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Amnesie: Datensehertrilogie Band 1
Amnesie: Datensehertrilogie Band 1
Amnesie: Datensehertrilogie Band 1
eBook371 Seiten4 Stunden

Amnesie: Datensehertrilogie Band 1

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Über dieses E-Book

AMNESIE ist der 1. Teil der dystopischen Trilogie im Datenseheruniversum:
2145, 60 Jahre nachdem der dritte Weltkrieg gegen die Maschinen zum Preis eines dauerhaft verdunkelten Himmels gewonnen wurde, ist Energie knapp, künstliche Intel-ligenz verboten und In4ma$ das einzige Unternehmen mit historischen Archiven.
Um ihren Job bei In4ma$ zu sichern, nimmt Mira Nielsson den Auftrag an, Bild und Namensliste zu einem in der Zukunft liegenden Blutbad in Zusammenhang zu bringen und damit vor Eintreten aufzuklären. Ihre Ausbildung als Seherin macht sie zu einem von zwei möglichen Bearbeitern dieses Auftrags, sodass ihre Kontrolle über ihre Sensitivität von Tunnelströmen plötzlich mehr ist, als ein Mit-tel, um nicht negativ aufzufallen.
Jedoch erst nachdem Mira unfreiwillig eine Erinnerung verliert, nimmst sie Hilfe von dem zweiten möglichen Kandidaten an und entwickelt mit seiner Hilfe ihre seherischen Fähigkeiten weiter, um das prophezeite Massaker zu verhindern.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Sept. 2024
ISBN9783384371621
Amnesie: Datensehertrilogie Band 1
Autor

Monika Wolff

Seit 2017 erträumt Monika Wolff auf Zugfahrten und hoch über den Dächern von Hannover fremde Welten und zauberhafte Begebenheiten. Der kreative Schaffensprozess ist für sie ein Ausgleich zu ihrer alltäglichen analytischen Arbeit. Als studierte Physikerin begeistert sie sich für Lernen, Technik und die Erkundung riesiger und mikroskopischer Welten. Wenn sie nicht gerade arbeitet, spielt oder liest, reist Monika durch Deutschland und die ganze Welt auf der Suche nach neuen Erlebnissen und Geschichten.

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    Buchvorschau

    Amnesie - Monika Wolff

    Titel

    Amnesie

    Datensehertrilogie Band 1

    Monika Wolff

    Impressum

    © 2024 Monika Wolff

    Erstmals veröffentlich © 2023 by Monika Wolff

    Umschlag, Illustration: Hannes Mangelsdorf

    Lektorat: Elisa Garret

    Druck und Distribution im Auftrag von Monika Wolff

    tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

    Paperback      978-3-384-37161-4

    e-Book            978-3-384-37162-1

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Monika Wolff verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag Monika Wolffs, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung Impressumservice, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

    Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

    Es beginnt mit Orange. Angst. Alles beginnt mit Angst.

    Dann kommt Rot. Wut. Eine Welt der Extreme, die

    dazu verdammt ist, in die Dunkelheit hinabzusteigen.

    Lila. Einsamkeit. Stille ohne Frieden.

    Blau. Ruhe. Tiefe. Erfahrung. Wissen.

    Grün. Können. Ein Weg, den man mit Selbstsicherheit findet und mit Bestimmtheit geht.

    Gelb. Kraft. Sich selbst verstärkend auf dem Weg zur Erleuchtung.

    Weiß.

    Prolog

    „Wer hat Ihrem Kind das Wort supraneurale Celeritas beigebracht?", fragte der Mann im weißen Kittel.

    Er hielt die einzige Lichtquelle im Raum in seinen Händen. Trotz des Bildschirms, der einen matten Schein erzeugte, konnte ich seine Augenfarbe nicht erkennen. Blau oder grau?

    „Kinder mögen alles mit super, nicht wahr?", entgegnete die weibliche Leistungseinheit vor ihm, meine Mutter. Sie konnte seine Augenfarbe problemlos erkennen. Dafür sorgte ihr Chip.

    Zähne strahlten gebleckt in der Dunkelheit. Ich spielte mit dem Ring meiner Halskette.

    „Sie liest es aus den Köpfen der anderen", antwortete die zweite Leistungseinheit, ihr Partner, mein Vater. Ihm erschienen die Zähne als Lächeln. Noch ein Trick dieser Chips.

    „Denken Sie solche Worte?"

    „Ich dachte …, er schüttelte den Kopf, „Ich dachte, dafür ist dieser Superchip da.

    „Der ist definitiv in ihrem Interesse, sagte der Kittelträger, „Und in Ihrem! Ihre Tochter hat ein erfolgreiches Leben vor sich.

    „Das hoffe ich doch, bei solchen Summen. Und das für eine Standard-OP", bemerkte Mutter.

    „Rosa, Vater legte ihr eine Hand auf das Knie, senkte jedoch den Kopf, „Was … Wie viel … Womit müssen wir rechnen?

    Ihr Gegenüber tappte auf seinen Bildschirm. Immer schneller drehte ich den Ring zwischen meinen Fingern, ganz leise. Er sah eine große Null vor sich.

    „Machen Sie sich keine Sorgen", erwiderte er, blickte von seinem Bildschirm hoch und stand auf. 

    Die beiden Leistungseinheiten betrachteten einander verwirrt. Mutter setzte an: „Was soll das heißen? Uns wurde erklärt, dass nicht jeder Chirurg … diese OP ist gefährlich, oder?"

    „Ihre Tochter hat ein enormes Talent, Frau Nielsson. Es ist nur ungewöhnlich schnell aufgetreten. Mit dem richtigen Chip wird nach dieser Operation alles leichter, versprochen."

    „Wie hoch ist die Summe genau?, fragte sie weiter, „Wir können nicht …

    „Akzeptieren Sie die Summe einfach als bezahlt", unterbrach er sie forsch. 

    „Wie bitte?, fragte Vater, „Woher kommt das Geld?

    Von einem jungen Mann, den er vor langer Zeit operiert hatte. Mehr verrieten die Gedanken des Mannes im Kittel nicht.

    Mutter lehnte sich zu Vater: „Die OP ist das Richtige. Überleg doch mal, wir können froh sein."

    Bevor weitere Fragen ertönten, äußerte der Chirurg: „Wenn Sie mich nun meiner Arbeit nachgehen lassen."

    Die beiden erhoben sich und blickten in den Raum hinter sich. Nicht einmal mit Hilfe ihrer Chips konnten sie in dieser Dunkelheit etwas erkennen. Kurz darauf öffnete der Chirurg die Tür. Licht fiel aus dem Flur in den Raum. Mutter ging voran und zog Vater hinaus.

    Fest schloss der Chirurg die Tür, legte den Bildschirm aus der Hand und kam zur anderen Seite gelaufen. Ohne dass sein Kittel beleuchtet wurde, war es noch dunkler im Raum. 

    Anders als ich erkannte er wenigstens Schemen in dieser Dunkelheit. Anders als bei den zwei Leistungseinheiten ergänzte sein Chip die Konturen um einen Grundriss. Zielsicher drückte er verschiedene Knöpfe. Die Maschine unter mir begann zu vibrieren.

    „Kannst du dich an unseren gemeinsamen Freund erinnern?", fragte er mich. 

    Seit unserer Ankunft hatte er mich nicht angesprochen. Musste er mit jemandem reden und ich war als Einzige über? Vielleicht genügte es, wenn ich den Kopf schüttelte.

    „Nicht wackeln", ermahnte er mich sofort. 

    Mich traf etwas an der Schläfe. Ich zuckte, trotz seiner Warnung. Es roch nach Alkohol. Durch seine Augen erkannte ich einen Wattebausch. Dann zog er eine kalte Spur über meinen Schädel. Als er fertig war, sah er mich immer noch an.

    „Ich kenne keinen einzigen Ihrer Freunde", antwortete ich schnell. Ich kannte überhaupt niemanden. Zumindest nicht vor dem Unfall. 

    „Nicht schlimm, sagte er, lächelte und drehte mich auf der Liege. „Irgendwann wirst du dich an ihn erinnern.

    Ihn? War Er gemeint? Er durfte mich nicht finden!

    Plötzlich lag eine Maske auf meinem Gesicht. Ich hielt die Luft an. Hatte Er das hier arrangiert? Ich durfte auf keinen Fall das Bewusstsein verlieren. 

    Der Chirurg drückte mich zurück auf die Liege. Seine Hand half mir bei der Verbindung. Genaue Gedanken waren schwer zu erraten, aber Ihn würde ich sicher erkennen. Doch die Aufmerksamkeit des Chirurgen galt wieder ganz seiner Vorbereitung. 

    Es konnte nicht Er gemeint sein. Er war nie eine Nebensache. Gut. Ich atmete ein. Bereit für die Narkose. Bereit, alles selbst sehen zu können. Der Ring glitt mir aus den Fingern.

    Beauftragung

    30 Jahre später

    „Es geht um die Zukunft", erklärte Tristan Wehrig. Seine Stimme hallte zwischen den Wänden meines Büros. 

    „Auftrag 4580. Welche Region?", fragte ich.

    Deswegen wendete man sich an In4ma$. Wir besaßen die Mittel und Fähigkeiten, an alle Informationen zu kommen. Weit über die letzten sechs Jahrzehnte hinaus und bis in die Hochrechnungen hinein, die zur Nährstoffproduktion dienten.

    „Die Frage lautet nicht wo, sagte Tristan in einem von der Decke hängenden Sessel neben mir, „Sondern wer, was und wann.

    „Unmöglich", stieß ich aus und erstarrte direkt. Meine Augen auf ihn gerichtet, schluckte ich schwer. Einen zahlenden Auftraggeber lehnte man nicht einfach ab. Erst recht nicht, wenn der persönliche Neujahrsvorsatz darin bestand, den eigenen Job zu sichern. Und das am 2. Januar.

    „Der Bob steht dir ausgezeichnet", bemerkte Tristan, zog seine Mundwinkel hoch und strich mit einem Finger durch ein Blatt des Hologramms hinter uns. Die Graue Mauer benötigte die Information dringend, wenn ich hier eine zweite Chance erhielt.

    „Wir machen keine derartigen Vorhersagen", versuchte ich es noch einmal.

    Für so etwas brauchte es künstliche Intelligenz. Ohne den Krieg selbst erlebt zu haben, wollte ich keine neuen KI-gesteuerten Mörderroboter riskieren.

    Tristan lachte. Sein nach hinten gegeltes Haar verrutschte nicht einen einzigen Millimeter. Den Eindruck des schmierigen Lehrerlieblings hatten weder die Jahre seit unserer Schulzeit noch seine Ausbildung in der Mauer verändert. Er lächelte mich an: „Die Vorhersage haben wir."

    Mein Mund klappte auf.

    Einen Moment lang fiel mir nichts ein. Ich drehte am Ring meines Fingers und sank tiefer in den Sessel zurück.

    Es kitzelte mich, eine Grundsatzdiskussion anzufangen. Darauf hinzuweisen, dass die Beschäftigung mit einer Prophezeiung sie überhaupt erst Wirklichkeit werden ließ. Erst in unseren Köpfen und dann durch unser Handeln in der Realität. Doch einem ausführenden Arm der Mauer musste ich nicht mit einer Sinnfrage kommen.

    „Woher?", fragte ich und beobachtete ihn genau. 

    Er streckte seinen Rücken fest durch, so weit, dass sein Sessel zurückschwang und der Knopf seines Anzugs spannte. Vielleicht war dies eine der ungeschriebenen Regeln bei Versicherungen: „Regel 37: Öffnen Sie den obersten Knopf Ihres Jacketts niemals beim ersten Gesprächstermin" – oder so ähnlich.

    „Die Informationen hat eins unserer Subunternehmen erzeugt. Eine Liste mit Namen und ein Bild."

    Wie war das möglich, ohne das weltweite Verbot gegen Künstliche Intelligenz zu brechen? Tristan schien es allerdings ernst zu meinen und kannte den Hintergrund so gut wie ich. Wir hatten einst dieselben Geschichtskurse besucht. Und er saß hier. Die Informationsschürfung musste konform des Gesetzes sein.

    „Worin besteht der konkrete Auftrag?", fragte ich jetzt. Versicherungsfälle waren wie Kaugummi: Der Geschmack verging schnell und kurze Zeit später wurde es zäh. Allerdings verhießen Aufträge Belohnungen. Und für mehr als das Hologramm eines blühenden Kirschblütenbaums, durfte ich nicht wählerisch sein.

    „Eine Informationsanreicherung auf jeglichen Ebenen, sein grauer Anzug raschelte, während er sich zum Rand des Sessels voranschob, „Im Fokus steht ein Gewaltverbrechen. Sichtbar, blutig und unter Sternenhimmel.

    Ein wolkenloser Himmel? Funkelnden Sternen entgegenblicken. Mit jedem Atemzug Freiheit spüren. Sich umdrehen und einander Geschichten aus der Formation der Sterne erzählen. Das hatte es seit dem Krieg nicht gegeben. Bloß jetzt?

    „Das klingt nach einem Fall für die Polizei."

    Ich würde meine Karriere nicht aufs Spiel setzen, indem ich die einfachsten Grundregeln hinterging. Sollte sich doch die Mauer mit der Bürokratie unserer sogenannten Ordnungshüter herumschlagen.

    „Das Verbrechen wurde noch nicht begangen", Tristan rutschte zum äußersten Rand seines Sessels. Früher hätte er seine Brille zurechtgeruckelt. Wie lange war es her, dass er seine Sehschwäche korrigiert hatte? Oder die gewohnte Handbewegung zum Nasenrücken? 

    Langsam, aber stetig drehte ich den Ring um meinen Finger. Dass Tristan hier saß, ergab immer mehr Sinn. Einen Anruf hätte ich schnell beendet. Allein der Verdacht auf eine KI konnte ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen.

    Der Mauer war es ernst. Die Energie, Tristan durch die halbe Stadt zu schicken. Die Versuche, das Gespräch am Laufen zu halten. Doch Tristan hatte noch nicht alles gesagt, was es zu diesem Auftrag zu wissen gab. Eine typische Taktik.

    Mein Blick glitt zum Fenster hinaus. Die Mauer war undurchsichtig wie die ewige Wolkendecke um den Planeten. Nichts wodurch Sterne sichtbar waren, sondern verdächtig dunkel. Verdammt, wie spät war es? 17:53 Uhr leuchtete es in meinem Blickfeld. Komisch, wie die Überlagerung mir nur dann auffiel, wenn ich mich danach fragte.

    Tristan legte seine Hände glatt auf die Knie: „Um diesen Fall zu lösen, braucht es eine Person, die sich sowohl mit der Interpretation komplexer Daten als auch mit Visionen auskennt. Du bist die Einzige, die beides anbietet."

    Mir wurde schwindelig. Hatte ihn etwa ein Seher geschickt? Nein, das Thema war zu ernst für einen blöden Streich. Trotzdem, dieses Wissen war nicht allgemein zugänglich. 

    In der Schulzeit hatte ich oft gefehlt, das wusste Tristan durchaus. Aber Krankenhausbesuche und Einzelunterricht konnten alles Mögliche heißen. Und ich hatte nie gerne oder viel davon erzählt. Mein Arbeitgeber wusste natürlich von meinem Hochleistungschip und der dazugehörigen Seherausbildung. Als größter Informationshandelsplatz wusste hier auch jeder, wie man etwas für sich behielt.

    Ich seufzte. Warum musste sich ausgerechnet die Mauer auf ein Thema wie Vorhersagen stürzen? Anfragen zum Wetter verstand ich bei einer Versicherung, Mord nicht. Wer investierte derartig in einen Einzelfall? Und warum heute? 

    „Wer steht auf der Liste?", fragte ich zögernd.

    Tristan schaute mich an. Ein guter Blick. Nicht zu aufdringlich oder persönlich, aber scheinbar auf den Augenblick konzentriert. Dann schüttelte er den Kopf. 

    „Das ist nicht unsere Frage, er sagte unsere, als wäre er völlig im Kollektiv aufgegangen. Dann stand er auf, „Du warst unsere letzte Hoffnung.

    Tristans Kommentar verriet mir nur wenig, mit Sicherheit allerdings, dass eine Bearbeitung wertvoll war. Das konnte mein Ticket in eine sichere Zukunft sein. Unbefristete Arbeit, gut bezahlt, systemrelevant. Ich hob meine Hand. 

    „Es gibt einen Ort und eine Liste aller Beteiligter, bloß keine Information darüber, was eigentlich geschieht, ich atmete einmal tief durch, „Was ist das Informationsziel?

    Er schaute zu mir herab und erwiderte langsam: „Volle Transparenz, bevor es eintritt."

    Das war erstaunlich durchdacht. Jedenfalls besser als der Wunsch nach Vorbeugen oder Vereiteln. Entscheidungen wurden in der Gegenwart getroffen. Begriffe wie Glück oder Pech dienten einzig dem Entzug vor Verantwortung. 

    Doch wenn ich die Gewichtigkeit dieses Auftrags richtig einschätzte, war die Zielformulierung zu unkonkret. Ich musterte Tristan schweigend. Sein Lächeln erstarrte. 

    „Mit Risikoklassifizierung, sind eine plausible Ablaufbeschreibung und die Identifikation des Täters hinreichend."

    Das … war erreichbar. Wenn ich mich geschickt anstellte, könnte ich der Mauer sogar einen Denkzettel verpassen, was Vorhersagen anging. Wahrscheinlich bräuchte ich nicht mal meine seherischen Fähigkeiten einsetzen, zumindest nicht direkt. Doch ohne Zustimmung konnte ich keine Risikoklassifizierung annehmen. Ein Grund mehr, eine feste Position zu erreichen.

    „Unter Vorbehalt", sagte ich und stand neben ihm auf. Jemand wollte diesen Auftrag unbedingt, sonst hätte Tristan keinen Termin bekommen.

    Er lachte, als hätte einer von uns einen Witz gemacht. Ich konnte nicht einstimmen. Eine blöde Risikoklassifizierung und ich konnte nicht mehr selbstständig arbeiten.

    Er reichte mir seine Hand, wenigstens etwas. Während er meinen Fingerabdruck scannte, gönnte ich mir einen Blick in sein Inneres. 

    Wie immer war der Gedankenstrom eines anderen Menschen im ersten Moment überwältigend. Sein Chip ermöglichte mir eine Interpretation, aber Gedanken waren divers und bedurften einer individuellen Analyse. Ich legte das Bild seines Stroms für später ab, vielleicht würde sich darin direkt eine Lösung finden. Menschen besaßen oft alle nötigen Informationen und brauchten nur jemanden, um sie zusammenzusetzen.

    Als er meine Hand wieder losließ, zuckte er kurz. Er schaute mich an, schaute mir zum ersten Mal heute wirklich ins Gesicht, ohne etwas zu sagen.

    Er ging zur Tür, die sich leise für ihn aufschob.

    „Vertrag, Informationen und Termine laufen über die üblichen Kanäle", sagte ich zu seinem Rücken. Ich berührte meinen Ring und ertastete dessen Fehlstelle.

    Tristan drehte sich um, sein Gesichtsausdruck war wieder neutral: „Ich kann veranlassen, dass ein anderer Vertreter die Akte übernimmt."

    Natürlich war er im Zuge seiner Ausbildung ein besserer Beobachter geworden. Die Mauer bestand ausschließlich aus guten Beobachtern. Allerdings besaß er auch einen blinden Fleck, denn offenbar hatte er nichts von mir in seinem Kopf bemerkt. 

    „Warum solltest du? Wenn wir erwischt wurden, standst schließlich früher auch nie du vorne, mit einem Lächeln wies ich auf die Tür. „Ich habe noch einen Termin.

    Tristan starrte mich an: „Das ist über zwanzig Jahre her, er verdrehte die Augen, „Bis bald, Mira.

    Party

    Wind zischte um die Ecke, als ich die letzten Stufen zur Bahnstation nahm. Die Röhre wirkte wie ein waagerechter Windkanal. Dann fuhr der Waggon schließlich ein.

    Neben mir stiegen Einzelne zu. Es blieb genug Platz, um sich nicht gegenseitig in den Weg zu springen. Die andere Seite des Bahnsteigs, zum Aussteigen, war durchaus voller. An einem Samstagabend kein Wunder, die Linie fuhr einmal quer durch die Alte Stadt.

    Im Waggon hatte jeder Passagier ein Polster zum Anlehnen. Trotz dieses Luxus war ich froh, meine Gedankengeschwindigkeit heruntergefahren zu haben. Das Letzte, was ich auf dem Weg zu Veronika brauchte, war den Gedanken anderer nachzuhängen.

    Die Röhre war transparent, aber an vielen Stellen nicht mehr ganz durchsichtig. Die verwinkelten Reihen versetzt stehender Gebäude kannte ich von Fußmärschen. Die Innenstadt bestand aus einem Wolkenkratzergewirr unterschiedlichster Firmen. Je weiter draußen, umso mehr Wohntürmen reihten sich dazwischen ein. Ich konnte meinen nicht ausmachen, als wir an der richtigen Straße vorbeifuhren. Sie sahen alle ununterscheidbar gleich aus.

    Flammen. In einem Flammenmeer untergehende Augen.

    Was? Wo? Ein kurzer Rundumblick versicherte mir, dass kein Notfall bestand. Vielleicht außerhalb des Waggons, irgendwo neben der Röhrenbahn.

    Grüne Augen. Immer noch inmitten von Flammen.

    Die Bahn war nicht schnell, aber an egal welchem Notfall – wir wären inzwischen vorbei. Auch außerhalb der Röhre waren weder Flammen noch Qualm zu sehen.

    An Bord dieses Waggons war jemand, dessen Gedanken so laut dröhnten, dass ich sie über mehrere Meter hinweg hören konnte. Was war hier los?

    Keiner der Mitfahrenden verhielt sich auffällig, alle standen stumm in den Reihen. Ich drehte meine neuronale Geschwindigkeit hoch und schaute einen nach dem anderen eindringlich an.

    Die Frau in meiner Reihe schaute in unsichtbare Ferne, ein Online-Rollenspiel vor ihrem inneren Auge. Die elektronische Übermittlung ließ sich leicht erkennen. Ein Mann, der einzige Passagier in der Reihe hinter mir, war ganz ausgeglichen. Seine Gedanken konnte ich nicht gleich im Detail ableiten, das schloss das Flammenmeer aus. Der Mann in der Reihe von mir … war wir ein blinder Fleck.

    Das war ungewöhnlich, ließ sich jedoch mit einem fehlenden Chip erklären. Seine Kleidung wirkte gepflegt, seine Statur dünn. Zu dünn vielleicht. Ein weiteres Anzeichen für einen Ernährer.

    Bevor ich diesem Verdacht weiter nachging, musterte ich die verbleibenden Passagiere in der vordersten Reihe. Ein typisches Paar. Sie teilten ihre Gedanken miteinander, einvernehmliche Abendplanung. Welche Route war zu wählen, wo ließ sich am günstigsten ein Nährstoffpaket mitnehmen. Unauffällig.

    Blieb der Unlesbare. Waren es seine Gedanken, die so laut dröhnten? Ja, definitiv. Laut und schnell. Und, wenn er keinen Chip trug, ausgesprochen klar.

    Die von Flammen umgebenen Augen ließen mich nicht los. Nicht nur, weil sie mir permanent entgegengeschleudert wurden. Das allein war mit meiner aktuellen Gedankengeschwindigkeit beeindruckend. Gleichzeitig fühlte es sich an, als sollten sie mich an etwas erinnern.

    Der Mann stieß sich von der Lehne ab und wechselte zur linken Seite, der Ausstiegsbereich des Waggons. Meine Konzentration war gebrochen. Die kommende Station war richtig, wenn ich zu Veronika wollte. Draußen wäre es außerdem leichter, in seine direkte Nähe zu kommen und weitere Gedanken von ihm zu lesen.

    Ich drängelte mich schnell an der Frau vorbei und stellte mich neben den Unlesbaren. In dem Moment verschwand die Röhre vor uns, ohne dass ich einen detaillierten Blick auf sein Spiegelbild erhaschen konnte.

    Mit einem sanften Sprung verschwand er. Er ließ es leicht aussehen. Der Trick war auf dem Bahnsteig weiterzulaufen, erinnerte ich mich dunkel. Energietechnisch war es natürlich schlau. Die Waggons fuhren bei nahezu konstanter Geschwindigkeit. Aber wer hatte es für eine gute Idee befunden, alle Passagiere in und aus fahrenden Zügen springen zu lassen?

    Mit einem großen Satz sprang ich nach draußen. Einige Schritte weiter wurde es kühl. Gefühlt kühler als vor der Fahrt. Völliger Quatsch bei der allumspannenden Wolkendecke, es herrschten immer vier Grad Celsius. Ich richtete meinen Mantelkragen und schaute mich um.

    Der Mann verschwand gerade auf der Treppe nach unten. Er bewegte sich schnell, fror wahrscheinlich noch leichter als ich. Mit langen Schritten lief ich den Bahnsteig zurück und ihm hinterher.

    Auf der Straßenebene eilte er unter der Glasröhre der Bahn der Ampel entgegen. Das Flackern der Leuchtreklame, als er mir die Sicht auf die QR-Codes nahm, machte es mir leicht, ihn zu finden. Um ihn einzuholen, musste ich joggen.

    An der Ampel, immer noch viele Meter im Rückstand, wurde mir plötzlich ein Leuchtband in der Luft eingeblendet. Die Ampel vor mir war auf Rot gesprungen.

    Ein Blick über die Kreuzung und ich sah einen Laster auf mich zukommen. Ich rannte weiter, es ertönte ein Warnsignal. Das ist nur in deinem Kopf. Ich hechtete zur anderen Seite.

    Sobald ich die Fußwegmarkierung berührte, verschwanden Lichtershow und Hupkonzert. Der Lastwagen brauste hinter mir vorbei.

    Die Straße vor mir kannte ich. Bisher konnte ich diese kleine Verfolgungseinlage damit rechtfertigen, dass ich den kürzesten Weg zu meinem Zielort einschlug. Man wusste ja nie, wer zuschaute.

    Wo war der Unlesbare jetzt? Ich entdeckte ihn an der nächsten Ecke. Ihn wieder alleine gehen zu lassen war unmöglich. Moment! Wieder? Wie kam ich darauf? Blieb nur ein Weg, um das herauszufinden.

    Trotz des Mund-Nase-Schutzes brannte die Luft in meiner Lunge. Er musste sowohl meine Schritte als auch meinen Atem hinter sich hören. Kurz bevor ich ihn erreichte, blieb er stehen. Ruhig, ohne ein Wort zu sagen.

    Dann drehte er sich um und schaute mich an. Ich starrte in grüne Augen, seine grünen Augen. Die Maske über dem Rest des Gesichts betonte sie nur noch stärker. Ich konnte nicht anders und überwand die letzten zwei Meter.

    Als sich meine Hand um seinen Arm schloss, wurde er real. Im selben Moment liefen mir Tränen über die Wange.

    Verbrennen, Flammen. Rote Flammen rund um diese grünen, stechenden Augen. Das Atmen fiel mir schwer. Er blieb regungslos. Wer ließ sich vollheulen, wenn ihm die andere Person egal war? Niemand. Dann war das hoffentlich keine Einbildung. Ha. Einbildung, ein eigenartiges Wort für Bilder davon, wie jemand verbrannte.

    „Was ist passiert?", fragte ich und tupfte meine Tränen fort, bevor sie meine Maske erreichten und kälter machten.

    „Gehen wir rein", sagte er und ergriff meine Hand.

    Einfach so. Sprachlos starrte ich auf unsere Hände. Aber es war fair, ich hatte ihn ebenso ungefragt berührt.

    Er führte uns zum nächsten Hauseingang. Die Tür registrierte uns und öffnete sich. Offensichtlich waren wir willkommene Gäste.

    Ein Blick durch den Flur und ich erkannte den Ort. Mit welcher Wahrscheinlichkeit waren wir zufällig beide auf dem Weg zu Veronika?

    Erst jetzt fiel mir auf, dass ich keine Gedankenströme von ihm auffing. Keine Flammen mehr oder Augen. Ruckartig ließ ich ihn los. Das war mir nicht geheuer.

    „Ich wusste, ihr kommt noch!", Veronika kam durch den langen Flur auf uns zu. Ihre Haare waren neu eingefärbt und strahlten uns hellrosa entgegen.

    Mit einer Umarmung begrüßte sie mich. Der Duft von Lilien umgab sie. Dann löste sie sich von mir. Die flatterhaften, dünnen Lagen ihres Kleides hafteten noch an mir, während sie sich umdrehte.

    Sie umarmte den Mann mit den grünen Augen weniger eng und ihre Hände blieben gegenseitig im Bereich der Oberarme. Eine Begrüßung für alte Freunde. Vielleicht kannte ich ihn und seine Augen aus ihren Erinnerungen. Und die Flammen?

    Veronika drehte sich zurück und ihr Lächeln erfüllte ihr gesamtes Gesicht. Mit einer Handbewegung forderte sie uns auf, ihr zu folgen. Ich zog meine Maske und meinen Mantel aus. Durch den Flur vernahm ich Gelächter. Veronika zwinkerte mir zu.

    Oh, nein. Warum tat sie das immer wieder? Ich mied Menschenmassen der Menschen wegen. Das änderte nichts an Veronikas Meinung, dass ich zu wenig soziale Kontakte pflegte. Normalerweise wäre ich jetzt wieder umgedreht, verschwendete Bahnfahrt hin oder her.

    Von hinten hakte sich jemand bei mir ein, der Unlesbare. Meine Neugier gewann und ich ließ mich von ihm mit in den Wohnbereich ziehen.

    „Danke, flüsterte Veronika, als wir auf der Schwelle standen, „Mitarbeitende von Infourmas heben das Level einer Party an wie nichts anderes.

    Der Stoff ihres Kleides kitzelte meinen Arm. Ihre rosa Locken wippten, als sie in den Raum lief und rief: „Schaut mal alle, wer da ist!"

    Schlagartig zog ich mich zurück und versuchte in den Schatten des Flures zu flüchten. Bis eben neben mir, stürzte sich mein Begleiter selbstsicher in die wogende Masse und wurde herzlich empfangen. Über die Schulter warf er mir ein Zwinkern zu. Dann verschwand er endgültig in der Menge und die Menschentraube zog weiter.

    Die Party war glamourös, ganz ohne Zutun von In4ma$. Wie ein sanfter Sonnenstrahl tanzte Veronika von einer Gruppe zur nächsten. Bei wem sie nicht schnell genug war, der kam zu ihr.

    Was mir wie eine Störung vorkommen würde, verwandelte sie in perfekte Gelegenheiten, deutete in Richtungen, spiegelte Gesichtsausdrücke und brachte alle um sich herum zum Lachen. Ohne ihre Worte direkt zu hören, spürte ich, wie

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