Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie: Grundlagen, Diagnostik und Förderung
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Über dieses E-Book
Ausgehend von einer entwicklungspsychologischen Analyse der kognitiven Prozesse beim Schriftspracherwerb bietet das Buch ein theoretisches Gerüst, um individuelle "Stolpersteine" beim Schriftspracherwerb zu erkennen und daraus Fördermaßnahmen abzuleiten. Die 3. Auflage dieses Standardwerks geht auf alle relevanten Forschungsfragen und -ergebnisse ein und stellt darüber hinaus bewährte und aktuelle Testverfahren und Förderprogramme vor. Zahlreiche Fallbeispiele veranschaulichen die Ausführungen.
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Buchvorschau
Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie - Gerheid Scheerer-Neumann
Lehren und Lernen
Herausgegeben von Andreas Gold, Uta Klusmann, Cornelia Rosebrock und Rose Vogel
Begründet von Andreas Gold, Cornelia Rosebrock, Renate Valtin und Rose Vogel
Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:
https://shop.kohlhammer.de/lehren+lernen
Die Autorin
Prof. Gerheid Scheerer-Neumann, PhD, ist Diplom-Psychologin und war zuletzt Professorin (em.) für Grundschulpädagogik: Lernbereich Deutsch an der Universität Potsdam. Ihre Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre sind der Schriftspracherwerb und die Lese-Rechtschreib-Schwäche. Zu diesen Themen hat sie auch zahlreiche Übersichtsartikel geschrieben und diagnostische Verfahren und Fördermaterial entwickelt. Ihr Ansatz ist interdisziplinär und berücksichtigt gleichermaßen die kognitions- und entwicklungspsychologische sowie die didaktische und pädagogische Perspektive. Gerheid Scheerer-Neumann hat lerntherapeutische Erfahrung und ist mit den Anforderungen der Praxis vertraut.
Gerheid Scheerer-Neumann
Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie
Grundlagen, Diagnostik und Förderung
3., erweiterte und überarbeitete Auflage
Verlag W. Kohlhammer
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3., erweiterte und überarbeitete Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-041444-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-041445-7
epub: ISBN 978-3-17-041446-4
Geleitwort
Die nationalen und internationalen Schulleistungsstudien haben die unterrichtsbezogene Lehr-Lern-Forschung in hohem Maße stimuliert und spürbare Innovationen im gesamten Bildungssystem bis hinein in die konkreten unterrichtlichen Praktiken mit sich gebracht. Rund um das Lehren und Lernen hat sich eine interdisziplinär verstandene Empirische Bildungsforschung etabliert, die zu einem besseren Verständnis der Lehr-Lern-Prozesse und zu einer nachhaltigen Förderung individueller Lernpotenziale beizutragen vermag. Die Erziehungswissenschaft, die Fachdidaktiken und die Pädagogische Psychologie sind daran beteiligt. Nun geht es darum, die wissenschaftlichen Erkenntnisse empirischer Forschung für die pädagogische Praxis nutzbar zu machen.
Lehren und Lernen, wissenschaftlich basiert betrieben, kann nur durch das Zusammenspiel pädagogischer, psychologischer, fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Theorien und Befunde befriedigend erklärt, gesteuert und optimiert werden. In der pädagogischen Praxis kann keine Lerntheorie ohne Bezug auf eine konkrete Inhaltsdomäne und keine Lehrmethode ohne Bezug auf ein Curriculum und jeweils individuelle Lernvoraussetzungen erfolgreich sein.
Die je eigenen Perspektiven und Erkenntnisse der Psychologie, der Pädagogik und der beiden schulisch zentralen Fachdidaktiken Mathematik und Deutsch sollen in den einzelnen Bänden dieser Reihe verständlich und kompakt zu einem kohärenten Gesamtbild zusammengeführt werden. Neben der Interdisziplinarität liegt ein besonderer Wert auf einer empirischen Fundierung: Erfahrungswissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse zum Lehren und Lernen liegen den jeweiligen Darstellungen zugrunde. Schließlich fokussieren alle Bände der Reihe den Anwendungsbezug: Die entfalteten Themen, Diskurse und Fachgebiete sind jeweils unmittelbar bedeutend für Kindergarten, Schule und Unterricht.
Die vorliegende Reihe adressiert das Lehren und Lernen vom Vorschul- bis zum jungen Erwachsenenalter. Konzipiert ist sie für (zukünftige) Lehrende, aber auch für Pädagoginnen und Pädagogen sowie Psychologinnen und Psychologen in weiteren Anwendungsfeldern im Bildungssystem. Auch für die Fort- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern sind die Bände gedacht.
Nach mehr als 10 Jahren Mitherausgeberschaft ist Renate Valtin (Berlin) im Dezember 2021 ausgeschieden. Die Herausgeber bedanken sich bei ihr und begrüßen Uta Klusmann (Kiel), die ihren Platz eingenommen hat.
Andreas Gold, Uta Klusmann, Cornelia Rosebrock & Rose Vogel
Inhalt
Geleitwort
1 Einführung
1.1 Das Problem
1.2 Mehrebenenmodell zur Strukturierung der relevanten Faktoren und Forschungsansätze im Bereich LRS
1.3 Inhalt und Aufbau des Buches
2 Die Vielfalt diagnostischer Begriffe und Konstrukte zu Problemen beim Schriftspracherwerb
2.1 Die leistungsbezogene Definition
2.2 Die intelligenzbezogene Diskrepanzdefinition (»doppelte Diskrepanzdefinition«)
2.3 Diskussion der verschiedenen diagnostischen Konzeptionen
2.4 Treten Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten immer gemeinsam auf?
2.5 Die Stabilität von Minderleistungen
2.6 Assoziation mit anderen Auffälligkeiten (Komorbidität)
3 Wer ist betroffen? Biologische, kognitive und soziokulturelle Risikofaktoren für LRS
3.1 Sind Jungen häufiger betroffen als Mädchen?
3.2 Genetische Disposition und andere biologische Faktoren
3.3 Kognitive Risikofaktoren
3.4 Das familiäre Umfeld
3.5 Migrationshintergrund
3.6 Implikationen für die Praxis
4 Die psychische Situation des lrs Kindes
4.1 Verhaltensauffälligkeiten und psychische Probleme bei LRS
4.2 Einflüsse der Entwicklungsumwelten
4.3 Implikationen für Diagnose und Förderung
5 Der Lerngegenstand: Schriftsystem und Orthographie des Deutschen
5.1 Phonembezogene (»lautbezogene«) Schreibung
5.2 Morphemische Schreibung – Morphemkonstanz
5.3 Sichtbarmachen syntaktischer Strukturen
5.4 Wie komplex und wie konsistent ist die deutsche Orthographie?
6 Kognitionspsychologische und entwicklungspsychologische Grundlagen des Schriftspracherwerbs
6.1 Das Zwei-Wege-Modell des Wortlesens
6.2 Stufenmodelle des Schriftspracherwerbs
7 Grundlegendes zur Diagnostik und Intervention bei LRS
7.1 Diagnostik der Lese- und Rechtschreibleistungen
7.2 Zur Diagnostik von psychischen Problemen und der psychosozialen Situation
7.3 Förderplan/Therapieplan
7.4 Psychologische und didaktische Grundprinzipien des Förderns bei LRS
8 Basales Lesen: Entwicklung, Probleme, Diagnose und Förderung
8.1 Entwicklungsprozesse beim Erwerb des Wortlesens
8.2 Spezifische Probleme beim Erwerb des Wortlesens
8.3 Diagnostik des Wortlesens
8.4 Fördern des Wortlesens
9 Leseflüssigkeit: Entwicklung, Probleme, Diagnose und Förderung
9.1 Die Entwicklung der Leseflüssigkeit und Probleme bei ihrem Erwerb
9.2 Diagnostik der Leseflüssigkeit
9.3 Ansätze zur Förderung der Leseflüssigkeit
10 Leseverständnis/Leseverstehen: Komponenten, Probleme, Diagnose und Förderung
10.1 Ebenen der mentalen Repräsentation eines Textes beim Lesen
10.2 Ressourcen und Komponenten des Leseverstehens
10.3 Probleme bei unzureichendem Leseverständnis
10.4 Diagnostik des Leseverständnisses
10.5 Fördern des Leseverständnisses
11 Rechtschreiben: Entwicklung, Probleme, Diagnose und Förderung
11.1 Das Zwei-Wege-Modell des Rechtschreibens
11.2 Entwicklungsprozesse beim Rechtschreiberwerb und spezifische Probleme bei RS
11.3 Diagnostik bei Rechtschreibschwäche
11.4 Fördern bei Rechtschreibschwäche
12 Prädiktion und Prävention
12.1 Kann man LRS vorhersagen?
12.2 Vorschulische Prävention
12.3 Fazit und Implikationen für die vorschulische Praxis
12.4 Prävention im Anfangsunterricht
Literatur
Stichwortverzeichnis
1 Einführung
1.1 Das Problem
Auch im 21. Jahrhundert sind Lesen und Rechtschreiben Schlüsselkompetenzen für die Teilhabe am kulturellen und beruflichen Leben. Sowohl in der Schule als auch später in der dualen Ausbildung oder in Studiengängen an Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten ist Lernen aus Texten ein wichtiger didaktischer Baustein, der »Lesenkönnen« voraussetzt. »Lesenkönnen« bedeutet hier, dass Lesen zügig und ohne große Anstrengung gelingt; allein die Fähigkeit, Wörter entziffern zu können, reicht nicht aus, um sich einen Text inhaltlich zu erschließen. Eine gute Lesekompetenz »verführt« zum Lesen auch in der Freizeit, schickt die Phantasie auf Reisen, gibt Einblicke in andere Lebenswelten und trägt so auch zur Persönlichkeitsentwicklung bei.
Die Rechtschreibung wurde zwar in der Zeit der »kommunikativen Wende« in der Deutschdidaktik (zu Recht) vom Thron gestoßen, letztlich muss sie aber bis zu einem relativ hohen Grad erworben werden, da dies immer noch der gesellschaftlichen Norm entspricht. Die orthographische Kompetenz ist nach wie vor von hoher Relevanz für Übergangsempfehlungen auf weiterführende Schulen: Kinder mit sehr niedrigen Rechtschreibleistungen erhalten zumeist nur eine Hauptschulempfehlung (Valtin, Badel, Löffler, Meyer-Schepers & Voss, 2003). Rechtschreibfehler in Bewerbungsschreiben reduzieren die Chancen eines Bewerbers in den meisten Berufsfeldern. In Doku-Soaps im Fernsehen sind »unauffällige« Hinweise auf Rechtschreibfehler in Briefen oder schriftlichen Nachrichten ein beliebtes Stilmittel, um Protagonisten zu stigmatisieren (z. B. Sendung Frauentausch bei RTL II vom 21.06.2013).
Dass es Kinder und Jugendliche gibt, die massive Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen haben und die erwarteten Standards nicht erreichen, ist bekannt. Die Frage, wie hoch ihr Anteil an der Bevölkerung ist, lässt sich aus methodischen Gründen nicht leicht beantworten ( Kap. 2). Für das Lesen haben die großen Schulleistungsstudien zur Klärung beigetragen: In der IGLU-Studie von 2016 hatten fast 19 % der Viertklässler Schwierigkeiten, sich einen Text zu erschließen (Bremerich-Vos, Wendt & Bos, 2017), 2021 (nach den Corona-Jahren) waren es 25,4 % (Frey, Ludewig, König, Krampen, Lorenz & Bos, 2022). In der PISA-Studie 2018 erreichten 20,7 % der deutschen 15-Jährigen nicht die Kompetenzstufe II; sie konnten zwar relativ explizite und leicht erkennbare Informationen und Gedanken in einem Text auffinden (Kompetenzstufe Ib), hatten aber Schwierigkeiten, mehrere Informationen zueinander in Beziehung zu setzen, wenn diese primär logisch oder linguistisch verknüpft waren (Weis et al., 2019).
Im Bereich der Rechtschreibung sind analoge Kompetenzstufen nicht so einfach zu formulieren; es zeigte sich jedoch in IGLU 2001, dass die statistisch definierten untersten 5 % der Viertklässler massive Rechtschreibprobleme hatten und weitere 10 % bis 15 % in ihrer Rechtschreibentwicklung deutlich negativ vom Durchschnitt abwichen (Valtin et al., 2003).
Unzureichende Lese- und/oder Rechtschreibkompetenzen behindern nicht nur schulisches und außerschulisches Lernen und die weitere Schullaufbahn, sondern können auch psychische Auswirkungen haben: Vor allem übermäßig viele Rechtschreibfehler bedingen ständige negative Rückmeldungen, die nicht selten emotional verletzend formuliert werden: Ist das denn die Möglichkeit? Du hast Dich überhaupt nicht konzentriert! Wer soll das lesen können? Die Beurteilung durch die Lehrenden und der Wettbewerb zwischen den Schülerinnen und Schülern können auch die Position eines Kindes in der Bezugsgruppe Klasse und sein Selbstbild beeinträchtigen, wie im Fallbeispiel Rafaela deutlich wird. Die Intervention bei Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) muss entsprechend über das rein kognitive Lernen hinausgehen und sich ebenso den emotionalen und motivationalen Problemen der Kinder und Jugendlichen stellen.
Fallbeispiel Rafaela¹ (4. Schuljahr): Rückblick am Ende der Grundschulzeit Als wir hir hin gezogen sind kamm ich in die 3. klase. Ale haben gejububelt und wollten neben mir sitzen ich kamm neben Tanja meine erste Freundin. Nach ein paar Wochen vergangen waren wollte keiner mer neben mir sitzen sie haben alle gesagt ich sei doof und behindert. Ich habe nie was dafon gesagt aber dan wurt es immer schlemer ich sagte es Herr Schulte aber unter nam nie was bis ich keine lust mehr hate und nichst unternomen habe. aber dann haben wir einen Brief bekommen das ich zurrukgestelt werte. Alle waren trauchich weil sie keinen mer zum ergern haten. Aber ich war vro.
Es gibt also genug Gründe, sich mit den Problemen beim Lesen- und Schreibenlernen zu befassen. Der vorliegende Band bietet eine Einführung für Studierende, richtet sich aber auch an alle, die in ihrer pädagogischen, psychologischen oder medizinischen Berufstätigkeit mit den Problemen des Versagens beim Lesen- und Rechtschreibenlernen befasst sind, auch in Inklusionsklassen. Wie bei allen komplexen kognitiven Kompetenzen ist es nicht möglich, »Rezepte« für eine Intervention oder die Prävention von Versagen bereitzustellen. Eine professionelle Förderung setzt ein tiefes Verständnis des Problems und die Fähigkeit zur Analyse der individuellen Schwierigkeiten eines Kindes voraus. Die Frage, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse für ein »tiefes Verständnis des Problems« relevant sind, lässt sich nicht leicht beantworten. Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur zur Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) zeigt, dass viele Disziplinen mit dem Problem befasst sind und sehr heterogenen Fragestellungen nachgehen. So findet man Studien im Bereich der Psychologie, der Pädagogik und der Deutschdidaktik, der Patholinguistik und der Medizin, insbesondere der Kinderpsychiatrie, der Neurologie und der Genetik. Die Aufgabe der nächsten Abschnitte dieses Kapitels wird darin bestehen, die unterschiedlichen Fragestellungen zu strukturieren und dann auszuwählen, welche Themen in diesem Buch ausführlicher behandelt werden.
1.2 Mehrebenenmodell zur Strukturierung der relevanten Faktoren und Forschungsansätze im Bereich LRS
Abbildung 1.1 ist kein umfassendes Modell der Determinanten schulischen Lernens; es veranschaulicht vielmehr ausgewählte Faktoren und deren Interaktionen, die im Zusammenhang mit LRS als wichtig erkannt wurden und zu unterschiedlich fokussierten wissenschaftlichen Fragestellungen Anlass geben.
In einem ersten Schritt unterscheidet das Modell zwischen personalen Faktoren und Umweltfaktoren und greift damit die bekannte Unterscheidung zwischen Anlage und Umwelt als determinierende Faktoren der Entwicklung auf. Zum Verständnis vor allem der personalen Faktoren ist eine weitere Dimension notwendig, die in der Abbildung vertikal dargestellt wird: die Unterscheidung zwischen der psychologischen und der biologischen Analyseebene, die sich im Erklärungswert nicht ausschließen, sondern ergänzen. So lassen sich z. B. die Probleme im Bereich der Lautanalyse bei lese- und rechtschreibschwachen (lrs)² Kindern sowohl mit psychometrischen als auch mit neurowissenschaftlichen Methoden nachweisen (z. B. Groth, Rieker & Steinbrink, 2011). Für die psychologische Ebene macht es weiterhin Sinn, die Faktoren nach ihrer Nähe zu den Problemen beim Schriftspracherwerb einzuteilen – von proximal (nahe am Symptom) zu distal (entfernt vom Symptom). Auf der personalen Seite finden sich hierzu die folgenden Analyseebenen:
• Offen beobachtbar und Ausgangspunkt jeder Untersuchung ist die Minderleistung im Lesen und/oder Rechtschreiben, konkretisiert z. B. in einem sehr fehlerhaften Diktat, bestätigt durch ein Testverfahren.
• Die proximale psychologische Ebene bezieht sich auf die der Minderleistung unmittelbar zugrundeliegenden kognitiven Prozesse/Teilprozesse beim Lesen und/oder Rechtschreiben. Dies kann z. B. die Schwierigkeit sein, die Silbenstruktur von Wörtern beim Lesen zu erkennen. Zu den proximalen psychologischen Faktoren gehören auch die bereichsspezifische Motivation und das bereichsspezifische Selbstkonzept, die beide einen unmittelbaren Einfluss auf die Lernprozesse beim Schriftspracherwerb haben können.
• Die distale psychologische Ebene entspricht etwas allgemeiner den kognitiven Kompetenzen, die in Beziehung zu den oben genannten spezifischen Lese- und Rechtschreibprozessen stehen. Relevant sind hier vor allem die verbale Intelligenz, die Sprachentwicklung und die metasprachliche Entwicklung. Auch emotionale und motivationale Variablen, die das Lernen beeinflussen, wie die Leistungsmotivation und die allgemeine Anstrengungsbereitschaft, sind hier anzusiedeln.
• Auf der oberen biologischen Ebene korrelieren die psychischen mit zerebralen physiologischen Prozessen, die durch elektrophysiologische Ableitungen oder durch bildgebende Verfahren (z. B. funktionelle Magnetresonanztomographie, fMRT) sichtbar gemacht werden können. Diese neurophysiologischen Prozesse basieren auf neuroanatomischen Strukturen (z. B. Nerventypen, Verlauf und Konnektivität von Nervenfasern), deren Entwicklung mit der Geburt keineswegs abgeschlossen ist.
• Auf einer weiteren biologischen Ebene sind die genetischen Grundlagen von kognitiven Kompetenzen und lernrelevanten Persönlichkeitsfaktoren anzusiedeln. Vermittelt wird der Einfluss der Gene auf kognitive und andere psychische Prozesse und Merkmale über die Gehirnentwicklung.
Wie die Pfeile im Modell andeuten, besteht zwischen den Ebenen in den Wirkungsmechanismen kein einfaches bottom-up-Verhältnis; vielmehr beeinflussen sich die Ebenen gegenseitig. Neurale Strukturen und elektrophysiologische Ereignisse wirken auf die psychischen Prozesse beim Schriftspracherwerb, ebenso werden sie jedoch durch Lernprozesse verändert (Shaywitz et al., 2004).
Die Umweltfaktoren, die im Zusammenhang mit LRS diskutiert werden, lassen sich den Ebenen auf der personalen Seite gut zuordnen. Auf der biologischen Ebene kann die Gehirnentwicklung durch Noxen beeinträchtigt werden, in der vorgeburtlichen Phase durch Infektionskrankheiten der Mutter oder den Konsum von Drogen und bei der Geburt durch mechanische Einwirkungen auf das Gehirn.
Das psychosoziale Umfeld wirkt direkt auf die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung eines Kindes. Im Hinblick auf die Entstehung einer LRS können auch die Umweltfaktoren der Dimension proximal-distal zugeordnet werden, je nachdem ob sie sich unmittelbar (proximal) auf den Schriftspracherwerb auswiken, wie die Didaktik des Lese- und Rechtsschreibunterrichts, der Förderunterricht und die häuslichen Hilfen, oder eher die für den Schriftspracherwerb grundlegenden kognitiven Kompetenzen beeinflussen, wie allgemeine sprachliche Anregungen in der Familie (distal). Umweltfaktoren können bei negativer Ausprägung die Entstehung einer LRS begünstigen, jedoch im positiven Fall (z. B. pädagogisch sinnvolle Hilfe bei den Hausaufgaben) auch als Schutzfaktoren wirksam werden, d. h. eine genetisch wahrscheinliche LRS verhindern oder minimieren. Die Doppelpfeile zwischen den Umweltfaktoren und den psychischen Ebenen wurden mit gutem Grund gesetzt: Es besteht eine enge wechselseitige Beeinflussung zwischen personalen Faktoren und Umweltfaktoren: Eltern werden z. B. nur dann gern vorlesen, wenn das Kind dabei Freude zeigt, umgekehrt wird das Kind durch die Erfahrungen des Vorlesens vielleicht auch erst ein Interesse an Büchern gewinnen.
Abb. 1.1: Mehrebenenmodell zur Strukturierung der relevanten Faktoren und Forschungsfragen bei LRS
Das Modell zeigt die Vielfalt möglicher wissenschaftlicher Fragestellungen bei LRS auf: Gibt es Hinweise auf eine genetische Verursachung? Zeigen sich neuroanatomisch und/oder neurophysiologisch Unterschiede zwischen Kindern mit LRS und unauffälligen Kindern? Ist LRS überzufällig mit einer Verzögerung in der Sprachentwicklung assoziiert? Erhalten später lese- und/oder rechtschreibschwache Kinder schon vorschulisch geringere sprachliche Anregungen? In welchen Teilprozessen des Lesens und Rechtschreibens unterscheiden sich schwache von guten Lesern? Welche Methoden des Lese- und Rechtschreibunterrichts reduzieren den Anteil der Leistungsschwachen? Welche Methoden eigenen sich für die Förderung? Diese Liste ließe sich unschwer fortsetzen.
1.3 Inhalt und Aufbau des Buches
Auch wenn eine Gesamtschau reizvoll wäre, konzentriert sich die vorliegende Monographie auf die psychologische und die pädagogische Ebene mit den entsprechenden personalen Faktoren und Umweltfaktoren; Befunde aus der neurowissenschaftlichen Forschung werden nur gelegentlich zitiert. Dies ist zwar vor allem dem vorgesehenen Umfang des Buchs geschuldet, hat aber auch einen wissenschaftlichen Hintergrund: Die neurobiologische Forschung zur LRS steckt noch in ihren Anfängen und eine Zusammenschau der Befunde ist durch die Heterogenität der Verfahren und der Probandengruppen mit unterschiedlichen schriftsprachlichen Schwierigkeiten und Schriftsprachen erschwert. Ein großer Teil der neurobiologischen Befunde der letzten Jahrzehnte ließ sich über Studien hinweg nicht replizieren. Ramus, Altarelli, Jednoróg, Zhao und di Covella (2018) führen dies vor allem auf methodische Probleme zurück: auf zu kleine Probandenzahlen in den einzelnen Studien, auf unterschiedlich definierte Gehirnareale und auf unterschiedliche Analysemethoden. Die so eindrucksvollen fMRT-Bilder, die einen direkten Einblick in die Tätigkeit des Gehirns beim Lesen oder Schreiben suggerieren, sind tatsächlich Ergebnis mathematischer Operationen, über die man durchaus streiten kann. Erfolgversprechender sind elektrophysiologische Ableitungen wie z. B. ereigniskorrelierte Potentiale, die unmittelbar sensorische und kognitive Prozesse widerspiegeln und schon im Kleinkindalter Abweichungen oder zeitliche Verzögerungen in der Sprachverarbeitung aufzeigen können (Moll, Hasko, Groth, Bartling & Schulte-Körne, 2016). So versucht das Projekt »LEGASCREEN«, das vom Max-Planck-Institut in Leipzig in Zusammenarbeit mit weiteren wissenschaftlichen Einrichtungen durchgeführt wird, über genetische Indikatoren und neurophysiologische Auffälligkeiten bei der Sprachverarbeitung eine spätere LRS schon im Vorschulalter vorherzusagen – mit dem Ziel einer frühen Prävention (Skeide et al., 2015; Schaadt et al., 2015).
Trotz dieses vielversprechenden Ansatzes bietet die neurobiologische LRS-Forschung bisher keine Basis für die