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Die Blockade
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eBook590 Seiten6 Stunden

Die Blockade

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Über dieses E-Book

Zwölf Wörter, und an jedem klebt Blut, denn nur dieser Schlüssel öffnet den Zugang zu den Millionen in der Blockchain.

Die Familie des deutschen Botschafters in London wird massiv bedroht. Hauptkommissarin Chris Roberts vom Bundeskriminalamt soll verdeckt ermitteln. Ein paar Tage Urlaub in London, freut sie sich, dann wird die Tochter des Botschafters von ihrem Arbeitsplatz weg entführt.
Nur sie kennt den Schlüssel zu den Millionen in der Blockchain von Jacks Start-up. Die Suche nach dem Geheimcode wird zur Hetzjagd. Eine Blutspur zieht sich durch halb Europa und niemand kennt das Motiv. Bis Chris im chinesischen Shenzhen Beweise findet und die Falle zuschnappt.
Der 10. Fall mit BKA–Kommissarin Chris
SpracheDeutsch
HerausgeberXOXO-Verlag
Erscheinungsdatum7. März 2022
ISBN9783967526721
Die Blockade
Autor

Hansjörg Anderegg

Hansjörg Anderegg wurde 1947 in St. Gallen in der Schweiz geboren und wuchs dort auf. Nach einer Ausbildung als Chemielaborant und der Matura begann er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) mit dem Studium der Mathematik und Physik, das er als Mathematiker abschloss. Er arbeitete anschließend über dreißig Jahre in Europa, den USA und Asien als Computerfachmann und Manager in der Entwicklung, der Beratung und dem Verkauf von Software für wissenschaftliche, technische und finanzanalytische Anwendungen. Seine Erfahrungen verarbeitet er als Autor von Kriminalromanen und Thrillern mit technisch-wissenschaftlichem Hintergrund.

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    Buchvorschau

    Die Blockade - Hansjörg Anderegg

    KAPITEL 1

    OSTBERLIN, 1988

    Der Rauch stach in die Nase, bevor er das Haus sah. Angst und Sorge verdrängten das Hochgefühl augenblicklich, mit dem er den VEB-Spezialfahrzeugbau verlassen hatte. Der frühe Feierabend, für den ihn Kollege Hoffmann deckte, mochte politisch nicht ganz korrekt sein, aber die Arbeit am Haus war wichtiger. Die letzte Steigung vor dem alten Holzbau bewältigte er hustend und keuchend schneller als je zuvor, dann versagten seine Muskeln. Das Fahrrad fiel scheppernd hin. Er sank in die Knie, als wollte er den Gott des Feuers um Gnade bitten.

    Flammen schlugen aus dem Dach. Das Holz der Frontseite brannte wie Zunder. Ein Fenster barst. Dichter schwarzer Rauch quoll heraus. Er schlug sich an die Stirn, kniff sich in die Wange. Das musste ein Albtraum sein.

    »Jochen«, sagte eine Nachbarin, verschwitzt, den leeren Wassereimer in der Hand. »Wir versuchen zu retten, was zu retten ist, bis die Feuerwehr eintrifft. Die Flammen breiten sich rasend schnell aus. Es tut mir leid …«

    Der Albtraum würde nicht enden. Ächzend raffte er sich auf und ging auf das Höhenfeuer zu, das einst sein Haus gewesen war. Er hörte die Rufe der Helfer nicht, ignorierte die Gluthitze. Ein Fußtritt öffnete die halb verbrannte Haustür. Beißender Qualm empfing ihn. Das Treppenhaus stand in Flammen. Das alles spielte jetzt keine Rolle. Er musste doch irgendetwas tun können, irgendetwas! Das Gas in der Küche abdrehen zum Beispiel. Auf halbem Weg brach er zusammen. Es roch nicht nach Gas, es stank nach Benzin, schoss ihm durch den Kopf, bevor er das Bewusstsein verlor.

    »Jochen, wach auf!«, rief die Nachbarin. »Was machst du für Sachen.«

    Verwirrt sah er sie an. War doch alles nur ein schlimmer Traum gewesen? Er lag auf einer Trage im Krankenauto. Durch die offene Hecktür fiel der Blick auf die schwarze Ruine seines Hauses. Die Feuerwehr löschte die letzten Flammen. Obwohl ihm das Atmen schwerfiel, erhob er sich, schob die besorgte Nachbarin beiseite und eilte zum nahen Fernsprechhäuschen. Zitternd suchte er den Zettel in der Hosentasche, worauf seine Nele die Nummer des Hotels gekritzelt hatte, wo sie heute arbeitete. Es gelang ihm erst beim zweiten Versuch, die Verbindung herzustellen.

    »Frau Fuchs ist nicht im Haus«, war die knappe Antwort auf seine Frage.

    »Wie – ihre Schicht endet doch erst heute Abend. Wann hat sie denn das Hotel verlassen?«

    Nur mühsam vermochte er zusammenhängend zu sprechen. Die Stimme drohte zu versagen. Wo könnte sie sein? Ausgerechnet jetzt, da er sie dringend sprechen musste, war sie nicht zu erreichen. Krächzend suchte er Hilfe.

    »Wissen Sie, wo ich sie finden kann? Hat sie eine Nummer hinterlassen?«

    Zwecklos, die Leitung war tot. Er würde sie nicht auf den Schock vorbereiten können. Mit feuchten Augen trottete er zum rauchenden Trümmerhaufen zurück. Kaum angekommen ging ein Raunen durch die Helfer und Gaffer. Hektik bei der Feuerwehr breitete sich rasch auf die Leute aus.

    »Was ist los?«, fragte er heiser.

    »Sie haben etwas gefunden.«

    Er glaubte, sein Herz pochen zu hören, als er auf den Kommandanten zutrat.

    »Das sollten Sie sich nicht ansehen«, warnte der, bevor er ein Wort sagte. »Kümmern Sie sich um den Mann, verdammt noch mal!«, schrie er den Sanitätern zu und ließ ihn stehen.

    Er ließ sich nicht abschütteln. Schneller als der Kommandant stand er beim Trupp, der aus dem Haus trat. Zwei Männer schleppten etwas auf einer Trage, schwarz wie die verkohlten Balken. Sein Atem stockte. Er vermochte nicht zu schreien. Nur ein halb ersticktes Gurgeln war zu hören, als er vor der Trage zu Boden sank. Die Umgebung löste sich auf. Den Fetzen ihres Kleides aber, den die Flammen verschont hatten, erkannte er deutlich – und den Ehering, den er ihr erst vor zwei Wochen an den Finger gesteckt hatte. Er spürte die Hände nicht, die ihn wegzerrten, weg von seiner Nele und dem ungeborenen Kind, das ihnen niemals zulächeln würde. Er spürte den Stich der Beruhigungsspritze und schloss die Augen. Das grauenhafte Bild des verkohlten Leichnams erschien umso deutlicher vor seinem inneren Auge. Er wusste, es würde niemals verschwinden, wohin auch immer er flüchtete und wie viele elende Jahre er noch zu leben verdammt war. Von nun an gab es überhaupt nur noch ein Ziel, für das zu leben sich lohnte: Er musste herausfinden, was geschehen war.

    ***

    Wie durch Watte in den Ohren vernahm er das aggressive Hupen. Das Gesicht des Mannes am Seitenfenster passte nicht zu seiner Geschichte, das Schachbrettmuster am Hut der Uniform noch weniger.

    »Sir, Sie halten den Verkehr auf. Ist alles in Ordnung?«

    London Metropolitan Police. Der Mann sprach Englisch. Er war zurück in der Gegenwart, das grauenhafte letzte Bild seiner Nele ebenfalls.

    »Fahrzeugpapiere und Führerschein«, verlangte der Constable, da er nicht sofort antwortete.

    Das Hupen hinter seinem Pick-up endete erst auf ein energisches Zeichen des Polizisten. Er ließ sich Zeit mit der Prüfung der Papiere.

    »Sie wissen schon, dass Sie hier seit bald zehn Minuten den Verkehr blockieren?«

    Er wusste es nicht, nickte dennoch und murmelte eine Entschuldigung.

    »Haben Sie getrunken?«

    »Ich trinke seit dreißig Jahren nicht mehr. Sonst wäre ich längst tot.«

    Eigentlich nicht die schlechteste Lösung, dachte er dabei. Der Constable war zufrieden mit der Antwort und gab die Papiere zurück. Das Hupkonzert begann erneut.

    »Passen Sie auf sich auf«, mahnte der genervte Ordnungshüter und fügte mit Blick aufs Lichtsignal hinzu: »Es ist wieder grün.«

    BERLIN

    Chris betrachtete ihren leeren Schreibtisch mit einem gewissen Schuldgefühl. Ihr Arbeitsplatz im BKA-Gebäude am Treptower Park wirkte verlassen. Nur die Namenstafel neben dem toten Bildschirm behauptete kühn, dass hier Hauptkommissarin Dr. Christiane Roberts-Hegel arbeitete. In Wahrheit vermied Chris das Büro wann immer möglich. Sie brauchte den Kontakt mit den Guten und den Spitzbuben draußen, egal, wo in der Welt sie sich verkrochen. Es gab nur einen, allerdings guten Grund, diesen Ort aufzusuchen: Haases Kaffee. Ihr Fallanalytiker Jens Haase übte seinen Beruf und den des Barista mit Leidenschaft und absoluter Perfektion aus. Für den Ristretto, den besonders starken Espresso aus immer wieder neuen, überraschenden Lagen, würde sie töten. Ohne Haases schnelle und gründliche Recherchen und Briefings andererseits wäre sie selbst tot, war sie überzeugt.

    »Wenn Sie einverstanden sind, leite ich den fertigen Bericht direkt an Staatsanwältin Winter weiter«, sagte er unter der Tür.

    »Perfekt, danke.«

    Er würde auch ohne ihr Zutun einen sauberen und vollständigen Bericht abliefern. Was sollte sie ihm da noch ins Handwerk pfuschen? Mit Blick auf ihren Saxofon-Koffer meinte er:

    »Scheint eine lange Nacht zu werden.«

    »Jamsession in Potsdam, wie in alten Tagen«, antwortete sie lächelnd. »Jamie wird auch da sein.«

    »Eine Jamiesession also.«

    Sie lachte laut auf. Ihr Ehegatte, der Mediziner Dr. Jamie Roberts, war vollkommen unmusikalisch, aber er hatte versprochen, bis zum bitteren Ende der Session auszuharren. Haases Wortschöpfung musste sie sich merken. Diese Art Humor war sie nicht gewohnt von ihm, denn er war ein Außerirdischer. Haase hielt sich zu jeder Tages-und Nachtzeit in der Nähe seines Computers und der Kaffeemaschine auf, allzeit bereit für ihre Fragen und Probleme. Nachts verwandelte er sich wohl selbst in einen Computer oder eine seiner Kaffeetassen. Jedenfalls hatte ihn noch niemand im Büro schlafen sehen. Sie kannte auch niemanden, der ihn je essen gesehen hätte. Er lebte einzig von seinem Kaffee.

    «Ein Tässchen vom kolumbianischen Arabica auf den Weg?«, fragte er.

    Sie nickte dankbar. Der Duft der neuen Kreation entschädigte locker für die zehn Minuten zusätzliche Büroluft. Haase würde also ihren Bericht für die Staatsanwaltschaft schreiben und bedankte sich dafür mit einem Gedicht von Kaffee. Diese Art Tauschgeschäft war vollkommen normal in seiner Welt. Er musste ein Alien sein, keine Frage.

    Ihr Handy klingelte: Jamie.

    »Du hast endlich eine Ausrede gefunden«, sagte sie.

    Vorauseilender Pessimismus half manchmal, unangenehme Nachrichten besser zu verkraften.

    »Das traust du mir zu, meine Liebe?«

    »Deine Kreativität hat mich schon oft verblüfft, zum Beispiel in der Küche.«

    Haase räumte die leere Tasse weg und ließ sie allein.

    »Das ist ganz was anderes«, entgegnete Jamie lachend. »In der Küche muss ich das Klischee widerlegen, Engländer könnten nicht kochen.«

    »Was dir ganz ordentlich gelungen ist.« Sie ergriff den Instrumentenkoffer und verließ das Büro, um endlich andere Luft zu atmen. »Also, was wolltest du mir sagen, Liebster?«

    Es musste dringend sein, wenn es nicht bis zum Abend warten konnte.

    »Kannst du dir das nicht vorstellen?«

    Genau die Art Gegenfrage, die sie fürchtete wie die Grippe im Januar. Um sie zu beantworten, musste sie sich erinnern, was ihn zurzeit am stärksten beschäftigte. Sie hätte ihm also zuhören sollen, statt über ihren Fällen zu brüten. Er ließ sie kurz zappeln, dann erbarmte er sich.

    »Ich habe gerade die Zusage für den klinischen Test erhalten. Wir werden ihn in der Charité durchführen. Nächste Woche geht’s los.«

    In der Stimme des coolen Engländers schwang ungewöhnlich starke Emotion mit. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, wie wichtig diese Zusage für den Mediziner sein musste, gab sich aber Mühe, die Begeisterung zu teilen. Das Problem war nur, dass sie sich immer noch nicht erinnerte, wovon er sprach.

    »Wir haben oft darüber diskutiert«, fuhr er ungerührt fort. »Du erinnerst dich: pränatale Gentherapie, CRISPR?«

    Bruchstücke blitzten auf in ihrem Gedächtnis.

    »CRISPR/Cas–9, klar!«, rief sie begeistert. Plötzlich war das richtige Stichwort wieder präsent. »LSD! Das ist es doch. Du willst beweisen, dass LSD mit einer Gentherapie am Embryo geheilt werden kann.«

    »Ich hätte es etwas anders formuliert, aber du liegst völlig richtig. Die Lysosomal Storage Disorder, kurz LSD, kann durch korrigierte Gene eliminiert werden. Das wissen wir längst. Aber jetzt geht’s ums Ganze, verstehst du? Wir werden ein Kind noch im Mutterleib von diesem sonst unheilbaren Gendefekt befreien. Es wird ein normales, gesundes Leben führen können ohne Angst, zu erblinden oder frühe Demenz zu entwickeln …«

    »Verstanden!«, unterbrach sie rasch. Die Zeit wurde knapp. Sie musste sich noch einspielen vor dem Konzert in der alten Alma Mater. »Ich sehe, du bist ganz aus dem Häuschen, und ich freue mich mit dir. Wir sprechen heute Abend weiter, ja?«

    Als sie aus der Garage fuhr, drehte sie Charlie Parker so laut auf, dass sie das Telefon nicht klingeln hörte. Sie horchte kurz auf, als das Saxofon-Solo von einer Verkehrsmeldung unterbrochen wurde. Man riet allen Verkehrsteilnehmern, das Gelände rund um die Charité auf jeden Fall zu meiden. Dort war eine Demo im Gang. Die Polizei rechnete mit gewalttätigen Ausschreitungen.

    »Die Charité ist ein Krankenhaus, ihr Idioten!«, rief sie und drehte die Musik noch lauter.

    ***

    Jamie beobachtete, wie sich der Mob vor dem Haupteingang formierte. Am Fenster des improvisierten Büros im zweiten Stock saß er in der ersten Reihe. Noch konnte er die handgeschriebenen Transparente nicht lesen. Ein weiterer Versuch, exorbitante Gesundheitskosten durch Protest zu senken? Er verspürte ein wenig Mitleid mit den meist Jugendlichen, die sich da unten versammelten. Immer länger gesund leben war nun mal nicht mit Sparprogrammen zu schaffen. Die Demonstration würde nicht friedlich bleiben. Andere Beobachter hatten wohl die Schlagstöcke in einzelnen Händen auch bemerkt. Jedenfalls mischten sich bald die Sirenen der Einsatzwagen in die lauter werdenden Schlachtrufe der Menge.

    Er schloss das Fenster und erschrak. Das erste Transparent, das er lesen konnte, wirkte wie eine schallende Ohrfeige. Hände weg vom ungeborenen Leben, stand da. Vom Text darunter konnte er nur Eingriff in Gottes Werk entziffern. Nach einer Schrecksekunde durchzuckte ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Der Mob hatte es auf ihn, die Kolleginnen und die ganzen Vorbereitungen für den bevorstehenden Eingriff abgesehen. Eine Horde vermummter Gestalten tauchte wie aus dem Nichts auf und drang ohne Widerstand in die Halle ein. Angesichts der Baseballschläger wollte er sich nicht vorstellen, was mit Leuten geschah, die sich ihnen in den Weg stellten.

    »Bringt euch in Sicherheit, die kommen zu uns!«, rief er in den Flur.

    »Die Security antwortet nicht«, klagte eine blasse Kollegin, wie gelähmt im Vorbereitungszimmer stehend, das als Testlabor diente.

    Die Geräte und Substanzen für die Therapie gab es nur hier, alles Unikate. Die mussten sie unbedingt vor dem Mob schützen. Der erste Vermummte tauchte aus dem Treppenhaus auf und erblickte sie sofort. Er rief den andern etwas zu und stürmte auf ihn los. Das Plakat an der Wand wirkte dabei wie eine Einladung. In seiner Euphorie hatte Jamie es von einem begabten Assistenten malen lassen, um dem Personal und jedem, der es wissen wollte, zu erklären, was sie vorhatten. World’s first prenatal gene therapy, verkündete die fette Überschrift stolz und zuversichtlich.

    Die Kollegin erwachte aus ihrer Starre.

    »Die dürfen hier nicht rein!«, rief sie und schlug die Tür zu.

    Es gab keinen Schlüssel, also zerrten sie das nächste Pult als Barrikade unter den Türgriff. Es reichte bei Weitem nicht, um die Tür zu blockieren. Die geballte Kraft von drei, vier Chaoten schob das Möbel beiseite wie eine Kartonschachtel. Die Kollegin schrie auf. Ein erster Schlag traf die empfindliche Hochgeschwindigkeits-Zentrifuge, nur Zentimeter von ihrer Hand entfernt. Er wollte sie aus der Gefahrenzone zerren. Zu spät: Ein Bulldozer überrannte ihn, den Schläger schwingend. Jamie verlor das Gleichgewicht, prallte auf eine harte Kante. Der Bulldozer landete auf ihm. Er spürte einen stechenden Schmerz im rechten Arm, dann schwanden seine Sinne.

    Der Druck auf der Brust war immer noch da, als er die Augen aufschlug. Phantomschmerzen, diagnostizierte er, denn er lag auf einem Krankenbett, das ein Pfleger durch die Gänge lotste. Chaoten waren keine mehr zu sehen. Der Lärm hatte sich gelegt. Chaos herrschte nur in seinem Kopf.

    »Was ist geschehen?«, fragte er in seinem überdeutlich artikulierten Deutsch, wobei jedes Wort schmerzte. »Wie geht es der Kollegin?«

    »Ganz ruhig. Sie sollten nicht sprechen, Doktor. Ich bringe Sie zur Chirurgie. Ihr Arm ist gebrochen.«

    Er tauchte wieder ab in einen Dämmerzustand. Die Vorbereitung der Operation lief wie ein Film ab, der ihn nicht betraf. Beim zweiten Erwachen blickte er ins Gesicht seiner Hauptkommissarin.

    »Ich wäre wirklich bis zum Ende geblieben, Liebes«, versicherte er lächelnd.

    Chris küsste ihn vorsichtig und murmelte weinerlich:

    »Ich dumme Kuh bin einfach weitergefahren. Erst kurz vor Potsdam habe ich Haases Nachricht abgehört. Entschuldige.«

    »Wenigstens musstest du mich nicht lange suchen.«

    »Du solltest nicht so viel reden, sagt der Arzt. Deine Rippen sind gequetscht.«

    Er hatte so etwas vermutet. Das war allerdings das kleinste Problem.

    »Halb so wild. Wie geht’s der Kollegin, sonst jemand verletzt?«

    Sie schüttelte den Kopf. »Der schwarze Block hatte es nur aufs Inventar abgesehen. Das ging allerdings gründlich in die Brüche. Tut mir leid für dein Projekt.«

    »Und mir für die Patientin — und dein Konzert.«

    »Nicht unser bester Tag«, murmelte sie bitter.

    »Das Team wird natürlich ohne mich weitermachen. Wenn ich den Verband an meinem Arm richtig interpretiere, falle ich für zwei Monate aus.«

    »Der Arzt hat von vier Monaten gesprochen.«

    »Ach Quatsch, du kennst die Ärzte. Die übertreiben gerne.«

    Das Lachen verging ihm schnell.

    »So sieht also eine Auszeit aus«, sagte er nach einer Weile traurig.

    »Nicht, wenn wir sie gemeinsam genießen.«

    »Ist das dein Ernst?«

    Sie nickte. »Vielleicht Zeit, deine alte Heimat zu besuchen.«

    »England?«

    »Gibt’s noch eine andere?«

    Immer wieder für eine Überraschung gut, dachte er versonnen lächelnd.

    FOWEY, CORNWALL

    Etwas abgelegen aber dem Vorhaben durchaus angemessen, dachte Jack, als er aus dem Taxi stieg. Die viktorianische Villa lag in einem kleinen Park auf einer Terrasse über dem Hafenstädtchen am River Fowey. Die spektakuläre Landschaft stand der Architektur des Hauses in nichts nach, selbst im strömenden Regen. Ein idealer Rückzugsort für gestresste Londoner Banker, um an einem entspannten Wochenende eine der wichtigsten strategischen Entscheidungen ihrer Karriere zu treffen. Sie würden sich dennoch nicht entscheiden können. Er kannte die Typen. Deshalb war er selbst hergereist und wollte sich nicht auf seine Spezialisten verlassen, die zwar entschieden mehr von der Technik und den Risiken verstanden aber eben nicht Chef waren. Das hier war Chefsache.

    Die junge Frau, die mit Riesenschirm auf ihn zu eilte, überstrahlte die Sintflut mit ihrem Lächeln und der krausen, roten Mähne, dass es ihn wärmte wie jedes Mal, wenn sie ihn ansah.

    »Jack, was stehst du im Regen rum?«, rief sie lachend.

    Sie zog ihn unter dem Schirm an sich, verschloss seinen Mund mit Lippen so rot wie ihr Haar und wollte ihn nicht wieder loslassen.

    »Katja«, versuchte er zu artikulieren, worauf sie den Griff lockerte. »Dein großer Tag, was?«

    Ohne Eile schlenderten sie zum Haus. An so einem Tag musste man jedes Wetter einfach ignorieren, als fände es nicht statt.

    »Dein großer Tag«, gab sie schmunzelnd zurück.

    Dafür würde er kämpfen, die Skeptiker notfalls in der Luft zerreißen. Sein Start-up war dabei, den ganz großen Deal zu landen. Das ging nicht ohne Kollateralschaden. Katja wusste es genauso wie er. Sie brauchten nicht darüber zu sprechen. Er folgte ihr zu ihrem Zimmer, einer ziemlich düsteren Wohnung mit schweren Gardinen an den Fenstern und dunklen Möbeln aus dem Fundus von Queen Victoria.

    »Mister Scrooge nicht zu Hause?«, fragte er scherzhaft.

    »Der erste Eindruck täuscht, mein Lieber. Das Bad ist top mit Regendusche.«

    »Eigentlich habe ich den Regen allmählich satt«, murrte er.

    »Kann ich verstehen. Beeil dich. Die Kollegen warten nicht gerne mit dem Sunday roast.«

    Sie hatte wie oft ein wenig übertrieben. Die einzige Dame und die drei Herren unterhielten sich bereits angeregt über vollen Tellern, als er im Restaurant eintraf. Niemand wartete auf ihn. Er war derjenige, der dieses Projekt unbedingt wollte. Das war ihm klar. Er kannte die beiden Executive Vice Presidents der Gordon United Bank noch nicht persönlich, wohl aber Harry Walsh, den Verantwortlichen für den Geschäftsbereich Trade Finance, Handelsfinanzierung. Katja hatte das Geschäft mit Import- und Exportkrediten im Wesentlichen von ihm gelernt. Umso erstaunter nahm Jack dessen geradezu kühle Reserviertheit bei der Begrüßung zur Kenntnis. Darauf war er nicht vorbereitet. Er hatte Walsh auf seiner Seite gewähnt. Katjas vielsagender Blick entging ihm nicht. Er kam nur etwas gar spät seiner Meinung nach. Carter, der das Firmenkundengeschäft der Bank leitete, brach das Eis mit der Bemerkung:

    »Endlich bekommt die Blockchain ein Gesicht.«

    »Dann wissen Sie jetzt alles über die neue Technologie, und ich darf mich hemmungslos am Büfett bedienen«, gab er lachend zurück.

    »Den Yorkshire Pudding kann ich vorbehaltlos empfehlen«, versicherte Ross grinsend, der Chefjurist der Gordon United Bank.

    Walsh enthielt sich eines Kommentars. Katja begleitete ihn ans Büfett.

    »Tut mir leid wegen Harry«, murmelte sie. Die Lippen bewegten sich kaum dabei.

    »Du hättest mich warnen müssen.«

    »Konnte ich nicht! Erst seit heute Mittag zeigt er mir die kalte Schulter. Keine Ahnung, was ihm über die Leber gekrochen ist.«

    »Er wird doch nicht eifersüchtig sein?«

    »Blödsinn. Er könnte mein Vater sein.«

    »Umso schlimmer«, sagte er lächelnd.

    Er lud sich etwas Kalbsbraten auf den Teller, Lauch mit der geliebten Cheddar-Käse-Soße dazu und natürlich eine satte Portion des hochgelobten Yorkshire Pudding.

    »Der Appetit scheint dir noch nicht vergangen zu sein«, lachte sie.

    Sie hatte Harry Walshs Haltung komplett falsch eingeschätzt. Umso mehr strengte sie sich nach dem Essen im Kaminzimmer an, Jack, sein Start-up und das wichtige Projekt im besten Licht erscheinen zu lassen. Mit dankbarem Lächeln Richtung Walsh sagte sie:

    »Alles, was ich über das Geschäft mit Letters of Credit gelernt habe, hat Harry mir beigebracht. Er war ein guter Lehrer.« Mit Blick in die Runde fügte sie an: »Sonst säße ich jetzt nicht hier.«

    Die vollen Bäuche waren durchaus empfänglich für Selbstironie, inklusive Walsh. Sie fuhr weiter:

    »Von ihm habe ich gelernt: Das LC-Geschäft ist ein Trust Business. Es geht vor allem um Vertrauen, Vertrauen in unsere Bank aber auch Vertrauen in unsere Partnerfirmen. Das Projekt, über das wir heute beraten, existiert zwar noch nicht offiziell, aber geben wir ihm doch einen Namen, der ausdrückt, worum es wirklich geht.«

    »Die Spannung steigt«, bemerkte Carter, genussvoll am Wasser nippend, als wäre es Cognac.

    »TRUST21«, sagte Katja.

    Damit überraschte sie auch ihn. Sie hatten nie darüber gesprochen. Er konnte sich jedoch keine bessere Bezeichnung vorstellen, begriff sofort, was sie damit ausdrücken wollte. Katja beendete das betretene Schweigen:

    »Weshalb 21, fragen Sie sich. Ganz einfach. Ich will damit ausdrücken, dass dies ein Projekt ist, mit dem wir das Trust Business mit Technologie des 21. Jahrhunderts noch sicherer und attraktiver für unsere Bank und die Kunden machen.«

    EVP Ross, das gesetzliche Gewissen der Bank, nickte als Erster zustimmend.

    »Gefällt mir«, pflichtete Carter ihm bei.

    Walsh blickte Katja mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis an und murmelte:

    »Tönt vielversprechend, aber vielleicht konzentrieren wir uns erst mal darauf, was uns die großartige Technologie des 21. Jahrhunderts wirklich bringt.«

    »Genau um das zu erklären, bin ich da«, warf Jack schnell ein. »Wenn Sie gestatten, möchte ich etwas ausholen, um sicherzustellen, dass wir von denselben Voraussetzungen ausgehen, und um Missverständnisse zu vermeiden.«

    Auf einem bereitstehenden Flipchart zeichnete er mit wenigen, gut eingeübten Strichen den typischen Ablauf eines LC–Geschäftes auf.

    »Das dürfte Ihnen bekannt vorkommen«, bemerkte er schmunzelnd dazu. »Ich skizziere dieses Geschäft, um aufzuzeigen, was sich mit der Blockchain-Technologie ändern wird.«

    Ross, der Jurist, starrte verwirrt auf die Zeichnung, während die andern zustimmend nickten. Das gehörte zur Taktik. Er wollte die Leute behutsam an die Problematik und seine Lösung heranführen, verzichtete daher auf ausführliche Beschriftung. Stattdessen verwendete er Abkürzungen, die er mindestens dem Juristen erklären musste. Das gab ihm reichlich Zeit, seine Gedanken zu ordnen und jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Alles andere hätte das Projekt gefährdet, seiner Meinung nach.

    »Die Abkürzungen sprechen für sich«, fuhr er also fort, »aber lassen Sie mich ein konkretes Beispiel machen.«

    Er deutete aufs Kästchen, das er mit IMP bezeichnet hatte.

    »Nehmen wir an, ein britischer Maschinenbauer benötigt Stahlprofile aus China im Umfang von zehn Millionen Pfund. Als Importeur, IMP, will er sicher sein, dass die Ware rechtzeitig und in vereinbarter Qualität geliefert wird.« Sein Finger bewegte sich aufs Kästchen mit der Bezeichnung EXP zu. »EXP, der Exporteur in China, andererseits muss sicherstellen, dass seine Ware auch bezahlt wird, wenn er liefert. Würden sich die beiden hundertprozentig vertrauen, gäbe es kein Problem. Das Geschäft käme ohne Weiteres zustande. Es wäre nicht nötig, eine dritte oder vierte Partei am Deal zu beteiligen. Sie wissen natürlich, dass dies bei Geschäften dieser Größenordnung nie der Fall ist.« Schmunzelnd fügte er an: »Zum Glück für Ihre Bank, sonst würden Sie nichts dabei verdienen.«

    Er wartete, bis eine Serviceangestellte die Schalen mit Gebäck aufgefüllt und frischen Tee und Kaffee ausgeschenkt hatte. Harry Walsh machte keinen Hehl aus seiner Ungeduld. Jacks Lektion langweilte ihn.

    »Ich komme gleich zum Punkt«, versicherte er daher. »Weil Vertrauen fehlt, braucht es die Bank BIMP des Importeurs, der er vertraut, und die Bank BEXP des chinesischen Exporteurs, der dieser vertraut – und den Letter of Credit.«

    Damit waren alle vier Kästchen auch zur Zufriedenheit des Juristen erklärt.

    »So betrachtet ist ein LC nichts anderes als ein Zahlungsversprechen der Bank des britischen Maschinenbauers an die Bank des Exporteurs und damit indirekt an den chinesischen Lieferanten der Stahlprofile. Wie Sie wissen, ist dieses Versprechen genau und ausführlich dokumentiert. Das ist gleichzeitig die Schwachstelle am herkömmlichen LC-Geschäft: der weitgehend manuelle, auf Kurierdiensten aufbauende Dokumenten-Verkehr.«

    Mit dicken, schwarzen Pfeilen unterstrich er, wovon er sprach.

    »Es beginnt mit dem Antrag des Importeurs an seine Bank mit dem Versprechen, die zehn Millionen unter ganz bestimmten Bedingungen zu zahlen. Kreditprüfung und Eröffnung des entsprechenden Letters of Credit durch die Bank des Importeurs folgen, dann die Weiterleitung der LC-Dokumente an die Bank des Exporteurs in China, die Prüfung dort, die Weiterleitung an den Exporteur, damit der die Lieferung veranlasst. Schließlich die Bestätigung der Verschiffung der Stahlprofile in einem chinesischen Hafen, die Bill of Lading. Beide Banken prüfen die Frachtpapiere, bis endlich die Import Bank die Zahlung nach China auslösen und das Konto des Maschinenbauers belasten kann.«

    Er musste erst Atem holen, bevor er weiterfahren konnte.

    »Nur schon diese grobe Skizze des Geschäfts zeigt doch deutlich, wie viele Schnittstellen diese Dokumente durchlaufen müssen und wie viele kritische Einzelheiten teils mehrfach manuell geprüft werden. Aus technischer Sicht sind hier viele verschiedene Systeme und Datenbanken involviert, die alle von Hand synchronisiert werden müssen. Ich muss Ihnen nicht erklären, wo überall Fehler und Verzögerungen auftreten können in diesem komplexen Prozess.«

    »Das ist uns bekannt«, brummte Walsh, während Jack auf dem Flipchart ein halbes Dutzend verschiedenfarbige Datenbanken zur Illustration andeutete.

    Die anfangs übersichtliche Skizze nahm dadurch chaotische Züge an. Es war keine Übertreibung. Im Gegenteil, Katjas Geschichten, die das Leben schrieb, hörten sich viel dramatischer an.

    »Nun zur Lösung mit der Blockchain«, sprach er weiter und schlug ein neues, leeres Blatt auf. »Keine Angst, um zu verstehen, wie diese neue Technologie die Schwachstellen des heutigen Prozesses beseitigt, müssen Sie die technischen Details nicht verstehen.«

    Die neue Skizze bestand im Wesentlichen aus einem dicken Strich, den er mit Blockchain anschrieb, und den vier bekannten Kästchen, jedes mit einem dünnen Strich mit der Blockchain verbunden.

    »Das ist die Lösung, die ich Ihnen vorschlage. Alle am Geschäft Beteiligten sind über sichere Leitungen mit ein und derselben Blockchain verbunden. Diese wirkt als Datenbank, wo alle Informationen zum Deal laufend aktualisiert und sicher verschlüsselt abgelegt sind. Der Hauptunterschied zu einer klassischen, verteilten Datenbank besteht darin, dass jeder Eintrag in der Blockchain unumkehrbar, unveränderlich und nicht kopierbar gespeichert ist. Dafür sorgt die Mathematik, auf der diese Technologie beruht.«

    Der heikelste Punkt seiner Präsentation war damit erreicht. Obwohl er weitgehend auf technische Details verzichtet hatte, drohte er die Zuhörer mit seiner Blockchain zu überfordern. Die Anwesenheit des Juristen, der gerne den naiven Unwissenden gab, erwies sich jetzt als Segen. Er stellte genau die richtige Frage:

    »Das sieht für mich trotzdem aus wie eine zentrale Datenbank. Wer garantiert deren Integrität, und weshalb sollen alle Beteiligten darauf vertrauen?«

    »Wie gesagt, handelt es sich bei der Blockchain um ein verteiltes System. Es gibt keinen zentralen Rechner oder Administrator mit allen Zugriffsrechten wie bei gewöhnlichen Datenbanken. Wer welchen Zugriff hat, entscheiden allein die Verantwortlichen des jeweiligen Geschäfts, indem jeder sich mit einem sehr aufwändig gestalteten und sicheren, privaten Schlüssel identifiziert.«

    »Schlüssel können verloren gehen«, wandte Walsh ein.

    Jack nickte lächelnd. »Das war in der Tat ein Problem in der Vergangenheit und ist es teils heute noch. Sie haben vielleicht darüber gelesen im Zusammenhang mit der Kryptowährung Bitcoin. Es gibt Untersuchungen, dass Bitcoins im Wert von rund einer Milliarde Dollar für immer verloren sind, weil die Besitzer ihren Schlüssel verloren oder vergessen haben.« Er wartete, bis sich das Raunen unter den Zuhörern gelegt hatte, bevor er schmunzelnd weiterfuhr: »Das ist der beste Beweis für die Sicherheit des Systems. Kein Hacker wird je diesen verlorenen Reichtum stehlen können. Dafür sorgt die Mathematik.«

    Walsh gab noch nicht auf. Gereizt entgegnete er:

    »Außer jemand stiehlt oder findet den Schlüssel.«

    »Absolut richtig«, gab er zu, »aber genau das werden Sie selbst durch Ihre Projektorganisation zu verhindern wissen.«

    »Nicht anders als bei einem anonymen Nummernkonto, Harry«, gab der Jurist zu bedenken.

    Walsh schwieg verärgert. Carter, der mit dem Firmenkundengeschäft letztlich auch verantwortlich war für die Handelsfinanzierungen von Walsh und Katja, schien auch noch nicht ganz überzeugt zu sein.

    »Wie müssen wir uns diese Blockchain vorstellen, wenn es keinen zentralen Server gibt, wie Sie sagen?«

    »Ich erspare Ihnen technische Details, aber gut, dass Sie fragen. Die Blockchain, die unsere Firma hier vertritt, läuft zurzeit auf einem Netzwerk von nahezu tausend Computern, betrieben von über fünfhundert großen und kleinen Firmen aus zwanzig verschiedenen Branchen. Es ist wichtig, dass es so viele verschiedenartige Betreiber sind. Trotzdem werden die Kosten für ein LC-Geschäft nur einen Bruchteil der heutigen Kosten betragen. Je mehr unterschiedliche Interessen vertreten sind, desto geringer wird die ohnehin verschwindend kleine Gefahr von Manipulationen der Software. Ein striktes Konsens-Protokoll sorgt nämlich dafür, dass Einträge in die Blockchain oder Upgrades der Software nur möglich sind, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Betreiber ihr O. K. dazu gibt.«

    »Ist ja toll«, murmelte Walsh.

    Niemand reagierte auf die abfällige Bemerkung. Die Zeit für das Killerargument war gekommen, fand Jack.

    »Alle Vorteile der Blockchain sind natürlich der Konkurrenz nicht verborgen geblieben«, schloss er. »Führende Banken, Schwergewichte wie HSBC oder die Bank of Amerika, haben sich zum Beispiel im R3-Konsortium zusammengeschlossen und arbeiten mit Hochdruck an einschlägigen Projekten. Andererseits wird die Luft im traditionellen LC-Geschäft dünn, habe ich mir sagen lassen.«

    Katja lächelte ihm zu, Carter runzelte die Stirn als Zeichen der Zustimmung.

    »Mit der Blockchain-Technologie aber wird die Gordon United Bank wieder ganz vorne dabei sein.«

    Der Wink mit dem Zaunpfahl wäre wohl nicht nötig gewesen. Der Wille, das Projekt TRUST21 in Angriff zu nehmen, war sowieso vorhanden. Einzig Walsh lieb skeptisch. Jack sprach Katja auf der Fahrt zum Flughafen Newquay darauf an.

    »Ach was«, wehrte sie ab, »Harry ist einfach ein Banker von altem Schrot und Korn, konservativ bis auf die Knochen. Er ist überfordert mit der neuen Technologie.«

    »Deshalb bist du ja jetzt die Projektleiterin, gratuliere.«

    Sie lachte. »Ich denke, das war von Anfang an klar. Du hast dich aber auch nicht übel geschlagen, Schatz.«

    »Auch das war von Anfang an klar. Schließlich habe ich Eton überlebt, dann schaffst du alles.«

    Sie lachte ihn rundweg aus. »Du bist nur dank deines reichen Onkels Lord Latimer nicht von der Schule geflogen.«

    »Na hör mal!«

    Mehr brauchte er nicht zu sagen. Wo sie recht hatte, hatte sie recht.

    ASCOT

    Jack brauchte Lord Latimer nicht lange zu suchen. Er fand ihn im Clubzelt, das schon für das kommende Royal Ascot vorbereitet war. Noch nicht alles war perfekt aber die Bar bereits anständig bestückt, und ein paar junge Ladies gab es auch, denen der alte Schwerenöter den Hof machen durfte.

    »Interessiert es dich gar nicht, wie dein Gaul läuft?«, fragte er seinen Onkel mit strafendem Blick auf den Martini rosso.

    »Der verliert sowieso wieder gegen die Kampfmaschine aus Chambers’ Gestüt. Drink?«

    Die Uhr zeigte gerade mal zehn. Latimer war kein Trinker, wohl aber ein Genießer, der keine Gelegenheit ausließ, seiner eigenen Seele zu schmeicheln. Jack winkte dankend ab und setzte sich aufs Sofa gegenüber.

    »Du musst mir einen Gefallen tun«, sagte er ohne Umschweife.

    Lord Latimer schüttelte die weiße Mähne. »Ich glaube, du verwechselst da was, Jack. Es ist genau umgekehrt. Du bist mir einen Gefallen schuldig.«

    »So, welchen denn und warum?«

    »Weil ich dich großgezogen habe, sonst wärst du im Waisenhaus gelandet wie Oliver Twist.«

    Jack wehrte lachend ab. »Fang nur nicht wieder damit an, Onkel Latimer. Zum Glück für uns beide haben sich die Hausangestellten gut um mich gekümmert, sonst hättest du kaum überlebt.«

    Es war der übliche Schlagabtausch zur Begrüßung. Jack fühlte sich dennoch etwas schäbig, seinen Onkel allzu selten aufzusuchen und nur dann, wenn er etwas von ihm verlangte. Schließlich hatte er ihn nach dem Unfalltod seiner Eltern aufgenommen wie ein Vater. Ein Butler näherte sich diskret mit dem Programm des nächsten Rennens.

    »Platz und Sieg auf ‘Black Beauty’«, sagte der Lord, ohne hinzusehen.

    Der Butler entfernte sich mit einer leichten Verbeugung. Über Geld mussten sie nicht sprechen, das wusste Jack. Bei Latimer waren alle Einsätze sowieso durch hundert teilbar.

    »Also kein Drink«, sagte der Lord enttäuscht und leerte seinen Martini. »Es muss ein schmerzhafter Gefallen sein, den du von mir verlangst.«

    »Keineswegs. Im Grunde handelt es sich um ein freudiges Ereignis.«

    Lord Latimer horchte auf. »Ach, heiratet ihr endlich wie anständige Leute?«

    »Da muss ich dich enttäuschen. Du weißt doch: die Steuern. Man ist einfach flexibler im Konkubinat.«

    »Du warst schon immer ein Schlitzohr.«

    »Ich muss eben auf mein Geld achten, nicht wie andere Leute.«

    »Wenn du so weitermachst, lasse ich dich aus dem Zelt werfen.«

    Jack brauchte jetzt doch einen Drink. Er winkte die Bardame herbei und bestellte ein Tonicwater.

    »Yuck!«, platzte Latimer heraus. »Gin Tonic ohne Gin. Wer säuft denn so etwas? Hast du gar keine Manieren mehr?«

    »Die Sache ist zu wichtig für alkoholische Getränke.«

    Er wartete aufs Getränk, nahm einen kräftigen Schluck, dann ließ er die Katze aus dem Sack.

    »Wir haben den Auftrag von Katjas Bank im Trockenen.«

    Latimers Reaktion enttäuschte. Mit verständnislosem Blick wartete er auf mehr.

    »Die Blockchain! Du erinnerst dich?«

    Latimers Augen weiteten sich. Seufzend versuchte Jack, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Latimer hörte zwar geduldig zu, aber es war offensichtlich, dass er seine Erklärungen als bloßen Lärm empfand.

    »Ich will es kurz machen, Onkel Latimer«, schloss er deshalb. »Ich möchte, dass du mich in deinen Beefsteak Club einlädst, wenn die Granden der Bank of England dort aufkreuzen.«

    »Was willst du denn von meinen Exkollegen bei der Bank of England?«, fragte Latimer verblüfft.

    »Das ist etwas kompliziert. Da muss ich ausholen …«

    Latimer winkte energisch ab. »Spar dir deine Erklärungen. Sollen sich die Halsabschneider bei der Bank damit amüsieren.«

    »Ist das ein Ja?«

    Die abendliche Rushhour erreichte ihren Höhepunkt, als er sich nach einem kurzen Briefing in den Räumen seiner BC Global Trading Ltd. am Canada Square auf den Weg nach Hause machte. Die Angestellten der umliegenden Büros strömten wie jeden Werktag aus den Hochhäusern auf den Platz, der ebenso gut in Manhattan statt an der Londoner Canary Wharf liegen könnte. Eine fette Menschenschlange wälzte sich zur nahen Bahn- und Busstation, kleinere Gruppen standen mit Gläsern und Bechern vor den Pubs und Cafés und unterhielten sich lachend über Sport oder andere Nichtigkeiten, um den stressigen Arbeitstag irgendwie aus dem Kopf zu kriegen.

    Jack wollte nur noch heim. Es gab gute Nachrichten für Katja und den kleinen Patrick. Sein altes Postschiff lag keine zehn Minuten Fußweg entfernt in einer kleinen, ruhigen Marina, ideal für seine langen Arbeitszeiten aber auch für den gemeinsamen Sohn, der hier fast schon in ländlicher Idylle aufwachsen konnte, fern vom Dreck der Großstadt.

    Patrick spielte mit Daisy am Wasser. Die Golden-Retriever-Dame war eine gute Schwimmerin und liebte die Marina wie die ganze Familie. Beide sprangen ihm entgegen, Patrick sichtlich besorgt.

    »Was ist passiert?«, fragte der Junge aufgeregt.

    Jack nahm ihn lachend in die Arme. »Nichts, was soll passiert sein?«

    »Sag du es mir, Dad. Du hast selbst einmal gesagt, wenn du früh nach Hause kommst, stimmt etwas nicht.«

    »Ach, das war ein Scherz, mein Großer. Mach dir keine Sorgen. Im Gegenteil, ich habe gute Nachrichten für dich und Mama.«

    »Sie musste zur Botschaft. Die Nanny ist noch da.«

    Lisa saß auf Deck, vertieft in ihr Smartphone. Sie wusste nicht, weshalb Katja überraschend zu ihrem Vater geeilt war. Katja antwortete auch nicht auf dem Handy. Musste er sich Sorgen machen? Abwesend ging er zu den Spielkameraden zurück, nachdem er Lisa entlassen hatte.

    Der Pizzakurier war kaum wieder abgefahren, als Katja zurückkehrte, blass, Sorgenfalten auf der Stirn. Da sie keine Anstalten machte, darüber zu sprechen, versuchte er sie mit den good news von Lord Latimer aufzuheitern.

    »Ich werde die Bank of England ins Boot holen«, schwärmte er. »Ist das nicht fantastisch?«

    Sie stand gedankenverloren in der winzigen Kombüse und sah durchs Bullauge einer Segeljacht beim Manövrieren zu.

    »Du hörst mir gar nicht zu«, sagte er enttäuscht.

    Sie widersprach nicht, blickte ihn nur eine Weile schweigend an. Ihre Augen glänzten.

    »Weinst du? Um Himmels willen, was ist …«

    »Vater hat Krebs, Leukämie.«

    Mit allen möglichen beruflichen oder finanziellen Rückschlägen und schwierigen Bankkunden hatte er gerechnet aber doch nicht mit so einem hinterhältigen Schicksalsschlag. Nicht jetzt, da alles so gut lief. Sie begann zu schluchzen. Er nahm sie in die Arme, drückte sie an sich, um sie zu beruhigen.

    »Wie schlimm ist

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