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Böhse Onkelz - Danke für Nichts: Die Biografie der Bösen Onkelz
Böhse Onkelz - Danke für Nichts: Die Biografie der Bösen Onkelz
Böhse Onkelz - Danke für Nichts: Die Biografie der Bösen Onkelz
eBook1.020 Seiten8 Stunden

Böhse Onkelz - Danke für Nichts: Die Biografie der Bösen Onkelz

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Über dieses E-Book

Das Buch erzählt knallhart und unverblühmt die Kindheits- und Lebensgeschichten der Onkelz.
Das umfangreiche Fotomaterial stammt zum Teil aus den Privatsammlungen der 4 Musiker.

Ein MUSS für jeden Fan!
SpracheDeutsch
HerausgeberTonpool Medien GmbH
Erscheinungsdatum7. Apr. 2025
ISBN9783982180625
Böhse Onkelz - Danke für Nichts: Die Biografie der Bösen Onkelz

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    Buchvorschau

    Böhse Onkelz - Danke für Nichts - Edmund Hartsch

    Vorwort

    Eine Botschaft an meine Leser und zukünftigen Kritiker…

    Bei den Arbeiten zu diesem Buch war ich oft erstaunt über die Dimension, die das Thema Böhse Onkelz in den Jahren erreicht hatte. Ich hatte viele Gespräche mit Freunden, Verwandten, Fans und Kritikern der Band zu führen, ich hatte meine Eindrücke und Erinnerungen aus 10 Jahren Onkelzfreundschaft zu sortieren und es galt 17 Jahre kontroverse Bandgeschichte aufzuarbeiten. Kiloweise Tagespresse, Printmedien, Tapes, Videos und Bücher, in denen sich Autoren, Journalisten, Politiker, Veranstalter, Musiker und Psychologen auf die eine oder andere Art dem Thema zu nähern versucht hatten, mußten auf ihre Ehrlichkeit und Genauigkeit hin überprüft werden. Und ich hatte mich immer wieder zu rechtfertigen. "Du schreibst was? Bist Du irre? Das ist doch die Naziband, oder?"

    Soviel dummes Geschwätz, soviel infame Heuchelei und soviel armselige, ignorante Hetze, soviel schockierende Uninformiertheit, aber auch soviel Witziges, Kluges und Abgedrehtes haben dieses Buch nötig gemacht. Es enthält Politik, aber es ist kein politisches Buch. Mir ging es um die Lebensbeschreibung von vier Menschen, deren Motivation Musik zu machen keine politischen Inhalte hatte. Was man hier lesen wird, ist der Bericht über eine deutsche Rockband, die wie keine andere Band vor ihr als Mittel dümmlicher politischer Agitation mißbraucht wurde. Es soll hier auch von Jugendbewegungen und von Formen des Widerstandes die Rede sein, vom Zerfall unseres modernen Weltbildes und der Zerstörung der Individualität, von Kontrolle, Meinungsdiktat, Trendterror und Zensur. Natürlich wäre es naiv, zu behaupten, diese Dinge hätten nichts mit Politik zu tun, nur mußte ich immer wieder beobachten, wie Politiker und Teile der Öffentlichkeit von außen eingriffen, um in jedem Falle das Geschehen auf die eine oder andere Weise für sich zu nutzen. Man hat dieser Rockband immer wieder nahegelegt, ihren Namen zu ändern, um dann im öffentlichen Licht als gleiche Personen, mit gleicher Vergangenheit, aber unter neuem Namen weiterzumachen. Man forderte, daß sie sich auf die Seite der Lügner stelle, daß sie sich und ihre Vergangenheit leugne und am Leben einer verlogenen etablierten Gesellschaft teilnehme.

    Dann, so hieß es, sei man bereit, den einen oder anderen Ausrutscher zu verzeihen, und man würde auch wieder für Auftrittsmöglichkeiten sorgen, und über ein Ende des Verkaufsboykotts von Onkelzplatten ließe sich reden. Ich halte das für einen Skandal. Das Schlüpfen in eine Scheinidentität, eine heuchlerische Verkleidung aus Lüge und Leugnung soll erstrebenswerter sein, als eine selbst gewaschene Weste?

    Es handelt sich um ein typisch deutsches Nachkriegsmißverständnis, daß ein Wandel der Einstellung, ein Lernen und ein Fortschreiten, ein Einsehen von begangenen Fehlern mit einer Verleugnung der eigenen Person einherzugehen hat. Die Böhsen Onkelz waren immer die Böhsen Onkelz, 1980 genauso wie 1997. Das wird dieses Buch zeigen. Wölfe im Wolfspelz, von mir aus, aber keine Nazis und auf gar keinen Fall politisch, im Gegenteil.

    Dieses Buch enthält Gewalt. Viel Gewalt. Es ist laut und gemein. Es ist viel Blut darin und viel Rotze. Viel Erbrochenes und literweise verschwendetes Ejakulat. Kaputte Flaschen, offene Wunden und bittere Säfte. Schlagt dieses Buch auf, wo immer Ihr möchtet, lest, was immer Euch gefällt; interpretiert frei drauflos und erzählt über dieses Buch oder meine Person was Ihr wollt. Es steht Euch frei und mich ärgert es nicht, ich bin kein Schriftsteller. Dieses Buch wird sich nicht in den Dreck ziehen lassen, denn es ist bereits ein dreckiges Buch an dem Tage, an dem es erscheint. Soll es sich doch suhlen im Sumpf einer primitiven Sensationspresse. Soll es von mir aus verrecken, dieses Buch, und im unerquicklichen Sud von Zu-oft-Gesagtem mit anderen Büchern um die Wette quäcken. Möge es sich, wie es ihm beliebt, um Plazierung in dubiosen Lesercharts raufen und um diese oder jene Kritik streiten.

    Als ich Stephan Weidner und Pe Schorowsky im Juni 1987 kennenlernte, war ich neu in Frankfurt. Ich kannte weder Stadt noch Leute, und von den Böhsen Onkelz hatte ich nie zuvor gehört. Stephan, ein verheirateter Mann von 24 Jahren, sagte mir damals, daß er und seine Freunde eine Band hätten, daß sie die Böhsen Onkelz hießen und in Skinhead- und Hooligankreisen eine Kultband gewesen wären, daß sie aber seit einiger Zeit das Gefühl hätten, diesen Szenen entwachsen zu sein. Sie wollten sich musikalisch weiterentwickeln, und ich erinnere mich, daß ebenfalls die einsetzende Politisierung in der Skinheadszene ein Grund ihres Ausstiegs gewesen ist. Als man mir damals die Texte der ersten LP Der nette Mann zeigte, war ich zunächst angeekelt von der beschriebenen Gewalt. Die Lieder passten zwar zu dem, was ich über Skinheads und Brutalität gehört und gelesen hatte und augenscheinlich auch zu den Menschen auf dem Coverphoto, aber nicht zu den zwei Menschen, die ich kennengelernt hatte, und zu den Personen, die sie zu sein vorgaben. Sie begegneten mir mit Toleranz und selten erlebter Offenheit, und sie nahmen kein Blatt vor den Mund. Ich hatte nicht den geringsten Grund, an der Ehrlichkeit ihrer Aussagen zu zweifeln. Vielleicht sollte ich erwähnen, daß ich zu dieser Zeit sehr lange Haare hatte, mit meiner afrikanischen Freundin zusammenwohnte, andere Musik als Stephan und Pe hörte und aus einem komplett anderen Milieu stammte. Von Skinheads hatte ich nur wenig Ahnung. Das war im Sommer ‘87, zu einer Zeit, als die Böhsen Onkelz kaum bekannt und die Medien nur vereinzelt daran interessiert waren, über eine Skinheadband zu berichten, die keine Skinheadband mehr sein wollte.

    Es geht hier nicht um Politik, sondern um Widerstand, um Empörung, um Schmutz, Skandal und Zensur. Ein Willkommen an alle Unvoreingenommenen und an alle, die sich gewissenhaft und ohne Vorurteile informieren wollen, wie gering sie an Zahl auch sein mögen. Und an all die Besserwisser und Neunmalklugen, an all die Musikjournalisten und Medienmenschen, die Politiker und Veranstalter, an all die radikalen Fanatiker, linke wie rechte, die immer noch in die alte Kerbe hauen, die, die sich in ihrem persönlichen Kleinkrieg zu solcher Polemik und Diffamierung haben hinreißen lassen, die das Maul so weit aufgerissen haben, daß sie jetzt nicht mehr zurück können…

    …fahrt zur Hölle!

    Frankfurter Römer 1945

    Kapitel 1

    1940-1979

    Erinnerungen

    Ich lese im buch der erinnerung

    ich hör´ mich lachen

    mein leben war ein spiel

    erzählt von einem narren

    ich wußte nicht immer was ich will

    doch ich wußte wie ich´s kriege

    ich nahm es leicht auch wenn es härter kam

    es war ein setzen, ein setzen neuer ziele

    mein leben war oft wie ein spiel

    wie ´ne lange reise ohne ziel

    eine suche nach dem, der ich bin

    eine suche, die suche nach dem sinn

    mein leben war ein buch

    ich mußte es nur schreiben

    ich wollte alles oder nichts

    ich mußte mich entscheiden

    das leben war die antwort

    und ich stellte viele fragen

    und dieses endlose geheimnis

    hatte unendlich viel zu sagen

    „buch der erinnerung" Böhse Onkelz

    1992 Heilige Lieder LP, Bellaphon Records

    Der Zwilling ist ein Luftzeichen. Er ist der Mai, der Frühling, die Blüte und das Erwachen. Nach der irdischen Schwere des Stieres im April, gleitet die Welt im Mai in den Taumel der beschwingenden Zwillingssphäre. Sie teilt sich zum Zeichen ihrer Dualität in zwei Geschlechter und macht sich bereit für eine sorgenfreie Befruchtung. Alles ist „noch offen, Entscheidungen sind „noch nicht getroffen, Entschlüsse „noch" nicht gefasst.

    Stephan Weidner wurde als Zwilling am 29. Mai 1963 um 12:57 Uhr in Alsfeld bei Kassel geboren. Er wurde bei seiner Geburt in zwei Hälften geteilt, und die erste Ahnung seiner Unvollständigkeit trieb ihn bereits früh in einen zwiespältigen Zustand von traumatischer Angst und unbändiger Wut. Wer auch immer in seinem zukünftigen Leben seine Feinde sein würden, sie würden es mit zwei Weidners zu tun bekommen, mit einem Menschen, der die doppelte Menge an Energie besaß, der die Polaritäten der Welt in seiner Persönlichkeit miteinander verband und der schnell von einem Extrem ins andere fiel.

    Aber der Reihe nach:

    Sein Vater, Karl-Heinz Weidner, war 1940 in eine zerrüttete, kinderreiche Familie im Frankfurter Nordend hineingeboren worden. Seine ersten Jahre waren auch die letzten Jahre des Krieges. Frankfurt, Mainz und Wiesbaden fielen am 29. März ‘45 in die Hände der dritten U.S. Panzerdivision. Tod und Niederlage brachen über das Land herein und die Hakenkreuzfahnen verschwanden praktisch über Nacht aus den Fenstern und von den Balkonen. Zwischen den Häuserzeilen des zerstörten Frankfurts lagen Leichen und Leichenteile, und auf den Straßen breitete sich ein übler Geruch von Schuld und Schande aus. Die Erkenntnis ihres Größenwahns machte vielen alten Nazis schwer zu schaffen. Manche waren verbittert und hart, andere brachen unter der Last der Niederlage zusammen. Die Mehrzahl jedoch kroch dahin zurück, wo sie hergekommen war und schwieg. Auch das Haus der Weidners lag in Trümmern, und die frühen Jahre nach ‘45, verbrachte Karl-Heinz damit, beim Wiederaufbau des Hauses mitzuhelfen. Ziegelsteine, die er auf Leiterwagen zu stapeln hatte, das war seine tägliche Routine als Kind. Sein Vater war seit ‘44 vermißt, und von seiner Mutter bekam er nicht viel außer Prügel, die er täglich an andere Kinder weitergab. Karl-Heinz war kein großes, starkes Kind, eher schmächtig, aber er konnte eine skrupellose Brutalität an den Tag legen. Viele seiner Spielkameraden fürchteten sich vor ihm, und als er zwölf wurde, gab ihn seine Mutter an das Kinderheim Marienhausen ab.

    Das Don Bosco Internat des Salesianerordens zu Marienhausen, war ein düsterer Ort, eine verfluchte Stätte. Vom Krieg verschont geblieben, lag das Gebäude eingepfercht zwischen dicken Eichenbäumen und sanft ansteigenden Weinbergen hinter den Ortschaften Rüdesheim und Aulhausen. Unweit der Hugo Asbach Brennerei. Ein dunkelgelber Sandsteinbau mit schwarzem Schieferdach und Heiligenstatuen, die schweigend in den Nischen standen und kein Wort darüber verloren, was in Marienhausen geschah. Schwer erziehbar nannte man die Kinder, die in Marienhausen interniert wurden. Kinder, die sich nicht fügen wollten, deren Eigenarten und Reaktionen von Eltern und Gesellschaft nicht nachvollzogen werden konnten, und die infolgedessen als gefährlich angesehen wurden. Karl-Heinz Weidner war gefährlich, so entschied seine Mutter, eine dominante, hartherzige Frau.

    Kinderheim Marienhausen - Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    In Marienhausen hatte man bestimmte Vorstellungen, wie mit solchen Kindern zu verfahren war. Zunächst einmal mußte man sie immer und beständig prügeln, bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit. Zu diesem Zweck benutzten die Lehrer ihre Gürtel, Ruten und Fäuste. Preußischkatholisch waren die Richtlinien dieser Anstalt. Angst und Schrecken waren in Marienhausen allgegenwärtig und die Padres sorgten dafür, daß diese Angst den Kindern niemals ausging. Unsere tägliche Prügel gib uns heute. Karl-Heinz wohnte mit 49 anderen schwer erziehbaren Knaben in einem Schlafsaal, der in der Nacht von einem Priester bewacht wurde. Es gab Ohrfeigen, sobald sich einer der Jungs rührte. Spaziergänge in Marschkolonnen und Redeverbot vom Aufstehen bis zur zweiten Andacht.

    Penis errectus concientiam ignorat. Ein steifer Penis kennt kein Gewissen. Hart aber gerecht, war der Grundsatz aller unterrichtenden Padres, die die Jungen in Latein und Naturwissenschaften, vor allen Dingen aber in Religion auszubilden hatten. Keines der Kinder wagte es, aus der Reihe zu tanzen. Die Autorität der Erzieher war unerschütterlich. In Doppelreihen über den kalten Hof und in Doppelreihen in die kalte Kapelle und wenn sie brav waren, durften sie bei einem der Padres auf dem Schoß sitzen. Wenn einer der Priester einen Jungen besonders gerne mochte, dann konnte es passieren, daß er ihn in sein Privatzimmer einlud, ihm Tee und Gebäck anbot und ihn streichelte, während er ihm aus dem Leben des Gilles de Rais vorlas. Jenes französischen Feldmarschalls, der zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts gelebt hatte, und der, ebenfalls nach einer Kindheit unter der Fuchtel von zwei Priestern, zu einem der angesehensten Edelmänner Frankreichs aufgestiegen war. Der Kämpfer an der Seite von Jean d’Arc. Hinter den Mauern seiner Schlösser in Tiffauges und Champtocé jedoch, das hatte die Geschichte gezeigt, hatte Gilles de Rais mehr als 140 Kinder auf bestialischste Art und Weise gefoltert und ermordet.

    …gewiß, er setzte sich auf den Bauch des Opfers, befriedigte sich selbst und verspritzte so den Samen über das sterbende Kind. Aber nicht der sexuelle Genuß war für ihn entscheidend, sondern der, den Tod beim Werk zu sehen. Dieses Sehen berauschte ihn, er ließ einen Körper aufschlitzen, eine Kehle durchschneiden, Glieder abhacken, er liebte den Anblick von Blut…oder er ließ es enthaupten, dann dauerte die Orgie, solange der Körper noch warm war. Manchmal setzte er sich rittlings auf den Leib des Opfers und hatte seinen Genuß daran, die letzten Zuckungen so nah wie möglich zu sehen…

    (Gilles de Rais von Georges Bartaille, Merlin Verlag, Hamburg 1967)

    Auf die Person Gilles de Rais gingen all die Märchen, Geschichten und Sagen zurück, die man sich im allgemeinen über den König Blaubart erzählte.

    Karl-Heinz Weidner in Marienhausen 1954 - Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    Ein eisiger Hauch wehte auch durch Marienhausen. Hier wurden zwar keine Kinderkörper zerlegt, aber die Gefühle von Schmerz und Ausgeliefertsein nagten hart an den Seelen der Jungen. Die Geschichten der Padres und ihre verlogene Zärtlichkeit, machten alles nur noch schlimmer. Die Bedrohung war für Karl-Heinz bald unerträglich geworden. Auf der Krankenstation hatte er mehrmals beobachtet, wenn sich einer der Padres einen Jungen herausgriff und ihn mit auf sein Zimmer nahm.

    Als Stephan Weidners Vater 14 Jahre alt war, lief er davon. Keinen Tag länger wollte er an diesem Ort bleiben. Im Sommer ‘54, noch während der Fußballweltmeisterschaft, brach er aus und schlug sich bis nach Frankfurt durch. Im Herbst jedoch hatte ihn die Jugendfürsorge wieder eingefangen und zurückgebracht. Noch bevor die Padres sich über ihn hermachen konnten, noch bevor er ihre ganze Wut über seinen Ausbruch zu spüren bekam, floh er aufs neue durch eines der Fenster und kehrte nie wieder nach Marienhausen zurück.

    Karl-Heinz Weidner trieb sich fortan im Frankfurter Rotlichtmilieu herum. Gaunereien, Diebstähle und Gelegenheitsjobs brachten ihm das nötige Kleingeld, um im Frankfurt der fünfziger Jahre auf großem Fuß zu leben. Fünfzehnjährig im Trenchcoat, mit schwarzem Strickbinder und einer Kippe im Mundwinkel, knackte er amerikanische Autos, die er anschließend verscherbelte, oder selber durch die Innnenstadt navigierte. Rock’n’ Roll hatte den Knabenchor ersetzt, und anstatt dem Pater beim Lesen der Messe zur Hand zu gehen, griff er lieber den Nutten an die Titten. Das Milieu in Frankfurt zog ihn magisch an. Mit einer Krone aus Frischgeld auf dem Kopf und als der große Freund des vorehelichen Geschlechtsverkehrs, zu dem er geworden war, sprang er auf der Moselstraße und der Breite Gass von Hühnerstall zu Hühnerstall.

    Die Amis hatten sich in Frankfurt breit gemacht. Ihr Einfluß war überall zu spüren. Sogar Elvis höchst-fuckin’-persönlich war in Friedberg stationiert gewesen und den Mannschaftssaal in seiner Kaserne hatte man später nach seinem Tod, in The Elvis-Presley-Memorial-Dining-Facility umbenannt. Als Heranwachsender war Stephans Vater dafür bekannt, daß er nachts um die Wohnblöcke der amerikanischen Soldaten schlich und Klamotten von der Wäscheleine klaute. T-Shirts, Frotteehandtücher, Tubesocks und Jeans, alles was er kriegen konnte, sackte er ein. Er verdealte und vercheckte, was er in die Finger bekam. Bald lief er nur noch mit einem Cowboyhut durch die Gegend und ließ sich von seinen Freunden Tex rufen.

    Tex stand schwer auf Rock’n Roll. Elvis, Chuck Berry, Bill Haley, die ganze amerikanische Musikerszene beeindruckte ihn tief. Wenn er gerade niemanden beklaute, dann hing er in einer Kneipe ab und steckte seine Münzen in die Musicbox. Diese frühe Phase seines unbekümmerten Ganovendaseins wurde schlagartig unterbrochen, als er 16 Jahre alt war und die Polizei ihn beim Autoklauen erwischte. So etwas wie Jugendstrafanstalten oder Resozialisierung, Bewährung oder Freigang, hatte man im Deutschland der späten fünfziger Jahre noch nicht gekannt. Autodiebstahl war ein Kapitalverbrechen und Tex bekam zwei Jahre Haft für den ersten Bruch. Der Krieg lag nur elf Jahre zurück, die Justiz wollte hart durchgreifen, wollte zeigen, daß sie die Kriminalität im Griff hatte.

    Im Gefängnis in Frankfurt-Höchst, geriet Tex schnell mit Aufsehern und mit anderen Häftlingen aneinander. Er wollte sich nicht einfügen in die täglichen Routinen und wurde wieder und wieder mit erzieherischen Maßnahmen bestraft. Einzelhaft im Gitterkäfig ohne Licht, Schlafen ohne Decke, Rationalisierung seiner Mahlzeiten, solche Dinge passierten ihm ständig. Marienhausen und Höchst waren ähnlich. Gefangene und Aufseher gab es auch hier. Dazu kam seine ständige Paranoia davor, knastschwul werden zu können. Nachts hörte er das Gestöhne und Gejaule, wenn einer der Anführer sein dickes Ding in den After seiner bevorzugten Zellentunte trieb, und all das Geschabe und Geschubbere auf den Gefängnispritschen, unter den stacheligen Wolldecken, machte ihn fast wahnsinnig.

    Nach seiner Entlassung im Frühjahr ‘58, stürzte sich Tex erneut in die Frankfurter Unterwelt. Es folgten neue Autodiebstähle und neue Einbrüche, um zu überleben. Nicht mal ein ganzes Jahr war Tex auf freiem Fuß, da stand er schon als Wiederholungstäter zum zweiten Male vor dem Frankfurter Landgericht. Diesmal wurde er zu zwei Jahren Haft im Butzbacher Zuchthaus verurteilt. Hatte er den Knast in Höchst bereits als unerträglich empfunden, so hätte er nun ganz sicher zwei Jahre Butzbach gegen drei Jahre Höchst eingetauscht. In Butzbach saß er als Neunzehnjähriger zwischen den krassesten Gewaltverbrechern und den hinterhältigsten Abzockern. Die hochgelobten pädagogischen Maßnahmen des deutschen Nachkriegsvollzugs hinterließen ihre Spuren bei Tex. Als Narben auf der Seele und als schlecht gestochene Tätowierungen auf der Haut.

    Tex 1958 - Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    Zur gleichen Zeit war Marienhausen in die Schlagzeilen der Presse geraten. Von ‘58 bis ‘60 war hier der junge Jürgen Bartsch zu Gast gewesen, der in den frühen Sechzigern zum Vorzeigekindermörder der Nation ernannt wurde. Bartsch, der seinen ersten grausamen Mord im Alter von fünfzehn Jahren beging und der in Marienhausen selber sexuell mißbraucht worden war, erregte die Gemüter bundesweit. Voreilig nannte man ihn bereits den Jahrhundertfall. Dennoch waren die Verhandlungen gegen Bartsch einer der ersten großen Mordprozesse nach dem Krieg, währenddessen man sich zum ersten Mal mit den wirklichen Ursachen für eine solche Entgleisung beschäftigte. Inwieweit konnte ein Täter auch ein Opfer sein? Auch die Padres von Marienhausen gerieten gegen Mitte der sechziger Jahre schwer in Bedrängnis durch die Justiz.

    Jürgen Bartsch - Foto: Hans-Jürgen Kartenberg

    Der alte Weidner ließ es nach seinem zweiten Gefängnisaufenthalt ein wenig langsamer angehen. Er stieg zwar immer noch durch die Fenster der Schwesternwohnheime in Mainz und Frankfurt, bändelte immer noch mit zahlreichen Mädchen an, aber dem Frankfurter Milieu blieb er für eine Weile fern. Er war entschlossen, sein Leben von nun an solide zu gestalten. Er wollte arbeiten, eine Frau und Kinder haben. Mit 23 heiratete Tex seine neue Freundin Gisela Meißburger. Gisela brachte zwei Söhne, Günther und Klaus-Dieter, mit in die Ehe. Kinder aus einer vorangegangenen und gescheiterten Liebe. Sie hatte bis dahin viel Pech gehabt. Sie hatte ihren Freund heiraten wollen, aber ihr Vater weigerte sich, seine Einwilligung zu geben. Schlimmer noch, er schlug seine Tochter noch während der Schwangerschaft und machte ihr das Leben zur Hölle. Gisela war bald von Tex schwanger und diesmal hatte ihr Vater nichts gegen eine Heirat einzuwenden. 1963 nach der Hochzeit zog das Paar nach Nieder-Ohmen bei Kassel. Eine gute Stunde von Frankfurt entfernt. Dahinter hatte der Gedanke Herrn Weidners gestanden, möglichst wenig mit der Stadt in Berührung zu kommen, um nicht den Reizen und Verführungen einer auschweifenden Nacht zu erliegen. Dort in Nieder-Ohmen wohnten sie zu fünft in einem winzigen Haus. Im Winter fehlte das Geld zum Heizen, die Leitungen froren ein und als es immer schlimmer wurde, fanden sie Unterschlupf bei Tex’ Schwester in Frankfurt.

    Tex nahm eine Arbeit beim Straßenbau an. Mit Trennschleifer und Presslufthammer brach er die Straßen der Vororte auf und mit Teer und Rollsplit schmierte er die Löcher wieder zu. Seine Kollegen auf dem Bau bemühten sich, dem Städter die Arbeit so schwer wie möglich zu machen. Jemand, der aus der Stadt kam, um auf dem Land Arbeit zu suchen, die ohnehin knapp war, wurde in Hessen nicht gerne gesehen. Der Alte arbeitete extra viel, um der Welt zu beweisen, daß er aus hartem Holz war und sich nicht einschüchtern ließ. Dank seiner intimen Milieukenntnisse und dank seines losen Mundwerks, konnte er schon nach einigen Wochen auf dem Bau ein ausreichendes Maß an Respekt von seinen Kollegen abfordern. Schnell waren sie zu einer gröhlenden, zotenreißenden Runde zusammengewachsen.

    Stephan Weidner 1964 - Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    Stephan, das erste gemeinsame Kind, wurde am 29. Mai 1963 in Alsfeld bei Kassel, auf der Durchreise geboren. Als Baby schrie sich Stephan die Seele aus dem Leib und oft gab Gisela ihn in die Obhut ihrer Mutter in Mainz-Kastell, die ihn mit einem Fläschchen stillte, das ein bräunliches Gemisch aus Milchpulver, Wasser und Bier enthielt. Ein alter Trick, damit die Babys ruhiger schliefen. Bis zu seinem dritten Lebensjahr hatte Stephan noch zwei kleine Schwestern dazu bekommen. Carmen wurde 1964 und Moni 1965 geboren. Das Haus in Nieder-Ohmen war viel zu klein und es waren zuviele Kinder, als daß sich Tex, Gisela oder ihre Mutter um alle kümmern konnten. Auch konnten sie nicht immer zu Karl-Heinz’ Schwester fliehen, wenn es kalt wurde. Außerdem reichte das Geld hinten und vorne nicht aus, um sie alle zu ernähren. Stephan wurde hin- und hergereicht. Mal lebte er bei der einen, mal bei der anderen Oma. Kurz nach Monis Geburt wurde die Jugendfürsorge auf die schlimmen Zustände im Hause Weidner aufmerksam und schritt energisch ein. Der älteste Sohn Günther mußte an Pflegeeltern abgegeben werden und Klaus-Dieter wurde in ein Heim eingewiesen. Ein Heim für schwer-erziehbare Kinder, wie sich schnell herausstellte.

    Stephan Weidner 1966 - Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    Tex hatte sich innerhalb von wenigen Jahren eine Familie mit fünf Kindern aufgeladen, die er unmöglich versorgen konnte. Nach seiner eigenen verkorksten Kindheit und der mehr als turbulenten Jugend, war das nicht ganz genau das, was er sich unter Freiheit vorgestellt hatte. Was war mit den Frauen und dem Champagner und wo blieb nur das Geld, von dem er immer geträumt hatte? Die Arbeiten und Gelegenheitsjobs, die er verrichtete, brachten ihn nach Wiesbaden und Mainz, in die Vororte, in den Taunus und am Ende doch wieder nach Frankfurt. Morgens um fünf fuhr er mit seinen Kollegen in die Stadt, schuftete den ganzen Tag hindurch, und abends um acht verpasste er absichtlich den letzten Bus nach Hause. So ging es eine geraume Zeit. Gisela jammerte fortwährend, machte ihrer Unzufriedenheit Luft und verlangte von ihrem Mann pünktlich daheim zu sein. Je mehr sie weinte und ihn bat, abends nach der Arbeit nach Hause zu kommen, umso öfter blieb er weg. Je mehr er wegblieb, umso unzufriedener und enttäuschter reagierte Gisela Weidner. Eine tragische und verhängnisvolle Lage zugleich. Sie wollte keinen Lebenspartner, der sich betrank und im Frankfurter Milieu das Geld zum Fenster rauswarf. Sie fühlte sich alleingelassen und benutzt. Tex kümmerte das alles wenig. Er sah sich um seine Freiheit betrogen, war von der Idee mit dem soliden Lebenswandel ohnehin nie restlos überzeugt gewesen. Es kam, wie es kommen mußte. Stephan wurde bei den Großeltern weiterhin herumgereicht, und Gisela blieb mit den beiden Mädchen alleine. 1966, Moni war gerade ein Jahr alt, ließ Karl-Heinz Weidner seine Familie im Stich. Er hatte die alten Kontakte im Frankfurter Rotlichtmilieu wiederhergestellt, und gegen Mitte der sechziger Jahre stieg er in die Geschäfte eines großen Hurenhauses hinter der Konstabler Wache mit ein. Dort, wo die Breite Gass’ auf die Allerheiligenstraße traf, regelte er zusammen mit anderen Luden einen gut laufenden Dienstleistungsbetrieb der Mittelklasse. Knapp 70 Nutten bedienten hier Tausende von Männern pro Monat. Arbeiter, Touristen, Messebesucher und Beamte, Ausländer, Familienväter und Bullen in Zivil, Tagediebe, Taugenichtse und Sittenstrolche. Handentspannung und Französisch. Französisch mit Aufnahme und franz. opt. - ZK und AV, NS und FF, die ganze Palette. Doktor- und Bürospiele, Lack und Leder, S- und M-faxen, Hotel- und Hostessenservice und noch einiges mehr gegen Anfrage und Aufpreis.

    Tex Weidner 1966 - Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    Kindergeburtstag bei Weidners 1966 - v.l.: Stephan, Carmen, Andrea (Cousine), Moni, Conny Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    Tex ging steil. Knallhart und gnadenlos, jähzornig und unberechenbar. Aus Karl-Heinz dem Trümmerkind und vorbestraften Familienvater, aus dem Rock’n Roll-Cowboy und Autodieb, wurde jetzt Tex der Frankfurter Zuhälter. Immer knapp am Rande der Legalität, immer mit einem Fuß im Knast und mit einer Hand an der Knarre. Das war eine Karriere nach seinem Geschmack. Ludenkodex, Untergrund und Schießereien. Eingeschlagene Nasenbeine, Alkoholexzesse und Kundenstress. Für Karl-Heinz Weidner war seine Familie zu einem Teil aus einer anderen Welt geworden, an den er sich nicht gerne erinnerte.

    Stephan mit Mutter und Moni 1968 - Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    Nachdem Frau Weidner von ihrem Mann verlassen worden war und mit den Kindern alleine dastand, wurde ihr nach einem endlosen bürokratischen Procedere durch das Sozialamt eine Wohnung am Frankfurter Berg zugeteilt. Stephan, der jetzt vier Jahre alt war, und sein sieben Jahre älterer Stiefbruder Günther kehrten ebenfalls zu ihrer Mutter zurück. Dort teilten sich Stephan und seine Schwestern ein Zimmer im achten Stockwerk eines Hochhauses in der Julius-Brecht-Straße. Er besuchte morgens den Kindergarten und nachmittags den Kinderhort. Seine Mutter Gisela arbeitete ganztags. Erst in der Hähnchenbraterei bei Hertie, und nach einem Nervenzusammenbruch wechselte sie zur Poststelle der Allianz Versicherung, wo sie bis zum heutigen Tage blieb. Von Tex bekam die Familie keinen Pfennig. Sobald Stephan die Uhr zu lesen gelernt hatte und sich in etwa eine Vorstellung von der Länge einer Stunde machen konnte, wurden die Nachmittage ohne die Mutter nur noch länger. Die meiste Zeit verbrachte er mit dem Basteln von Flugzeug- und Schiffsmodellen, mit der verbissenen Fertigstellung von Wachsmalkreidegemälden, oder er starrte aus dem Fenster. Wenn die Mutter abends nach Hause kam, wenn sie rauchte und weinte, so wie sie es immer tat, dann sperrte er sich in sein Zimmer ein und ließ niemanden an sich heran. Als Vaterersatz diente ihm Günther, der ihn früh auf Fußball und Kippen antörnte und mit dem zusammen er die Schwestern quälte.

    Stephan und Moni, Karneval 1968 - Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    Der Frankfurter Berg in Frankfurt-Bonames, und die Julius-Brecht-Straße im besonderen, waren ein nördlicher Stadtteil, in dem man freiwillig niemals wohnen würde. 20-stöckige Hochhäuser versperrten hier den Blick auf einen dunkelgrauen Himmel. Mächtige Bunker mit ramponierten Fahrstühlen, in denen mehrmals pro Jahr eine Frau vergewaltigt wurde, mit düsteren Treppenaufgängen, mit vollgesprühten Garagentoren und mit kryptischen Parolen an den Wänden.

    Wir kriegen euch alle

    Amir du Judas, wir sehen uns in Marokko

    ficken

    Die Briefkästen waren aufgebrochen oder ausgebrannt, die Türen zum Dach eingetreten und die Feuerlöscher wurden von den Stadtwerken kaum noch nachgefüllt. Wenn Stephan nach draußen ging, mußte er sich beeilen, daß er nach unten kam. Erwischten ihn die anderen Kinder im Fahrstuhl, gab es sofort Ohrfeigen. Daran änderte sich nichts, bis er zehn Jahre alt war. Es reichte, daß er dicklich und behäbig war, daß er schweres Asthma hatte und nicht unbedingt zu den Schnellsten gehörte. Der Ball, die Blase, die Pocke, das Ei, war ein billiges Spielzeug in diesen Tagen. Mit einem Ball konnte man auf einen Schlag einen großen Haufen Kinder beschäftigen. Fußball wurde früh zu einer großen Leidenschaft für Stephan. Wenn er und seine Freunde nicht hochhalten spielten, so war es drei gegen drei oder ein stundenlanges Elfmeterschießen. Wo es ihm an Schnelligkeit fehlte, konnte er mit seinen Dribbelkünsten überzeugen. Er stand wie ein Baum, ging ab wie ein Stier, war nur schwer vom Ball zu trennen und zeigte grundsätzlich intensiven, rustikalen Einsatz. Kippe, Ecke, Tor, Stephan liebte die Eintracht. Der Frankfurter Berg war so Scheiße, man mußte nur dort wohnen und man wurde automatisch krank. Wirklich interessant wurde es nur, wenn die Bullen kamen oder ein Selbstmörder vom Dach sprang und auf dem Parkplatz hinter den Mülltonnen aufschlug. Das geschah relativ häufig. Bizarre hessische Wohnkultur. Im Zentrum lag die Trinkhalle, oasengleich neben einer Bushaltestelle. Treffpunkt von Erwachsenen, die sich wieder und wieder darüber klar wurden, daß sie alle im selben Boot saßen. Frauen mit Lockenwicklern, die, nachlässig in verschwitzte Haushaltskittel gekleidet, nach der Neuen Revue schnappten. Männer mit dicken Bäuchen, Hefebusen und ausgebeulten Trainingshosen. Dazu weiße Tennissocken und Badelatschen. Tagein, tagaus, ein langweiliges Geplänkel. Schwall ins All mit Jägermeister und Bier, Milde Sorte und Bildzeitung. Dahinter Trafohäuschen und Überlandleitungen, Balkone, die sich bis zum Himmel stapelten, Fahrradreste und geparkte Autos, manche ohne Reifen.

    Schon während der letzten Grundschuljahre auf der Peter-Petersen-Schule und während der ersten Hauptschuljahre, prügelte sich Stephan mit seinen Mitschülern. Er galt bereits früh als Störenfried der Extraklasse. Als er zwölf war, gab es keinen Erwachsenen auf der ganzen Welt, dem er zugehört hätte. Er hasste die Schule und er hasste seine Lehrer von ganzem Herzen. Hausaufgaben machte er nicht, niemals. Er hatte sowieso keine Hefte, in die er sie hätte hineinschreiben können. Gute Noten interessierten ihn einen Scheißdreck. Zu Hause wartete ohnehin niemand, der sich vielleicht über eine 3 oder eine 2 gefreut hätte.

    Stephan und seine Schwestern hatten einen Kater, der Goethe hieß und den sie sehr liebten. Goethe hatte die Angewohnheit bei den Nachbarn auf den Eckbalkon zu klettern der besseren Aussicht wegen. Irgendwann hatte der Nachbar dem Kater aufgelauert und ihn vom Balkon geworfen. Dieser und unzählige andere Zwischenfälle ließen Stephan nur noch mehr hassen. Frau Weidner, die maßlos überfordert war, erfuhr von all dem wenig. Sie sah ihre Kinder nur einige kurze Stunden am Abend, und als Stephan älter wurde, hielt er sich nur noch zum Schlafen in der Wohnung auf. Einige wenige Male hatte er seinen Vater Tex gesehen. Einige wenige Male hatte der seine Kinder besucht, aber auf dreizehn Jahre verteilt, blieben praktisch keine Erinnerungen an den Vater, außer an sein aufbrausendes Temperament und an seine dicken Autos. Umso merkwürdiger erschien es Stephan, als sein Vater damit begann, sich gegen Mitte der siebziger Jahre, wieder häufiger bei der Familie zu melden. Karl-Heinz Weidner, der die Verantwortung für die Kinder und seine Frau abgelehnt hatte und mittlerweile auf eine steile Karriere im Frankfurter Milieu zurückblicken konnte, kam jetzt öfter nach Bonames und kümmerte sich besonders intensiv um Stephan. Es lief darauf hinaus, daß Tex seinen Sohn unter seine Obhut nehmen wollte, und tatsächlich zog Stephan 1976 zu seinem Vater in die Bockenheimer Landstraße 79. Er wußte zwar nicht genau, was von diesem Schachzug seines Alten zu halten war, aber er fand im Handumdrehen heraus, daß Filetsteaks besser schmeckten als Frikadellen, daß es sich in einem Cadillac bequemer fuhr als in der U-Bahn und daß Geld das Leben angenehmer machen konnte, wenn man die richtigen Dinge dafür kaufte. Am Frankfurter Berg vermißte man ihn kaum. Günther war ebenfalls ausgezogen und die beiden Mädchen kamen ohne den Terror der älteren Brüder sowieso besser zurecht. Außerdem, so dachte seine Mutter, würde ihm eine harte Hand vielleicht ganz gut tun.

    Stephan, Frankfur ter Berg 1973 - Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    Stephan Weidner war jetzt 13 Jahre alt und besuchte die Elsa-Brandström-Schule, eine Hauptschule von niederem Niveau im Frankfurter Westend. Es hatte zwar eine kurze Zeit auf der Realschule gegeben, auf die auch seine Schwester Carmen ging, und sogar ein paar Monate auf dem Gymnasium, aber dort hatte sich Stephan nicht lange halten können. Am Ende landete er doch wieder auf der Hauptschule, wo man sich fürchterliche Sachen über ihn erzählte. Er störe den Unterricht durch obszöne Zwischenrufe, die so schlimm waren, daß die Lehrerinnen sie gar nicht wiederholen mochten, und er quäle seine Mitschüler und er klaue Fahrräder, und überhaupt sei er ein richtig fieser Bastard. Stephan prügelte sich durch die fünfte und die sechste Klasse. In der Siebten blieb er zum ersten Mal sitzen. Und weil er sich partout nicht anpassen wollte, blieb er gleich noch ein zweites Mal sitzen. Sitzen, das war genau das, was er tat. Er saß in der Schule und wartete darauf, daß es schellte. Er folgte weder dem Unterricht, noch nahm er sich die Ermahnungen der Lehrer zu Herzen. Stattdessen versuchte er sich die Schulzeit so spaßig wie möglich zu gestalten. Dennoch lief er mindestens einmal pro Woche zu seinem Vater und richtete ihm aus, daß seine Lehrer ihn dringend sprechen müßten, und jedesmal ignorierte Karl-Heinz Weidner die Aufforderungen seines Sohnes. Warum sollte er mit Stephans Lehrern sprechen, fragte er sich? Die sollten bloß froh sein, daß sie nicht ihn unterrichten mußten! Stephan sei doch harmlos. Er sei viel schlimmer gewesen und außerdem hörte Stephan sowieso niemandem zu, der machte doch ‘eh was er wollte. Stephan berichtete jede einzelne seiner Schandtaten zu Hause. Es war niemals so gewesen, daß er etwas vor dem Alten verheimlicht hätte. Bei Dingen, die die Schule betrafen, blieb der alte Weidner meistens ruhig. Kam aber die Polizei ins Spiel, dann konnte er schlimm aufkochen und barbarisch drauflos brüllen. Schläge gab es nie. Schlagen brauchte Tex seinen Sohn nicht. Sein Auftreten war so dominant, daß Stephan ihn respektieren mußte.

    Stephans Kommunion 1973 - Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    Sobald die Schule aus war, lief Stephan aus dem Gebäude und trieb sich in der Stadt herum. Zigaretten rauchte er mit dreizehn schon seit zwei Jahren, das war nichts Besonderes mehr. Im Park am Stadtbad Mitte jedoch, hinter der Alten Oper, hatte ihm jemand den ersten Joint gereicht, und das war nun etwas ganz anderes. Kiffen war schnell zum neuen Hobby geworden. Ab ‘77 verbrachte er einen großen Teil seiner Nachmittage im Park. Er lag mit den älteren Jugendlichen auf der Wiese, immer hanfbreit über dem Boden, hustete das Chillum aus oder gab dicke qualmende Tüten weiter. Stoned im Gras zu liegen war angenehm, denn trotz der unbändigen Wut in seinem Bauch, mußte er während dieser Zeit mehr grinsen, mehr lachen, war ausgeglichener und ruhiger. Seine Tage waren zwar immer noch gleich lang, aber dafür waren sie jetzt wenigstens breiter. Ende ‘77, er war noch keine 15, da hatte ihm, in hektischer Eile, einer der Parkdeppen das erste LSD auf die Zunge gelegt. Nimm es, du wirst durchdrehen! hatte ihm jemand gesagt. Er nahm es und… verdammt, was wurde hier gespielt? Microgramm? Wieviel sind 150 Microgramm? Viel? Alles was er gesehen hatte, war ein kleines Stück Löschblatt, mit einem Peacezeichen darauf, ein winziges Viereck, nicht größer als der Umfang seiner Tintenkillerschutzkappe oder der eines Einer-Legosteins. ZOOM, so hatte es ihn aus Raum und Zeit geworfen. Ein überkräftiger Zeitlupenarschtritt hatte ihn souverän und ohne viel Federlesen in ein Paralleluniversum befördert. Dort hatte Stephan unter anderem seine Hanfbrüder von der Wiese und mit ihnen auch den Bezug zur Welt verloren. Er lief planlos und von Paranoia geschüttelt durch die Innenstadt. Zeitlupenflash, mentale Rückblenden, Ohrensausen und brüllender Verkehr, der physisch weh tat. Die totale babylonische Reizüberflutung. Alles floß zusammen, schwappte und blubberte, zog sich an und stieß sich wieder ab. Büsche quollen wie Brokkoli aus dem Boden und die Häuserfronten schrumpften. Man konnte auf einem Trip in zwei Sekunden bis zur Schulter des Orions reisen, und bevor man noch Gelegenheit bekam, sich dort umzuschauen, war man schon wieder zurück in der Taunusanlage. Rauf und wieder runter … hin und her… vor und zurück. Von der Hölle in den Himmel und von Betlehem nach Bonames. Auch der schlimmste Trip ging irgendwann vorbei. Stephan kam nach acht Stunden, während derer er wie ein Zombie durch die Stadt geirrt war, wieder runter. Sein Gehirn hatte die Flut der Bilder verarbeitet, eine mögliche chemische Imballance war ausgeblieben, die Flashbacks, Lachflashs und Paranoiaattacken waren zu einem wohligen Schauer verebbt, und am nächsten Tag war außer einem flauen Gefühl im Magen nichts mehr vom Acid zu spüren.

    Hintergrundfoto: Der Frankfurter Berg 1997 – Foto E. Hartsch

    1976 - Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    1977 - Privatsammlung Karl-Heinz Weidner

    Ende des Schuljahres 77/78 sollte Stephan erneut sitzen bleiben. Er hatte die siebte Klasse im dritten Anlauf gemeistert und nun in der Achten wollten sie ihm erneut seine Versetzung verweigern. Er war gewarnt worden. Sein Zeugnis fiel entsprechend miserabel aus. Er sei eine sittliche Gefährdung für seine Mitschüler und er müsse von nun an die Karmeliterschule besuchen, sagte man ihm. Die Karmeliterschule war eine Schule, die noch niveauloser als die Elsa-Brandström-Schule war und auf die man all die Härtefälle schickte, mit denen das Schulministerium nicht klar kam. Zwei Drittel aller Schüler auf der Karmeliterschule waren Ausländer. Hier war nicht von den Söhnen der netten obstverkaufenden Türken die Rede. Die mit der Schiebermütze auf dem Kopf und einem herzlichen Lächeln unter dem Schnurrbart. Keine Kreuzbergidylle. Hier ging es um krasseste Frankfurter Jugo-, Italo- und Türkenschläger, um Springmesser auf dem Schulhof, um Erpressung und Kinderbrutalität. Um Schüler, die nicht als Einzelgänger wie Stephan unterwegs waren, sondern um verschworene Banden, um Jugendliche, die gar nichts mehr zu verlieren hatten und die aus Stadtgebieten kamen, die noch schlimmer als der Frankfurter Berg waren. Ahornstraßenjungs aus Griesheim, Typen aus dem Gallus- und dem Gutleutviertel. Frankfurter Jugendliche wußten, für was diese Namen standen. Eigentlich war Stephan der Meinung gewesen, er hätte genug getan, um in die neunte Klasse versetzt zu werden, aber seine Lehrer, die den Sachverhalt komplett anders beurteilten, konferierten nun schon zum wiederholten Male über den Störenfried. Man wollte und konnte sich sein Benehmen nicht länger bieten lassen. Stephan, der sich, wie so oft in der Schule, ungerecht behandelt fühlte, hatte sich vorgenommen, den Lehrer, auf dessen Mist das alles gewachsen war, zur Rede zu stellen. Weil seine Klassenlehrerin an den Folgen eines Nervenzusammenbruchs litt und krankgeschrieben war, war er entschlossen, von seinem Physiklehrer Rechenschaft zu fordern. Im oberen Flur der Elsa-Brandström-Schule platzte er, zusammen mit einem Freund, verspätet in den voll besetzten Physiksaal und brüllte dem unterrichtenden Lehrer ins Gesicht. Was ihm überhaupt einfiele, was er denn für ein mieser, kleiner, verranzter Ficker wäre, ob er denn total blind und dämlich und scheiße wäre. Stephan schubste den Physiklehrer beiseite und warf dessen Stuhl durch das geschlossene Fenster. Er kippte den Tisch des Lehrers um und steigerte sich mit jeder folgenden Sekunde in einen hollywoodreifen Amoklauf. Mit dem ausgestreckten Arm fegte er durch die Vitrinen, ließ teure Instrumente und mehr oder weniger kostbare Austellungsstücke zu Boden fallen und sprang mit seinen Cowboystiefeln darauf herum. Sprachlosigkeit und Unverständnis ließen sich auf den Gesichtern der Schüler nieder, als Stephan große Reagenzgläser und Erlenmaierkolben aus dem Fenster warf. Stockender Atem und ausgetrocknete Münder, als der Bunsenbrenner hinterhersegelte, und tiefe Reptilienstarre fuhr ihnen in die Knochen, als er begann auf den Lehrer einzuprügeln. Ein fünfzehnjähriger Schüler, der Amok lief. Das war auch in Frankfurt eine Seltenheit. Ein Schüler, der schlimme Sachen schrie und mit seinem Springmesser die ausgestopften Tiere aufschlitzte, im Beisein der gesamten Klasse. Stephan war jetzt heiß gelaufen. Eichhörnchen und Baummarder, Murmeltier und Rabenkrähe. Ritsch-Ratsch, Federn, Fellfetzen und Holzwolle flogen durch das Klassenzimmer. Andere Lehrer, unter anderem auch der stellvertretende Direktor, kamen herbeigelaufen, angelockt durch das Spektakel und den Krach. Der Vizedirektor wollte eingreifen und fing sich sofort eine Ohrfeige von Stephan, einem anderen trat er gegen das Schienbein. Hastig riß er den Feuerlöscher von der Wand und mit einer beherzten Bewegung richtete er den Strahl auf seine Mitschüler. Ein heftiges Gekreische und Gehuste brach los, währenddessen Stephan den Feuerlöscher in die Ecke warf und aus der Tür lief. Noch ein letzter routinierter Griff zum Feueralarm, Roooiiinnggg - und dann hatte er fluchtartig und mit pumpendem Herzen das Weite gesucht…

    Er war von dort aus gleich in die Bockenheimer Landstraße gelaufen und zu allem Überfluß war Tex auch noch zu Hause. Stephan sperrte sich erst mal in sein Zimmer ein, um über die Sache nachzudenken. Klar war er froh darüber, daß er es getan hatte; ein wenig war er sogar stolz darauf, es denen endlich einmal richtig gezeigt zu haben, aber sobald er auf seine immer noch stark zitternden Hände schaute, wurde ihm schwindelig. Mehr als einmal mußte er sich selber fragen: Warum bin ich so? Scheiße, was für eine erbärmliche Scheiße! Oh Kacke, Kacke, alte verdammte Kacke. Er hatte sich schon tausendmal geprügelt, aber so wie an diesem Tag war er noch nie ausgerastet. Die Bullen würden sicherlich nicht lange auf sich warten lassen. In letzter Zeit waren sie häufiger zu Gast bei Weidners, und immer waren sie wegen Stephan gekommen. Fahrraddiebstähle, Schwarzfahrten in der U-Bahn, Körperverletzung und andere Übertretungen riefen ständig das Gesetz auf den Plan. Tex trug’s mit Fassung. Er hatte seinem Sohn schon mehrmals geraten, er sollte keine Scheiße bauen und sich dann auch noch erwischen lassen. Entweder er machte es richtig oder gar nicht. Wenn Stephan glaubte, er müsste klauen, dann würde er ihm zeigen wie man das machte, aber nicht so eine kindische Zigarettenautomatenscheiße oder die Zerlegung eines Klassenraumes vor Zeugen. Wie auch immer, die Anklagepunkte waren eindeutig. Es gab fünf oder sechs Anzeigen auf einmal. Körperverletzung, Zerstörung öffentlicher Einrichtungen, Nötigung, Hausfriedensbruch, Diebstahl und verschiedenes mehr. Der Sachschaden betrug mehrere tausend Mark, und das Gericht schöpfte seine juristischen Möglichkeiten voll aus. Stephan bekam 145 Arbeitsstunden auferlegt. Für den Alten gab es vom Staatsanwalt eine saftige Ermahnung. Noch so ein Knüller und man würde ihn zur Verantwortung ziehen. Überhaupt sei er ja kein unbeschriebenes Blatt, und wenn er sich nicht besser um Stephan kümmerte, müßte dieser in ein Heim eingewiesen werden. Und außerdem habe Stephan, wenn er die neunte Klasse tatsächlich noch machen wollte, die Schule in einem anderen Bundesland fortzuführen, da ihm in Hessen sein Ruf von Schule zu Schule voraus eilte und ihn jetzt, wo er seine Pflichtschuljahre beendet hatte, kein Direktorium mehr haben wollte.

    Böhse Onkelz Urformation: Pe, Kevin, Stephan 1980 - Privatsammlung Stephan Weidner

    Kapitel 2

    1964-1981

    Türkähn rauhs, "Böhse Onkelz, Winter 80/81, 1.Demotape,

    unveröffentlicht, Selbstzensur

    Der 15. Juni 1964 war eindeutig zu kühl. Der ganze Tag war wolkenverhangen. Es ging ein starker Wind, der erst am späten Nachmittag zur Ruhe kam. Am Abend hatten bei Frau Schorowsky die Wehen eingesetzt und kurz nach 23:00 Uhr war es fast soweit. Falls es ein Junge werden würde, so sollte er Peter heißen. Ihr Heimatort Hösbach war ein kleines Nest in der Nähe von Aschaffenburg. Obwohl es nur eine gute Stunde von Frankfurt entfernt lag, gehörte es bereits zu Bayern. Außer seiner alten Ringertradition hatte dieser Ort nicht viel zu

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