte. Mitgefühl hatte er zuletzt erwartet. Der Besucher grinste ihn schräg von unten an, dann verschwand das Lächeln schlagartig.

    »Aus diesem lukrativen Geschäft wollen Sie aussteigen? Das verstehe ich nicht.«

    Lohner fand die Sprache rasch wieder und herrschte ihn an:

    »Ich bin ausgestiegen, verdammt noch mal. Geht das nicht in Ihren Schädel? Und jetzt raus hier, ich habe zu tun!«

    »Wir sind noch nicht fertig.«

    Lohner rollte die Augen, drehte sich auf den Absätzen um und machte Anstalten, das Büro zu verlassen.

    »Leck mich am Arsch«, sagte er zur Tür.

    »Aber Opa, so etwas sagt man nicht!«, antwortete die Stimme eines Mädchens.

    Der Blick zurück traf auf den mahnenden Zeigefinger des Besuchers.

    »Du hast ja recht, Emma«, murmelte der Opa mit belegter Stimme. »So darf man nicht reden. Tut mir leid.«

    »Darf ich mir deine Fotos ansehen?«

    Die Stimme des Mädchens hatte sich genähert. Der Besucher zog den Kopf ein und verwünschte die Kleine. Lohner zögerte nur kurz, dann schüttelte er den Kopf.

    »Das passt jetzt ganz schlecht, Emma. Ich muss unbedingt noch die Achse des Lieferwagens prüfen. Da stimmt was nicht.«

    Die Enkelin sprang schon wieder davon.

    »Ich muss sowieso Hermann suchen. Der versteckt sich wieder irgendwo«, rief sie zurück.

    Wer zum Teufel war Hermann? Er hatte schon zu viel Zeit vertan mit diesem uneinsichtigen Lohner, musste die Sache jetzt zu Ende bringen. Lohner stieg die Metalltreppe hinunter in die Garage und legte sich unter die Vorderachse des aufgebockten Lieferwagens, als wäre sein Besucher Luft. Die vorderen Räder waren abmontiert. Der Besucher stellte sich vor ihn hin. Bauch und Beine unter dem Fahrzeug, nestelte Lohner in der Werkzeugkiste, tauschte den Schraubenschlüssel gegen eine Ratsche. Er war dabei, den Hebel einzusetzen, als die Hand des Besuchers den Griff des Wagenhebers anfasste. Das Fahrzeug senkte sich langsam auf Lohners Brustkorb. Der Überraschte schrie auf, ließ das Werkzeug fahren und versuchte in Panik, sich zu befreien, vergeblich. Das Fahrzeug stoppte. Lohner keuchte und verfluchte ihn, doch die Stimme erstarb bald. Der gute Mann bekam kaum noch Luft. Er war ein wenig aus der Form geraten im Alter. Die Hand immer noch am Griff des Wagenhebers fragte der Besucher freundlich:

    »Wollen Sie es sich noch einmal überlegen? Ein letztes Mal, wie ich anfügen möchte.«

    Die Antwort war ein erstickter Fluch, das Zeichen für den Besucher, vom Sie zum Du zu wechseln. So entstand sofort eine intimere Atmosphäre.

    »Schade mein Lieber, aber du willst es nicht anders.«

    Er löste die Sperre. Die zweieinhalb Tonnen Leergewicht senkten sich unerbittlich weiter und zerquetschten alles unter ihnen, als wäre es nicht da. »1.25 Tonnen«, korrigierte die innere Stimme, aber das reichte auch. Er hatte es im Physikunterricht gelernt: Statik. Die zweite Hälfte lastete auf den Hinterrädern. Lohners Überreste sagten keinen Ton. Der Oberkörper lag still da wie abgesägt, dennoch zog er die Pistole aus dem Halfter, schraubte den Schalldämpfer drauf und verpasste dem Uneinsichtigen den Gnadenschuss mitten in die Stirn. Jedermann sollte sehen, dass hier nicht einfach ein Scheißunfall geschehen war.

    Beim Verlassen des Gebäudes betrachtete er die verwaschenen aber immer noch gut lesbaren Graffiti mit verächtlichem Grinsen. Stoppt die Müllmafia!, stand da über die ganze Breite der Hauswand gesprüht, ein wahres Kunstwerk in Blockschrift wie gedruckt. Links und rechts der Tür höhnten Totenköpfe von der Wand. In kleinerer Schrift mahnten Parolen aktiven Umweltschutz und Gefängnis für die Umweltsünder an.

    »Perfekt«, murmelte er und setzte sich in sein Fahrzeug.

    Nach zwei Klingeltönen hatte er den Freund am Apparat.

    »Erledigt«, sagte er nur.

    »Sicher?«

    »Todsicher, eine solche Schweinerei überlebt kein Mensch.«

    »Und die andern?«

    Er lachte trocken auf. »Die andern werden die Message verstehen. Da kannst du Gift drauf nehmen.«

    »Gut«, sagte der Freund nach kurzem Nachdenken. »Gut so. Du weißt, was zu tun ist.«

    Natürlich wusste er das. Wieso konnte der andere solche unnötigen Sticheleien nicht lassen? Damit erinnerte er ihn jedes Mal an seinen Alten, und das war gar nicht gut. Irgendwann würde er dem Mann die Freundschaft kündigen müssen, falls er sich nicht besserte. Das würde wiederum für den Freund gar nicht gut ausgehen. Sein Gesprächspartner wollte auflegen, da hielt er ihn zurück.

    »Und die Lieferung?«, fragte er hastig.

    »Die ist doch angekommen, steht jedenfalls auf der Webseite.«

    »Webseite!«, stieß er verächtlich aus. »Ein Scheiß steht da. Gestern Abend wussten die auf der Poststelle jedenfalls noch nichts von einer Lieferung.«

    »Die ist wahrscheinlich in der Nacht eingetroffen.«

    »War sowieso eine blöde Idee, so etwas mit der Post zu schicken«, ärgerte er sich.

    Der Freund blieb ruhig wie stets, wenn andere sich aufregten.

    »Die Post ist am unauffälligsten. Da wird gar nichts kontrolliert, Postgeheimnis.«

    »Du musst es ja wissen«, schnaubte er und drückte die rote Taste.

    Er atmete einige Male tief durch, um sich zu beruhigen. Ohne die Lieferung müsste er seinen ganzen, ausgeklügelten Plan ändern, eine Herkulesarbeit. Die Mädchenstimme schreckte ihn aus den Gedanken.

    »Opa, Opa, Hermann ist wieder da!«, rief die Enkelin aus Leibeskräften, während sie in die Garage rannte.

    Dabei hielt sie ihren Teddybär mit beiden Händen triumphierend hoch. Er runzelte die Stirn. Die Kleine sollte sich das nicht ansehen. Seine Message war für ein ganz anderes Publikum gedacht. Zu spät: Der langgezogene, spitze Schrei der Kleinen schmerzte in den Ohren. Zeit, abzuhauen. Er startete den Motor. Im letzten Moment dachte er ans Telefon. Er entfernte die SIM-Karte, warf sie achtlos aus dem Fenster und fuhr ab.

    Er schlief tief und fest, als ihn der Wecker kurz vor acht Uhr aus den Träumen riss. Er schaltete den Fernseher ein: SWR Rheinland-Pfalz, Brisant. Das Boulevardmagazin enttäuschte ihn nicht. An diesem Morgen gab es brandaktuelle Nachrichten und nur ein Thema. Der bestialische Mord am Transportunternehmer Gunther Lohner in Bingen sorgte für Entsetzen. Die Spekulationen schossen ins Kraut. Waren die Umweltaktivisten, die schon überall Garagen und Lkws von Kleinunternehmern wie Lohner Transport beschmiert hatten, nun endgültig zu Ökoterroristen mutiert?

    »Lohner Transport ist ein alteingesessenes Unternehmen in unserer schönen Stadt«, betonte die Bürgermeisterin. »Seit mehreren Generationen …«

    Er schaltete zufrieden ab. Die Message war angekommen.

    Bald stand er wieder am Postschalter. Die spindeldürre, ältere Dame vom Vortag empfing ihn mit zufriedenem Gesichtsausdruck.

    »Ihr Paket ist angekommen«, verkündete sie mit Genugtuung.

    Keine Spur mehr von der latenten Anspannung und vom Misstrauen, mit denen sie ihn vorher abgefertigt hatte. Sie hievte das schwere Paket mit verblüffender Leichtigkeit hoch und ließ es auf die Tischplatte fallen. Beinahe wäre er in die Knie in Deckung gegangen.

    »Vorsicht!«, keuchte er. »Da sind zerbrechliche Flaschen drin.«

    Die Dame lächelte verbindlich und beschwichtigte:

    »Keine Sorge, junger Mann. Wenn die Flaschen den Transport bis hierher überstanden haben, halten sie das locker aus. Glauben Sie mir. Das weiß ich aus jahrelanger Erfahrung.«

    Unter den Kunden hinter ihm begann sich Ungeduld bemerkbar zu machen. Er zog es vor zu verschwinden, um nicht allzu sehr aufzufallen. Sie war noch nicht fertig.

    »Wenn Sie bitte hier unterschreiben möchten«, sagte sie und schob ihm ein Formular hin. »Sie müssen den Empfang bestätigen.«

    Er folgte der Aufforderung mechanisch, nahm das Paket und wandte sich ab.

    »Macht 2.75 Euro«, sagte sie hastig.

    »Ich denke, das Porto ist bezahlt. Die Briefmarke klebt doch drauf.«

    Eine Polizistin in Uniform und mit gut sichtbarer Pistole am Gürtel betrat die Schalterhalle. Der Anblick erschreckte ihn zwar nicht, aber die ganze verdammte Atmosphäre in diesem Raum begann ihn zu nerven. Er musste hier raus, um nicht zu ersticken. Er knallte einen Fünf-Euro-Schein auf den Tisch.

    »Stimmt so.«

    Drei Sekunden später stand er draußen und holte erst einmal tief Luft. Im Auto grinste er wieder beim Gedanken an die dürre Angestellte. Wie viele Formulare und Unterschriften es wohl brauchte, um die überzähligen 2.25 Euro so plausibel zu erklären, dass auch die Aufsichtsbehörde zufrieden wäre? Nicht auszudenken, aber das gehörte glücklicherweise nicht zu seinen Problemen. Seine Probleme waren viel einfacher zu lösen.

    Zurück im Zimmer packte er die Lieferung vorsichtig aus. Ein Computerausdruck begleitete die wenigen eher unscheinbaren Einzelteile: die Gebrauchsanweisung ergänzt mit einer Handskizze. Er betrachtete die Auslegeordnung kopfschüttelnd. Diese Höllenmaschine war von neuster Bauart, kompakt, einfach zu benutzen und von ungeheurer Wirkung, ein wahres Meisterwerk. Es machte wirklich Spaß, mit solchen Kollegen zusammenzuarbeiten.

    BERLIN, ZWEI MONATE FRÜHER

    Chris betrachtete das Namensschild am Büro, als wäre sie erstaunt, es immer noch da zu sehen. Hauptkommissarin Dr. Christiane Roberts-Hegel stand drauf. Was sie anfangs ein wenig stolz gemacht hatte, begann sie allmählich anzuwidern. Sie war höchstens noch eine halbe Kommissarin. Ohne Außeneinsätze endlose Stunden am Schreibtisch zu sitzen, war nicht ihr Ding. Sie hatte von Anfang an geahnt, dass es böse enden würde. Jetzt, nach drei verlorenen Jahren, wusste sie es. O. K., verloren war übertrieben oder passender: egoistisch ausgedrückt. Zu Hause mit ihrem kleinen Lukas und dem stolzen Vater Jamie hatte sie jede Sekunde genossen. Der Kleine gedieh prächtig, sprang herum wie ein übermütiges Zicklein und konnte mit drei Jahren schon ordentlich nerven mit seinen vielen Fragen, die er so lange wiederholte, bis ihm die Antwort gefiel. Er wusste zum Glück noch nichts von zermürbender Schreibtischarbeit und blickte optimistisch in die Zukunft. Sie hingegen fürchtete, die miese Stimmung am Arbeitsplatz an der Puschkinallee würde mit der Zeit die Atmosphäre zu Hause vergiften.

    »Das wäre der Super-GAU«, seufzte sie leise und wollte eintreten.

    Ein Windstoß, gesättigt mit dem herben Duft eines erfolgreichen Rasierwassers, erfasste sie.

    »Ich brauche den Bericht bis spätestens neun Uhr«, mahnte Staatsanwalt Schwarz im Vorbeirennen.

    »Genau das meine ich«, brummte sie, trat ein und versetzte der Tür hinter ihr einen kräftigen Fußtritt.

    Der Bericht auf ihrem Computer war noch nicht fertig, noch nicht einmal angefangen, genau genommen. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren, hin- und hergerissen von der Sorge um ihr Familienglück und der zunehmenden Abneigung gegen den neuen Staatsanwalt Dr. Dirk Schwarz. Der Mann bestand auch im Büroalltag auf der Anrede mit dem Doktortitel. Das allein war Grund genug, ihn nicht zu mögen. Sie hatte seine Vorgängerin, die Eisprinzessin Klara Winter, nicht wirklich leiden können, aber die hatte trotz allem irgendwie zur Familie gehört. Schwarz hingegen agierte wie ein Roboter, der zwar alle Gesetzestexte kannte aber nichts über zwischenmenschliche Beziehungen, ein Albtraum. Nur dank ihrem alten Analytiker Haase hatte sie die drei Jahre einigermaßen heil überstanden. Wie lange noch?

    Wie gerufen trat er ein, bemüht, die Tür sofort hinter sich zu schließen. Das Tässchen mit seinem wunderbaren Espresso, das er auf den Tisch stellte, erschien ihr an diesem Morgen wie eine Henkersmahlzeit. Eine Art Mahlzeit war der Kaffee aus seiner geheimnisvollen Maschine sowieso. Nach diesem Genuss verspürte sie jeweils lange auf nichts anderes mehr Lust. Haase vom Bus überrollt, das wäre ihr größter Albtraum. Die Wahrscheinlichkeit für ein derartiges Desaster tendierte allerdings gegen null, denn niemand beim BKA hatte ihn je das Gebäude verlassen oder betreten sehen. Er war ein Teil des Hauses, immer da wie sein Schreibtisch oder ihre Niedergeschlagenheit.

    »Danke, Haase, Sie sind ein Schatz«, sagte sie so müde, dass es wie eine hohle Phrase klang.

    Seine Mundwinkel zuckten trotzdem dankbar.

    »Ich habe Ihnen den Bericht geschickt«, sagte er, »jedenfalls, soweit ich ihn verfassen konnte.«

    Die Einschränkung war unnötig. Haases Berichte genügten in jedem Fall für den arroganten Schnösel im Anwaltsbüro. Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln.

    »Sie sind ein Schatz.«

    »Das sagten Sie bereits, danke.«

    Sie trank den Kaffee. Er blieb stehen. Auf ihren fragenden Blick antwortete er:

    »Ich muss etwas mit Ihnen besprechen.«

    Sie sah ihm an, wie unwohl ihm dabei zumute war.

    »Hoffentlich keine Moralpredigt«, scherzte sie müde. »Verdient hätte ich sie. Setzen Sie sich doch.«

    Er nahm einen Stuhl und setzte sich nah an sie heran. Das hatte er noch nie getan. Ihr Magen fühlte sich trotz des Kaffees plötzlich ganz leer an. Sie wartete. Er räusperte sich umständlich, bevor er zu sprechen begann.

    »Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll.«

    Er stockte und sah sie hilfesuchend an. Sie ließ ihm Zeit.

    »Wir arbeiten jetzt schon mehr als zehn Jahre zusammen«, fuhr er mit Grabesstimme weiter. »Das macht es nicht leichter.«

    Ihre Eingeweide zogen sich zusammen. Fehlte nur noch, dass sich die Nackenhaare sträubten und sie den kalten Hauch des Todes spürte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, worauf dieses merkwürdige Gespräch hinauslaufen sollte. Er sprach nach einem stillen Seufzer weiter:

    »Ich bin jetzt sechzig und werde nicht jünger.«

    »Müssen Sie auch nicht.«

    Es entfuhr ihr einfach. Die unangebrachte Bemerkung löste wenigstens ihre Anspannung ein wenig. Er beachtete sie glücklicherweise nicht. Hinter seiner Stirn arbeitete es schwer, wie die Gesichtszüge und der entrückte Blick verrieten. Langsam kehrte er wieder zu ihr zurück und sagte gepresst:

    »Ich gehe in Rente.«

    Sie zuckte zusammen. Es war wie eine Todesnachricht. Genauso fühlte es sich an. Sie beide bildeten seit Jahren eine symbiotische Gemeinschaft. Keiner konnte ohne den andern, glaubte sie mittlerweile. Ihr Puls beschleunigte sich wie bei einer akuten Bedrohung, und das war es auch. Sie schluckte leer, atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen, bevor ihr übel würde. Es gelang nur schlecht. So schlecht, dass sie einen irren Spruch klopfte, bevor sie klar denken konnte:

    »Rente? Sie haben doch gar kein anderes Leben als das hier.«

    Das hässliche Wort war gesagt. Er fühlte sich befreit und lächelte entspannt.

    »Was nicht ist, kann ja noch werden.«

    Sie erholte sich allmählich vom Schock.

    »Scherz beiseite«, sagte sie, »Sie sind erst sechzig und meines Wissens fit. Warum also? Wann denn?«

    Sein Gesicht wurde wieder ernst.

    »Der Antrag ist gestellt.«

    »Den können Sie locker zurückziehen.«

    Er schüttelte den Kopf. »Irgendwann ist es eben soweit. Das wissen wir beide. Bei Ihnen dauert es zum Glück noch eine ganze Weile.«

    »Was wissen Sie schon von Glück!«, stieß sie ärgerlich hervor und entschuldigte sich sogleich.

    Eine lange Pause entstand. Die Luft im Büro roch plötzlich abgestanden wie im Archiv, wo bloß tote Akten herumliegen. Sie war versucht, das Fenster aufzuschrauben, ließ es jedoch angesichts der eisigen Temperatur draußen bleiben. Endlich gab sie ihrem Herzen einen Stoß und akzeptierte seinen Entschluss als Tatsache. Sie konnte und wollte nichts mehr daran ändern, so schwer es ihr auch fiel.

    »Was mache ich bloß ohne Sie?«, fragte sie leise.

    Er erhob sich, stellte den Stuhl sachte an seinen Platz zurück und schleppte sich zur Tür, als hätte er Blei in den Schuhen, so wie sie gerade auch.

    »Ende Monat ist es soweit«, sagte er, bevor die Tür hinter ihm zufiel.

    Sie schaffte es bis zur Toilette, wo sie der Kloschüssel nicht nur den halbverdauten Kaffee übergab. Ernüchtert betrachtete sie ihr Spiegelbild, nachdem sie das Gesicht kalt abgewaschen hatte. Sie bildete sich ein, eine alte, grauhaarige Frau zu sehen, bis sie die Augen schloss und an ihre beiden Männer dachte. Was kümmerte sie der ganze Scheiß hier eigentlich? Wichtig war doch nur ihre Familie, und dort stimmte einfach alles perfekt – noch. Der drohende Verlust ihres Analysten schmerzte zwar immer noch, als sie sich wieder an den Schreibtisch setzte, aber sie hatte einen Entschluss gefasst. Sie musste ihr Schicksal jetzt in die Hand nehmen, ohne Vorbedingungen.

    Mit einer gewissen Verbissenheit verließ sie das Büro früh am Mittag, um sich mit Jamie im Antica Roma zu Bruschetta und Pizza Scampi zu treffen, die mit richtig viel Knoblauch. Mit dem Essen wuchs der Appetit. Sie vergaß die beschissene Situation im Büro beinah für eine Weile, ungefähr bis in die Mitte des Tiramisu. Jamie beobachtete sie mit zunehmender Sorge. Abwesend winkte er den Kellner herbei, um zu bezahlen, dann hielt er es nicht mehr aus.

    »Was ist los, Schatz?«, fragte er und legte die Hand auf ihre.

    »Ich bin entlassen worden, fristlos.«

    Erst schien ihn die Nachricht nicht zu überraschen. Es dauerte, bis der Groschen fiel. Er zog die Hand zurück und antwortete kopfschüttelnd:

    »Du verarschst mich.«

    »Stimmt«, gab sie zu und sah ihn dennoch traurig an. Sie erhob sich und murmelte: »Genauso fühlt es sich aber an.«

    Auch er stand auf.

    »Gehen wir ein Stück?«, fragte sie.

    Er rümpfte die Nase. »Es ist saukalt draußen.«

    »Genau richtig.«

    Arm in Arm verließen sie das gemütliche Lokal. Er schlug den Kragen hoch und schüttelte sich. Ihre Schritte lenkten sie automatisch in Richtung Karpfenteich, dessen trauriger Anblick genau zu dem passte, was sie ihm zu sagen hatte.

    »Du beeilst dich besser, Liebes«, brummte er fröstelnd.

    »Weichling.«

    Sie küsste ihn mit einem flüchtigen Lächeln auf die Wange.

    »Haase geht Ende Monat in Rente.«

    Er blieb abrupt stehen, sah sie überrascht von der Seite an und sagte:

    »Und deswegen zwingst du mich in diese sibirische Kälte hinaus?«

    Ein trockener Lacher war die Antwort. »Null Grad nennst du kalt? Ihr Engländer seid doch alle Weicheier.«

    »Keine Verallgemeinerung bitte. Ich gehöre zur harten Sorte, wie du weißt.«

    »Klar, darum … Lassen wir das. Haases Ankündigung hat mich ganz schön aufgewühlt, weißt du.«

    »Das verstehe ich natürlich.« Er musterte sie misstrauisch und fügte an: »Da ist aber noch etwas. Es steht deutlich in dein Gesicht geschrieben.«

    Sie nickte langsam, seufzte auf und sprach endlich aus, was ihr auf der Seele brannte.

    »Es ist nicht nur die Sache mit Haase. Die ganze Atmosphäre am Arbeitsplatz geht mir auf den Geist. Der Staatsanwalt ist ein eingebildeter Narzisst, und die Arbeit langweilt mich.«

    Jamie nutzte die folgende kurze Pause für eine Zwischenfrage.

    »Wo ist eigentlich die Winter?«

    »Hat Karriere gemacht, nachdem sie den König abgeschossen hat. Sie ist jetzt Oberstaatsanwältin in Berlin.«

    »Gratuliere.«

    »Tja«, seufzte sie noch einmal. »Das waren glückliche Zeiten.«

    Er konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen und entgegnete:

    »Soweit ich mich erinnere, wolltest du die frühere Staatsanwältin mehr als einmal erwürgen.«

    »Stimmt, aber beim Nachfolger reizt mich nicht einmal das.«

    Der Karpfenteich war klein. Sie standen wieder am Ausgangspunkt, als er stehenblieb, sie an beiden Armen festhielt und ihr tief in die Augen sah.

    »Du brauchst eine Luftveränderung«, sagte er.

    Es war eine nüchterne Feststellung. Sie hatte gehofft, er würde so etwas sagen. Damit läge die Last der Entscheidung nicht allein bei ihr.

    »Wie hast du das nur wieder herausgefunden«, antwortete sie mit müdem Lächeln.

    Er zog sie an seine Brust, tätschelte ihren Rücken und sagte nach einer Weile:

    »Ich habe doch schon lange bemerkt, dass dich etwas bedrückt.«

    Sein Mitgefühl drückte auf die Tränendrüsen in ihrem derzeitigen, labilen Zustand. Sie gab sich einen Ruck und sprach aus, was sie in letzter Zeit immer häufiger dachte:

    »Am liebsten würde ich hier alles hinschmeißen und woanders ganz neu anfangen.«

    »Alles?«, platzte er mit gespieltem Entsetzen heraus.

    Sie versetzte ihm einen freundschaftlichen Stoß. »Ich meine natürlich die Arbeit. Euch beide kann ich schlecht allein lassen. Ihr Männer wisst euch ja kaum zu helfen.«

    Beide lachten. Es war kein befreites Gelächter. Das Problem ohne Lösung lastete auf der Seele. Jamie schüttelte sich.

    »Ich sollte jetzt wirklich an die Wärme, Schatz.«

    Sie eilten in ein nahes Café. Er wärmte seine empfindlichen Mediziner-Hände an der Kaffeetasse und nahm den Faden wieder auf.

    »Was hältst du davon, wenn wir umziehen?« Verblüfft suchte sie nach einer Antwort, als er weiterfuhr: »Nach Heidelberg zum Beispiel?«

    Die Gedanken begannen auszuwandern.

    »Warum ausgerechnet Heidelberg?«, fragte sie mechanisch.

    Er setzte sein Grinsen auf, das er stets benutzte, wenn er eine gewichtige Überraschung bereithielt.

    »Tolle Altstadt, Geschichte, gutes Bier«, gab er zu bedenken.

    Sie schüttelte den Kopf, wartete auf den wahren Grund.

    »Also«, begann er, »wie gesagt, ist mir dein Zustand schon eine ganze Weile aufgefallen.«

    Sie wollte protestieren. Er wehrte ab.

    »Lass mich ausreden, Liebes. Ich mache mir Sorgen, da habe ich mich umgehört. Kurz gesagt: Das Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg hat mir ein Angebot gemacht. Ich könnte sofort anfangen, da der Wechsel ja sozusagen innerhalb der Firma stattfinden würde.«

    Sie sah ihn mit großen Augen an, während sich ihre wirren Gedanken allmählich zu ordnen begannen.

    »Heidelberg«, wiederholte sie versonnen.

    Sie kannte die Stadt, erinnerte sich aber vor allem an die Horden von Touristen, die stets alle Plätze im schönen Café Schafheutle besetzten, weil sie alle den gleichen Reiseführer gelesen hatten.

    »Von Heidelberg wäre es nur ein Katzensprung nach Wiesbaden«, gab er zu bedenken. »Du könntest dich einfach dorthin versetzen lassen.«

    »Etwa eine Stunde Fahrt, wenn ich mich recht erinnere«, sagte sie nach einer Weile nachdenklich.

    Er stimmte begeistert zu und spekulierte optimistisch über bessere Staatsanwälte in Wiesbaden. Sie winkte lachend ab.

    »Ach, die sind alle gleich, nehmen sich viel zu wichtig.«

    WIESBADEN, KLOPPENHEIM

    »Thank God«, murmelte Jamie.

    Chris auf dem Rücksitz schreckte hoch. Ihr erster Blick galt dem Kindersitz. Lukas schlief weiter.

    »Was gibt’s?«, fragte sie verschlafen.

    »Die Ausfahrt, endlich keine Kolonne mehr.«

    »Wir sind gleich da«, stellte sie zufrieden fest.

    Wiesbaden, der ländliche Vorort Kloppenheim, bekanntes Gelände. Die Kirche von Nordenstadt mit den roten Ecken und dem markanten, zweistöckigen Zwiebelturm entlockte ihr ein Lächeln. Ein Gefühl erfüllte sie, als kehrte sie von einer langen Reise heim, denn in dieser Gegend hatte alles begonnen. Ihr Leben als Erwachsene nach dem Studium in Potsdam jedenfalls.

    »Nicht gerade Heidelberg«, bemerkte Jamie, »aber auch ganz nett.«

    Sie versuchte, seine wahren Gedanken zu erraten, beugte sich vor, musterte ihn und fragte:

    »Nett im Sinne der kleinen Schwester von grässlich?«

    »Nein, nein! Ich meine, man kann sich daran gewöhnen.«

    Sie verstand ihn gut. Es war ein Kompromiss. Beide wollten schnell Nägel mit Köpfen machen. Sie musste weg aus dem Knast in Berlin. Ihn reizte die neue Aufgabe in Heidelberg. Eine angemessene Bleibe dort in dieser kurzen Zeit zu finden, erwies sich als unmöglich, sofern man nicht über unbegrenzte finanzielle Mittel verfügte. Heidelberg, Deutschland überhaupt war eben nicht Texas oder Arizona, wo ein Haus mal kurz über Mittag im Diner für ein paar Tausend Dollar die Hand wechselte.

    »Es ist ja nur für eine Übergangszeit«, sagte sie, »und Lukas wird Caros altes Bauernhaus gefallen.«

    Er nickte mit tapferem Lächeln. Sie wechselte das Thema, um ihn abzulenken.

    »Dein Job in Heidelberg: Du wirst auch in der Klinik arbeiten?«

    »Ja, ich werde die Anwendung meiner Immuntherapie bei Pankreaskarzinomen überwachen. Die Warteliste ist lang, kann ich dir sagen.«

    Sonntag. Die Glocken läuteten, als sie beim Bauernhaus in Kloppenheim vorfuhren. Sie hob Lukas aus dem Kindersitz. Er schlug die Augen auf, sah sich neugierig um, drückte sein Stofftier an die Brust und stand im Nu draußen. Caro, ihre beste Freundin seit dem Studium, eilte ihnen entgegen, gefolgt vom gelben Labrador-Retriever, von dem sie ihr erzählt hatte.

    »Herzlich willkommen«, rief sie, drückte beide und wandte sich sofort an Lukas.

    »Wie heißt denn dein Hase, Lukas?«, fragte sie.

    Der Kleine sah sie beleidigt an, dann seine Eltern, unsicher, was er antworten sollte.

    »It’s a dog«, sagte er schließlich, während er der prüfenden Schnauze von Caros Hund auszuweichen versuchte.

    Chris zuckte die Achseln, als Caro sie verwirrt ansah.

    »Diese Rasse hat eben lange Ohren«, gab sie zu bedenken.

    »Aber klar doch, wie dumm von mir.« Caro wandte sich wieder an Lukas. »Wie heißt denn dein süßer Hund?«

    Lukas drückte die missratene Kreatur fester an die Brust.

    »Ollie.« Nach einem misstrauischen Blick auf Caros Haustier fragte er: »Und er?«

    »Er heißt Hofmann.«

    »Oma«, wiederholte Lukas.

    Ein kurzes, freundliches Bellen war die Antwort, dann wirbelte der Hund herum und rannte zur Scheune neben dem Haus.

    »Hofmann, soso«, lachte Chris, »nach dem Entdecker von LSD, oder irre ich mich?«

    »Eine Erinnerung an die gute, alte Zeit im Chemielabor der Uni«, antwortete Caro beiläufig.

    Sie beobachtete Jamie beim Ausladen. Zwei Sporttaschen, der Instrumentenkoffer und ein großer Reisekoffer standen neben dem Auto, als er die Hecktür zuklappte.

    »Das ist alles?«, fragte sie verblüfft.

    Jamie lachte. »Die Lkws stecken noch im Stau.«

    »Er meint den Lieferwagen«, beruhigte Chris.

    Hofmann kam wieder angerannt, sein eigenes Stofftier zwischen den Zähnen. Er legte den arg gebeutelten Bären Lukas vor die Füße und winselte leise.

    »Er will, dass du ihn fortwirfst«, sagte Jamie. »Then he brings him proudly back.«

    Lukas zögerte. Sein Vater machte es vor. Hoffmann legte den Bären bald wieder vor Lukas hin und wartete. Vorsichtig ergriff der Kleine das Spielzeug und warf es weg. Sofort lag der Bär wieder vor seinen Füßen. Lukas fasste Vertrauen. Lachend hob er das Stofftier auf und rannte mit ihm davon, Hofmann freudig hinterher.

    »Da haben sich zwei gefunden«, lachte Caro, »aber kommt doch rein.«

    Sie zogen in die leere Wohnung im ersten Stock ein. Das große Dachgeschoss gehörte auch dazu, ihr neues Musikzimmer und Spielzimmer für Lukas, der bald mehr Platz brauchen würde. Allein in der Kammer unter der ausladenden Dachkonstruktion beschlich sie ein Gefühl von Wehmut. Vielleicht waren es bloß romantische Erinnerungen an die ersten Jahre beim BKA, während denen sie hier gehaust hatte. Vielleicht aber sehnte sie sich auch jetzt schon zurück in die altehrwürdige Villa in Dahlem mit dem vor allem im Sommer herrlich duftenden Kräutergarten und dem Pavillon mit den unanständigen Geschichten.

    »Wir werden uns bald daran gewöhnen«, versprach Jamie, der sich auf leisen Sohlen angeschlichen und wie immer ihre Gedanken erraten hatte.

    »Sicher«, sagte sie tapfer. Lächelnd fragte sie: »Wie gefällt dir die Küche?«

    Er hatte sein Urteil über die Küche bestimmt schon gefällt. Sie war schließlich sein Reich, Koch sein zweiter Beruf, den er ebenso leidenschaftlich ausübte wie die medizinische Forschung.

    »Ganz in Ordnung«, sagte er.

    Begeisterung klang anders. Auch daran würde er sich gewöhnen.

    »Wir sollten hinuntergehen«, bemerkte sie. »Caro schmeißt eine Welcome Party.«

    Die Freundin unternahm alles, damit sie sich vom ersten Augenblick an wohlfühlten in ihrem neuen Zuhause. Das weckte Chris’ Misstrauen. Sie kannte Caro eher als nüchterne Minimalistin, die es zu Hause nicht allzu genau nahm mit der Perfektion, ganz im Gegensatz zu ihrer Arbeit als Chefin der Kriminaltechnik beim BKA. Sie nahm sie in einem günstigen Augenblick beiseite und fragte rundheraus:

    »Warum diese Show?«

    Caro verstand sofort.

    »Überkompensation vermutlich«, antwortete sie ohne Zögern.

    »Was musst du denn kompensieren?«

    Caro lächelte gequält. »Lange Geschichte, aber ich mache es kurz. Wir haben uns getrennt.«

    »Was?«, rief sie überrascht aus, laut genug, dass Lukas aufschreckte, der neben Hofmann eingenickt war. »Davon weiß ich ja gar nichts.«

    »Ist auch nichts, worauf ich stolz bin«, murmelte Caro etwas beschämt. »Es hat einfach nicht mehr gepasst.«

    »Seit wann lebst du ganz allein hier?«

    Caro schüttelte den Kopf. »Nicht allein. Das ist auch ein Teil der Geschichte.« Sie stockte. Nach kurzer Pause fügte sie an: »Anna wohnt jetzt bei mir, eine andere Freundin.«

    »Ach so, verstehe.«

    »Das bezweifle ich.«

    Caro wollte offensichtlich nicht weiter darüber sprechen. Chris ließ es dabei bewenden. Eines Tages würde sie das Geheimnis der seltsamen Bemerkung lüften. Hofmann wurde unruhig. Er stieß Lukas mit der Nase. Sie rief Jamie, der weiß der Kuckuck was suchte in Caros Wohnung.

    »You got to see this«, sagte er, ergriffen von seiner Entdeckung.

    »Was meinst du? Ich glaube, Hofmann braucht euch zwei Männer für einen Spaziergang.«

    »Gleich, aber sieh dir das an.«

    Sie und Caro folgten ihm in die Küche. Dort blieb er stehen, machte eine weit ausladende Handbewegung und wiederholte noch einmal:

    »Sieh dir das an!«

    »Eine Küche.«

    »Und was für eine! Modernstes Equipment, von allem das Beste, was es auf dem Markt gibt.« Eine bedeutungsschwangere Pause folgte. »Und alles nagelneu.«

    Sie warf Caro einen Blick zu, als wollte sie sich für ihn entschuldigen. Ihre Freundin schüttelte den Kopf.

    »Neu ist die Einrichtung nicht mehr, bloß unbenutzt.«

    Jamie starrte sie an, als hätte sie Chinesisch gesprochen. Eine solche Küche nicht zu benutzen, überforderte ihn gänzlich.

    »Mein Ex hat das alles angeschafft«, erklärte Caro. »Er hatte plötzlich die Idee, kochen zu müssen, hat es aber bald aufgegeben. Ich und Anna benutzen nur die Mikrowelle – und den Thermomix, manchmal.«

    Jamie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Caro hatte ungewollt zwei Wörter in einen Satz gepackt, die ein Kochkünstler wie Jamie nicht ausstehen konnte.

    »Können wir die Küche tauschen?«, fragte er mit schiefem Grinsen.

    Caro lachte. »Das wird schwierig, aber du bist hier jederzeit willkommen. Wir beide können zwar nicht kochen, essen und genießen aber sehr wohl.«

    Nachdem die beiden Männer mit Hofmann das Haus verlassen hatten, kam Chris endlich zur Sache.

    »Wie ist die Wetterlage?«, fragte sie.

    »Bei mir in der KTU?«

    Sie schüttelte den Kopf. »Dort bist du der Wettermacher. Das zählt nicht. Du hast doch deine Augen und Ohren überall, Caro. Wie sieht es bei SO aus?«

    Caro seufzte. »Tja, die schwere und organisierte Kriminalität – ich weiß nicht. In letzter Zeit ist es dort verdächtig ruhig. Jedenfalls gibt es zurzeit nur einen Auftrag, der bei uns gelandet ist.«

    Sie sprach nicht weiter. Chris wartete.

    »Mein Gott, muss ich dir alles aus der Nase ziehen?«, platzte sie nach einer Weile heraus.

    »Ich darf eigentlich nicht …«

    »Blödsinn!«, unterbrach sie. »Der Fall wird sowieso schon auf meinem Tisch liegen.«

    Caro begann widerwillig zu erzählen. Chris erinnerte sich, einen kurzen Bericht über den barbarischen Mord in Bingen gelesen zu haben. Mehr als ein paar Zeilen war der den Berliner Zeitungen nicht wert. Berlin hatte gerade andere Probleme. Hier im Westen allerdings warf die Tat hohe Wellen, wie Caro berichtete.

    »Es sind vor allem die Umstände, die der Chefetage in Wiesbaden offenbar Kopfzerbrechen bereiten.«

    »Ich wollte gerade fragen, weshalb sich das BKA für diesen Fall interessiert.«

    Caro zuckte die Achseln. »Es sieht schon ein wenig nach organisierter Kriminalität aus, obwohl viele Anzeichen auf Extremisten aus der Öko-Szene hindeuten.«

    »Das muss ja kein Widerspruch sein.«

    »Auch wieder wahr.«

    »Was weiß man über die Hintergründe?«

    »So gut wie nichts.«

    Das war nicht viel, aber die Akte auf ihrem Tisch würde vielleicht mehr hergeben.

    »Ist das Verhör beendet?«, fragte Caro schmunzelnd.

    Chris hatte gerade erst angefangen. Wichtiger als alle aktuellen Fälle war die Frage, welche Schlangengrube sie an ihrem neuen, alten Arbeitsplatz erwarten würde. Sie kannte den Laden und wusste, wie wichtig es war, potenzielle Gegner frühzeitig zu identifizieren. Die könnten auch die angenehmste Großwetterlage empfindlich stören. Mangels Haase wäre so etwas kaum zu ertragen.

    »Hassobjekte?«, fragte sie deshalb.

    Caro überlegte lange, zu lange für ihren Geschmack.

    »Komm schon«, drängte sie. »Es gibt bestimmt Querulanten, um die man einen großen Bogen machen muss.«

    Ihre Freundin schüttelte den Kopf in Zeitlupe. »Du wirst es mir nicht glauben, aber seit der alte Chef den Hut genommen hat, ist es ruhig, richtig langweilig.«

    Eine brandgefährliche Situation, dachte Chris. Keine offenen Konflikte am Arbeitsplatz bedeutete ihrer Erfahrung nach, dass es unter der Oberfläche gewaltig brodelte.

    »Nicht gut«, antwortete sie denn auch, »gar nicht gut.«

    Caro lachte. »Chris, der personifizierte Pessimismus.«

    »Realismus, wenn schon.«

    Caro hatte noch eine witzige Bemerkung beizusteuern. Lachend sagte sie:

    »Vielleicht ist es auch nur ruhig, weil gerade alle mit der kommenden fünften Jahreszeit beschäftigt sind.«

    »Karneval.«

    »Fastnacht«, korrigierte Caro. »Mainz ist nah.«

    Es klang wie eine Drohung.

    WIESBADEN

    Die Garage im Gebäude W2 des BKA in Wiesbaden war eng und unbekannt. Sie erwischte ihren freien Platz auf den letzten Drücker nach einer scharfen Rechtskurve. Das Auto stand nur noch im Parkfeld, wenn man sehr großzügig hinschaute. Sie nahm die Glock 9 mm aus dem Handschuhfach, steckte sie ins Holster, packte die Mappe auf dem Beifahrersitz und stieg aus. Ein Fiat 500, elektrisch, wie sie am Geräusch erkannte, fuhr aufs Parkfeld nebenan. Langsam, sehr langsam manövrierte er sich ein Stück weit ins Feld oder versuchte es zumindest. Der Fahrer hielt mitten in der schwierigen Übung an. Das Seitenfenster glitt herunter. Ein junger Mann, schlank, vielleicht noch nicht einmal dreißig, schwarze, glatte Haarsträhnen bis über die Augen, sah sie vorwurfsvoll an. Seine japanischen Wurzeln waren auf den ersten Blick zu erkennen, obwohl er akzentfrei Deutsch sprach.

    »Sie stehen schräg«, stellte er fest.

    Sie neigte den Körper nach links, nach rechts, stand wieder gerade und antwortete ernsthaft:

    »Ich glaube nicht.«

    »Ihr Auto meine ich. Ihr Auto steht schräg im Parkfeld.«

    Auch sein Gesicht verriet keine Anzeichen von Ironie. Hatte der Junge wirklich ein Problem mit der Art, wie sie parkte? Hatte er vielleicht gar ein Problem damit, wie Frauen im Allgemeinen parken? Sie zählte innerlich langsam bis drei, dann sagte sie ruhig:

    »Beweisen Sie es.«

    Statt sich zu ärgern, forderte er sie auf, näherzutreten.

    »Hier sehen Sie es auf den Millimeter genau.«

    Er zeigte auf eine Grafik aus der Zukunft auf seiner Frontscheibe.

    »Was ist das?«, rief sie verblüfft. »Ist das ein verdammtes Raumschiff oder was? Wollen Sie mich entführen? Vorsicht, ich bin bewaffnet.«

    »Ich auch.«

    Unglaublich, die ganze Frontscheibe diente als gestochen scharfer Bildschirm, dessen Figuren und Texte den Blick nach draußen perspektivisch korrekt überlagerten. Er deutete auf eine rote Zahl am linken Rand neben dem Symbol, das offensichtlich die Fahrertür darstellte.

    »8.2 Zentimeter Freiraum«, erklärte er. »Die Zahl ist rot, weil es für meine Körpermaße nicht mehr zum Aussteigen reichen wird. Verstehen Sie?«

    »Sie haben ja noch nicht mal eingeparkt.«

    »Die KI kann berechnen, was dann geschehen wird. Das heißt, ich darf hier nicht parken, wenn ich noch aussteigen will.«

    Sie wandte sich ab. »Dann bleiben Sie sitzen.«

    Ein paar Schritte weiter gab sie ihm den guten Rat, das nächste Mal ein Fahrrad zu benutzen. Das hätte sie vielleicht auch tun sollen. Sie fand ihren Schreibtisch leer vor. Ihr Name prangte immerhin schon an der Tür. Das zweite Namensschild fehlte noch. Vielleicht setzten die Chefs sie vorsichtshalber in ein Einzelbüro. Die hatten sich bestimmt bei Winter und Schwarz erkundigt. Gut so, dachte sie mit grimmigem Lächeln. Kaum hatte sie sich gesetzt, klopfte es. Drei Männer und eine Frau im mittleren Alter drängten ins Zimmer, das Begrüßungskomitee. Die Männer stellten sich als Kollegen im angrenzenden Büro vor. Die Frau begrüßte sie förmlich und stellte ihr ungefragt einen doppelten Espresso hin, ungesüßt ohne alles, ähnlich wie Haase in Berlin. Sie hieß Miriam und war offenbar der gute Geist der Abteilung.

    »Er schmeckt wenigstens nach Kaffee«, sagte sie wie als Entschuldigung.

    Chris nippte daran, trank einen Schluck und nickte anerkennend.

    »Kein Automatenkaffee«, stellte sie fest.

    Die Kollegen interpretierten das Urteil positiv.

    »Wir haben uns über Sie erkundigt«, beichtete einer mit angegrautem Haar.

    »Gut so.« Sie zwang sich zu einem ungezwungenen Lächeln. »Hätte ich auch getan. Man kann ja nie wissen, nicht wahr?«

    Small Talk schmerzte. Er ging gegen ihre Natur. Sie las in den Gesichtern, so gut es ging, ohne aufzufallen. Was sie sah, enttäuschte. Sie entdeckte keine Anzeichen von Verschlagenheit, keine anzüglichen Blicke, nicht einmal übertriebene Neugier. Die Kollegen und Miriam wollten einfach nur nett Hallo sagen. Sie dankte für den Kaffee und entließ sie mit dem Versprechen, etwas zu organisieren.

    »Nicht gerade heute Abend aber vielleicht Freitag.«

    Wieder allein griff sie zum Hörer, alarmiert und aufgewühlt. Falls hier alle so mit ihr umgingen, hätte sie ein gröberes Problem. An wem sollte sie unter diesen Umständen ihre schlechte Laune auslassen? Zu Hause ging das auch nicht. Der Staatsanwalt blieb ihre letzte Hoffnung. Lieber Gott, sorge dafür, dass der wenigstens ein Arsch ist, betete sie im Stillen. Der neue Anschluss, den Haase ihr aufgeschrieben hatte, blieb stumm. Kein Haase mehr, dachte sie traurig und legte auf. Vermutlich bereits wieder auf dem Weg zurück zum Sirius, von wo er zweifellos hergekommen war.

    Der Staatsanwalt! Kaum gedacht, klingelte das Telefon. Axel Krüger wollte sie gerne sprechen, hieß es. Auf dem Namensschild am Anwaltsbüro fehlte der sonst übliche akademische Titel, sympathisch. Staatsanwalt Krüger erhob sich sofort von seinem schlichten Sessel und trat ihr lächelnd entgegen.

    »Hauptkommissarin Dr. Roberts«, sagte er mit entschlossenem Händedruck. »Willkommen zurück in der Höhle des Löwen.«

    »Vergessen Sie den Doktor, Chris Roberts genügt.«

    Freundlich, bescheiden, nach der Einrichtung des Büros zu urteilen, und mit einem gewissen Humor gesegnet: Zu viel des Guten, dachte sie und blieb vorsichtig. Wer war der Löwe? Axel Krüger stellte sich rasch als sportlicher Mittvierziger heraus, der nicht nur für den New York Marathon trainierte, den er jedes Jahr absolvierte, sondern auch nicht viel von beiläufiger Konversation hielt. Das Gespräch drehte sich bald um die Ermittlung, die er mit ihrer Hilfe voranzutreiben gedachte.

    »Unsere Aufgabe ist es nicht primär, den Mord in Bingen aufzuklären«, betonte er. »Ich möchte wissen, ob es ein terroristisches Motiv gibt. Falls ja, müssen wir mit künftigen Anschlägen rechnen? Wie können wir sie verhindern?«

    Chris lächelte. Auf diesem Terrain fühlte sie sich zu Hause. All die Jahre beim BKA hatte sie nichts anderes getan, als nach Hintermännern zu suchen, um wo immer möglich die letztlich Verantwortlichen für Gräueltaten wie in Bingen zur Strecke zu bringen.

    »Wir suchen die wahren Täter«, fasste sie zusammen.

    Er nickte zufrieden. »Wir verstehen uns.«

    Nachdem er sie über den Stand der Arbeit informiert hatte, wollte sie sich verabschieden. Es war alles gesagt.

    »Da ist noch etwas«, hielt der sie zurück.

    Sie wartete. Es schien ihm Mühe zu bereiten, weiterzusprechen, als wäre es ihm peinlich. Jetzt kommt’s!, erschreckte sie die innere Stimme. Er räusperte sich nervös.

    »Setzen Sie sich doch wieder.«

    »Danke, ich stehe lieber.«

    Er versuchte, die plötzliche Spannung mit einem gelösten Lächeln zu überwinden, was ihm gründlich misslang.

    »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten«, sagte er schließlich.

    Er bat sie, die Kommissarin, um einen Gefallen. So etwas hatte sie noch von keinem Staatsanwalt gehört – außer vielleicht von Generalbundesanwalt Osterhagen, aber der war ein Sonderfall. Was wird das?, fragte sie sich, bereit zum rettenden Sprung. Staatsanwalt Krüger sah auf die Uhr.

    »Er müsste jeden Moment eintreffen«, murmelte er.

    »Von wem sprechen Sie?«

    »Von Ihrem Assistenten.« Bevor sie auf die Hiobsbotschaft reagieren konnte, sprach er weiter: »Der junge Mann ist hochintelligent wie Sie, hat beste Abschlüsse aber noch keinerlei Erfahrung. Ich bitte Sie, ihn unter Ihre Fittiche zu nehmen. Bei Ihnen lernt er am schnellsten, bin ich überzeugt.«

    Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Ich habe schon ein Kind zu Hause. Das genügt mir im Augenblick vollkommen.«

    Sie sprach hastig, um ihre Abscheu vor so einer Aufgabe ohne Unterbrechung loszuwerden. Offenbar musste sie noch deutlicher werden:

    »Überdies eigne ich mich überhaupt nicht als Lehrkraft, da können Sie alle fragen, die es bei mir als Schüler versucht haben.«

    Ein tapferes Lächeln war die Antwort. »Ich fürchte, Sie werden es noch einmal versuchen müssen. Wir sind auf solchen Nachwuchs angewiesen, das werden sie bald verstehen.«

    Sie kam nicht mehr dazu, zu antworten. Es klopfte. Die Tür ging auf hinter ihrem Rücken. Krüger begrüßte den Besucher erfreut:

    »Da sind Sie ja, Herr Tanaka. Bitte nehmen Sie Platz.«

    Der Japaner aus der Garage trat ein. Staatsanwalt Krüger stellte ihn als Joshi Tanaka vor, Kommissaranwärter. Der junge Mann deutete eine Verbeugung an und streckte ihr die Hand entgegen.

    »Joshi, wir kennen uns.«

    Sie ergriff die Hand zögernd und murmelte: »Das glaube ich nicht.« Laut sagte sie: »Chris Roberts, freut mich, Joshi Tanaka.«

    »Ach, Sie kennen sich schon?«, fragte Krüger überrascht und beinah ein wenig enttäuscht, wie ihr schien.

    »Ja«, antwortete Joshi.

    »Na ja, kennen«, sagte sie. »Wir sind uns in der Garage begegnet.«

    Es gab durchaus noch Luft nach oben bezüglich des Kennenlernens. Sie glaubte allerdings nicht, dass sie das sonderlich interessieren würde. Während Staatsanwalt Krüger sie beide auf eine fruchtbare Zusammenarbeit einstimmte, musterte sie den jungen Mann ungeniert und hörte nur mit einem Ohr zu. Joshi erging es ähnlich. Als wären sie beide allein, sagte er unvermittelt:

    »Ich kann die Software mit der Einparkhilfe in Ihrem Auto installieren. Ist eine kurze Sache.«

    »Unterstehen Sie sich!«, platzte sie erschrocken heraus.

    »Die Hauptkommissarin hat nämlich …«, wandte er sich an den Staatsanwalt.

    Sie unterbrach ihn sofort: »Unterstehen Sie sich!«

    Axel Krüger gefiel die Auseinandersetzung. Lachend sagte er:

    »Ich sehe, Sie beide haben eine Menge zu besprechen. Ich will Sie nicht länger aufhalten.«

    Joshi folgte ihr auf den Fersen, während sie fast im Laufschritt ins Büro zurückkehrte. Sie brauchte jetzt Ruhe, hatte sie sich doch den ersten Arbeitstag in Wiesbaden ganz anders vorgestellt. Falsch, sie hatte sich gar nichts vorgestellt und schon gar nicht so etwas. Joshi drängte hinter ihr ins Zimmer.

    »Haben Sie kein Zuhause?«, fragte sie gereizt.

    Er setzte sich ihr gegenüber an den freien Arbeitsplatz und antwortete mit derselben emotionslosen Stimme wie beim Staatsanwalt:

    »Doch, ich wohne in einer Zweizimmerwohnung zehn Autominuten vom BKA.«

    »Was tun Sie dann noch hier?«

    Es entfuhr ihr einfach. Die Ruhe und betonte Sachlichkeit des Japaners provozierte sie. Nach ihrer halbherzigen Entschuldigung sagte er:

    »Das ist mein Arbeitsplatz.«

    Tschüss Einzelbüro. Der Tag konnte nur besser werden. Joshi schloss den Schreibtisch auf, entnahm ihm Büromaterial und ein Dossier, ordnete alles peinlich genau auf der blitzblanken Tischfläche und schlug die Akte auf. Er entnahm ihr eine Plastikmappe mit Computerausdrucken und schob sie auf ihren Schreibtisch.

    »Das sind meine Recherchen zum Fall«, bemerkte er dazu. »Ich habe sie Ihnen gemailt aber zur Sicherheit auch ausgedruckt.«

    »Falls ich den Computer nicht bedienen kann, verstehe.«

    »So war das nicht gemeint.«

    Sie winkte ab. »Vergessen Sie es, war ein Scherz.«

    »Ach so«, antwortete er beruhigt. Wie zu sich selbst fügte er an: »Wir Berliner verstehen eben nicht alle Scherze sofort.«

    Sie horchte

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