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180°: Zu spät für den Kapitalismus
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180°: Zu spät für den Kapitalismus
eBook178 Seiten2 Stunden

180°: Zu spät für den Kapitalismus

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Über dieses E-Book

Der streitbare Denker Jonathan Crary betrachtet die Verwüstungen, die der digitale Kapitalismus verursacht. Ein leidenschaftliches Plädoyer für den Aufstand, der kommen muss.

Die Welt brennt. So weit, so bekannt – aber: Ist eine Kehrtwende noch möglich?

Ja, sagt der renommierte Kunstkritiker und Medientheoretiker Jonathan Crary, doch ein Green New Deal wird nicht reichen. Klimaprotest und Kapitalismuskritik müssen sich international vernetzen – außerhalb der digitalen Sphäre. Denn die Digitalisierung verhindert nicht nur echte Solidarität, sondern ist auch für massive und flächendeckende Ressourcenausbeutung verantwortlich.

In seinem engagierten Aufruf zeigt der so gefeierte wie kontrovers diskutierte Autor die Alternativen zu Digitalkomplex und Überwachungskapitalismus auf. Er zeichnet den fundamentalen Gegenentwurf eines Ökosozialismus, der eine lebbare Zukunft verspricht und Mensch und Natur vor ihrem Kollaps bewahren könnte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. Sept. 2023
ISBN9783803143846
180°: Zu spät für den Kapitalismus

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    Buchvorschau

    180° - Jonathan Crary

    Der streitbare Denker Jonathan Crary betrachtet die Verwüstungen, die der digitale Kapitalismus verursacht. Es braucht den fundamentalen Gegenentwurf eines Ökosozialismus, der eine lebbare Zukunft verspricht und Mensch und Natur vor ihrem Kollaps bewahrt.

    Ein leidenschaftliches Plädoyer für den Aufstand, der bald kommen muss.

    »Die Lektüre kann den Leser im positiven Sinne um den Schlaf bringen.«

    Der Freitag über 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus

    Jonathan Crary

    180°

    Zu spät für den Kapitalismus

    Aus dem Englischen

    von Max Henninger

    Verlag Klaus Wagenbach Berlin

    No don’t say doom

    Tom Verlaine

    Vorwort

    Man könnte einen kleinen Berg errichten aus all den Büchern der letzten zehn Jahre, die Aspekte des Internets und der sozialen Medien kritisiert oder angeprangert haben. Ein gemeinsames Merkmal all dieser Bücher ist die unhinterfragte Annahme der Dauerhaftigkeit und Unumgänglichkeit des Internets als bestimmendes Element des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens. Kurz gesagt beschränkt sich der öffentliche Diskurs über die Netztechnologie darauf, Nachbesserungen und Justierungen an einem System vorzuschlagen, das als alternativlos akzeptiert wird. Ich wollte diesem Korpus inhärent reformistischer Bücher nicht noch einen weiteren Titel hinzufügen. Mir ging es im Gegenteil darum, die Notwendigkeit der Verweigerung zum Ausdruck zu bringen. Außerdem wollte ich die Dringlichkeit aufzeigen, Formen des Lebens und Zusammenseins zu imaginieren und zu verwirklichen, die mit den entmutigenden Routinen brechen, die uns mächtige Konzerne aufzwingen.

    Eines meiner Ziele war es, die weitverbreitete Annahme in Frage zu stellen, die vernetzten Technologien, die unser Leben dominieren und deformieren, seien »gekommen, um zu bleiben«. Ich wollte unterstreichen, dass das sogenannte digitale Zeitalter und der Spätkapitalismus synonym sind. Eines ist ohne das andere nicht denkbar. Ein »sozialistisches Internet« ist ebenso unmöglich wie das Oxymoron eines »grünen Kapitalismus«. Es wird häufig vergessen, dass genuiner Sozialismus vom Gedeihen nicht monetarisierter oder instrumentalisierter Zwischenmenschlichkeit abhängt. Er könnte also überhaupt nicht sinnvoll bestehen inmitten der Formen von Trennung, Isolation, Konkurrenz und toxischem Individualismus, die online entstehen und gestärkt werden. Man kann sich nicht zu einem Gegner des Kapitalismus erklären und gleichzeitig seine konstitutiven Apparate gutheißen.

    Seit der Fertigstellung des Buches im Jahr 2020 haben außergewöhnliche Entwicklungen die Instabilität jener Institutionen und Systeme potenziert, deren Bestehen als ewig proklamiert wurde. Eine neoliberale Fantasie über das Internet betraf dessen Ausrichtung auf einen von der freien Marktwirtschaft beherrschten Planeten, für den es angeblich eine nahtlose, allumfassende Interkonnektivität bereitstelle. Doch die vorher undenkbare Realität eines verheerenden europäischen Landkriegs hat die Illusion einer unipolaren, von reibungslosen Wohlstands- und Warenströmen angetriebenen Welt zunichte gemacht. Welche weiteren Zäsuren und gewaltsamen Brüche erwarten uns in naher Zukunft?

    Gleichzeitig sind Restriktionen, Finanzialisierung, Zensur, Überwachung und Ausschlüsse der Internetnutzung durch dessen Kontrollinstanzen in den letzten Jahren verschärft worden. Nun, da die sozialen Medien zur Vorrichtung einer soziopathischen Milliardärsklasse geworden sind, wäre es pathologisch zu glauben, sie seien »gekommen, um zu bleiben«.

    Die historische Flüchtigkeit dessen, was ich als »Internetkomplex« bezeichne, ist untrennbar mit den sozialen und ökologischen Krisen verflochten, die der globale Kapitalismus mit sich bringt. In vielerlei Hinsicht knüpft dieses Buch an meinen früheren Text 24/7. Schlaflos im Kapitalismus an. Darin habe ich die Folgen von Mustern des Konsums sowie der Extraktion, Verbrennung, Produktion und Militarisierung beschrieben, die ohne Unterlass wirken und keine Auszeit zugestehen. Das Ergebnis dieser Muster ist, wie ich auf diesen Seiten zeige, eine verbrannte Erde, in der Zivilgesellschaft und Ökosysteme gleichzeitig erodieren. Wie Rosa Luxemburg und andere bereits vor langer Zeit erkannt haben, zerstört der Kapitalismus alles, was es Gruppen und Gemeinschaften ermöglicht, autark zu existieren und sich gegenseitig zu helfen.

    In der Situation der verbrannten Erde stellt sich außerdem eine Verarmung und Zersetzung individueller und kollektiver Erfahrung ein. Die Allgegenwart des Internets verzerrt unaufhörlich unsere Wahrnehmung sowie unsere sinnliche Fähigkeit, andere Menschen zu erkennen und uns mit ihnen zu verbinden. Viele der US-amerikanischen und britischen Rezensionen dieses Buches haben sich, zustimmend oder kritisch, auf die kompromisslosen Aussagen konzentriert, die ich auf den ersten fünfundzwanzig Seiten formuliere. Für mich bilden jedoch die im dritten Teil des Buches entwickelten Themen dessen Herzstück. Dort denke ich über den Schaden nach, der dem Blick, dem Gesicht und der Stimme durch die ständige Vertiefung in Onlinebereiche zugefügt wird. Die Art und Weise, in der wir sprechen und uns anderen zeigen, ist von fundamentaler Bedeutung für eine gerechte und von Zwischenmenschlichkeit geprägte Welt. Sie ist die fragile, aber unverzichtbare Grundlage gesellschaftlicher Solidarität. Heute wird sie zunehmend manipuliert, monetarisiert, in Routinen gezwängt, simuliert und in Form »verwertbarer Daten« abgeschöpft.

    Unsere zwanghafte und passive Unterordnung in digitale Netze ist unerlässlich für das neoliberale Projekt, jeden Versuch nicht unterdrückerischer Lebensweisen unsichtbar oder undenkbar zu machen. Dieses Projekt der Herstellung von Konformität und Fügsamkeit ist in den Vereinigten Staaten und Teilen Europas am erfolgreichsten gewesen. Wie die anhaltenden Kämpfe und dauerhaften Widerstands- und Verweigerungsformen Lateinamerikas, Afrikas und anderer Regionen zeigen, sind es Orte im globalen Süden, wo der Geist der Revolte nie besiegt wurde. Hier zeigen sich die konsequentesten Wege in Richtung einer postkapitalistischen Welt.

    Januar 2023

    Erstes Kapitel

    Ja, es ist Nacht und eine andere Welt ist im Aufstieg begriffen. Hart, zynisch, ohne Schriftkundigkeit oder Erinnerung, sich grundlos drehend. … Sie ist ausgedehnt, abgeflacht, als ob Perspektive und Fluchtpunkt abgeschafft worden wären. Und das Seltsame ist, dass die lebenden Toten dieser Welt auf der Welt davor beruhen …

    Philippe Sollers

    Wenn es eine lebenswerte und gemeinsame Zukunft auf unserem Planeten geben soll, dann wird es eine Offline-Zukunft sein, abgekoppelt von den weltzerstörenden Systemen und Funktionsweisen des 24-Stunden-Kapitalismus. Was auch immer von der Welt übrig bleibt: Das Netz, in dem wir heute leben, wird ein zerbrochener und peripherer Teil der Ruinen sein, auf denen vielleicht neue Gemeinschaften und zwischenmenschliche Projekte entstehen werden. Wenn wir Glück haben, wird das kurzlebige digitale Zeitalter von einer hybriden materiellen Kultur abgelöst werden, die auf alten und neuen Formen des gemeinsamen Lebens und Überlebens basiert. Jetzt, inmitten des sich verschärfenden sozialen und ökologischen Zusammenbruchs, wächst die Erkenntnis, dass das tägliche, auf allen Ebenen vom Internetkomplex überschattete Leben die Schwelle zur Irreparabilität und Toxizität überschritten hat. Immer mehr Menschen wissen oder spüren dies, da sie die schädlichen Folgen erleben und im Stillen erdulden. Die digitalen Werkzeuge und Dienste, die von Menschen aus aller Welt genutzt werden, unterstehen der Macht von transnationalen Unternehmen, Geheimdiensten, kriminellen Kartellen und einer soziopathischen Milliardärselite. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung, der er aufgezwungen wurde, ist der Internetkomplex der unerbittliche Motor für Sucht, Einsamkeit, falsche Hoffnungen, Grausamkeit, Psychose, Verschuldung, vergeudete Lebenszeit, Gedächtnisverlust und sozialen Zerfall. Alle angepriesenen Vorteile werden durch seine schädlichen und sozialmörderischen Auswirkungen irrelevant oder zweitrangig.

    Der Internetkomplex ist untrennbar verbunden mit dem unermesslichen Ausmaß des 24-Stunden-Kapitalismus und dessen Rausch der Akkumulation, Extraktion, Zirkulation, Produktion, des Transports und Ausbaus im globalen Maßstab. In fast allen Bereichen des Onlinebetriebs werden Verhaltensweisen gefördert, die der Möglichkeit einer lebenswerten und gerechten Welt zuwiderlaufen. Angetrieben von künstlich erzeugten Begierden, maximieren die Geschwindigkeit und Allgegenwart digitaler Netzwerke die Priorität des Aneignens, Besitzens und Begehrens, der Missgunst und des Neids. All dies fördert den Verfall der Welt – einer Welt, die ohne Pause funktioniert, ohne Erneuerung oder Erholung, die an ihrer Hitze und ihrem Abfall erstickt. Der Traum der Technomoderne vom Planeten als riesige Baustelle der Innovation, der Erfindung und des materiellen Fortschritts findet nach wie vor Verteidiger und Fürsprecher. Die meisten der zahlreichen Projekte und Geschäfte im Bereich der »erneuerbaren« Energien dienen der Aufrechterhaltung des business as usual, dem Erhalt zerstörerischer Konsummuster, der Konkurrenz und der zunehmenden Ungleichheit. Marktgesteuerte Programme wie der Green New Deal sind absurd und müßig, weil sie die Ausweitung sinnloser wirtschaftlicher Aktivitäten, die unnötige Nutzung elektrischer Energie und die globalen Industrien der Ressourcengewinnung nicht verhindern, die vom 24-Stunden-Kapitalismus angestachelt werden.

    Dieses Buch steht in einer Tradition sozialer Pamphlete, die das artikulieren soll, was gemeinsam erlebt und zumindest teilweise auch erkannt, aber von einer überwältigenden Flut von Botschaften negiert wird, die auf der Unveränderlichkeit unseres verwalteten Lebens beharren. Viele Menschen sind sich tagtäglich der Verelendung ihres Lebens und ihrer Hoffnungen bewusst, haben aber vermutlich nur ein zögerliches Bewusstsein davon, wie sehr ihre Erkenntnisse von anderen geteilt werden. Mein Ziel ist es hier nicht, eine nuancierte theoretische Analyse vorzulegen, sondern in einer Zeit des Notstands die Wahrheit der geteilten Erkenntnisse und Erfahrungen zu bekräftigen und darauf zu bestehen, dass Formen der radikalen Verweigerung, als Alternative zu Anpassung und Resignation, nicht nur möglich, sondern notwendig sind. Der Internetkomplex proklamiert unaufhörlich seine Unentbehrlichkeit sowie die Bedeutungslosigkeit jeglichen Lebens, das nicht an seine Protokolle angepasst werden kann. Seine Allgegenwart und Einbettung in fast alle Bereiche persönlicher und institutioneller Aktivität lässt jede Vorstellung von seiner Unbeständigkeit oder postkapitalistischen Marginalisierung unglaubhaft erscheinen. Dieser Eindruck entsteht durch ein kollektives Versagen der Vorstellungskraft, aufgrund dessen die betäubenden Onlineroutinen als Synonym für das Leben akzeptiert werden. Die Überwindung des Internetkomplexes ist nur so lange undenkbar, wie unsere Wünsche und unsere Bindungen zu anderen Menschen und Arten verletzt und entmündigt werden.

    Der Philosoph Alain Badiou hat festgestellt, dass gerade an diesem Punkt scheinbarer Unmöglichkeit die Bedingungen für einen Aufstand entstehen: »Emanzipatorische Politik besteht immer darin, genau das möglich erscheinen zu lassen, was aus der Situation heraus für unmöglich erklärt wird.«¹ Die lautesten Stimmen, die diese Unmöglichkeit verkünden, sind diejenigen, die von der Aufrechterhaltung des Bestehenden und vom ununterbrochenen Funktionieren einer kapitalistischen Welt profitieren, also alle, die ein berufliches, finanzielles oder narzisstisches Interesse an Aufstieg und Expansion des Internetkomplexes haben. Wie, so werden sie ungläubig fragen, könnten wir ohne etwas auskommen, von dem jeder Aspekt des finanziellen und wirtschaftlichen Lebens abhängt? Übersetzt heißt diese Frage: Wie könnten wir ohne eines der Kernelemente der techno-konsumistischen Kultur und Wirtschaft auskommen, die das Leben auf der Erde an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat? Würde eine Welt, die nicht vom Internet beherrscht wird, nicht darauf hinauslaufen, alles zu verändern, würden sie fragen. Ja, und genau darum geht es.

    Jeder mögliche Weg zu einem überlebensfähigen Planeten wird weitaus mühsamer sein, als die meisten erkennen oder offen zuzugeben bereit sind. Eine entscheidende Aufgabe im Kampf für eine gerechte Gesellschaft wird in den kommenden Jahren darin bestehen, soziale und persönliche Arrangements zu schaffen, die die Dominanz des Marktes und des Geldes über unser Zusammenleben aufheben. Dazu gehört, dass wir unsere digitale Isolation ablehnen, Zeit als gelebte Zeit zurückgewinnen, kollektive Bedürfnisse wiederentdecken und uns gegen die zunehmende Barbarei wehren, einschließlich der Grausamkeit und des Hasses, die vom Internet ausgehen. Ebenso wichtig ist die Aufgabe, sich demütig wieder mit dem zu verbinden, was von einer Welt voller verschiedener Arten und Lebensformen übrig geblieben ist. Es gibt zahllose Möglichkeiten, wie dies geschehen könnte. Tatsächlich haben Gruppen und Gemeinschaften auf dem ganzen Planeten einige dieser Bemühungen bereits in Angriff genommen, auch wenn das nirgends vorgesehen war oder angekündigt wurde.

    Viele derer, die die Dringlichkeit des Übergangs zu einer Form von Ökosozialismus oder wachstumslosem Postkapitalismus begreifen, gehen dennoch unvorsichtigerweise davon aus, dass das Internet und seine derzeitigen Anwendungen und Dienste irgendwie weiterbestehen und auch in Zukunft wie gewohnt funktionieren werden, neben den Bemühungen um einen bewohnbaren Planeten und um egalitärere soziale Arrangements. Es besteht der anachronistische Irrglaube, dass das Internet einfach »den Besitzer wechseln« könnte, als ob es ein Telekommunikationsunternehmen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts wäre, wie Western Union oder ein Radio- oder Fernsehsender – ein Unternehmen, das in einer veränderten politischen und wirtschaftlichen Situation anders genutzt werden könnte. Die Vorstellung, das Internet könne unabhängig von den katastrophalen Operationen des globalen Kapitalismus funktionieren, ist eine der verblüffenden Illusionen unserer Zeit, denn das eine ist strukturell mit dem anderen verwoben. Sofern sie eintritt, wird die Auflösung des Kapitalismus das

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