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Geflüchtete in Deutschland: Ansichten - Allianzen - Anstöße
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eBook622 Seiten6 Stunden

Geflüchtete in Deutschland: Ansichten - Allianzen - Anstöße

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Über dieses E-Book

Flüchtlinge stellen derzeit und in absehbarer Zeit eine, wenn nicht die zentrale Herausforderung für Europa und die deutsche Gesellschaft dar. Das Buch bringt im Kontext der aktuellen Situation unterschiedliche Facetten der komplexen Thematik zur Geltung. Es ist inter- und transdisziplinär angelegt und verbindet theoretische Grundlagen und wissenschaftliche Zugänge mit Handlungsorientierungen und Praxisbeispielen. Geflüchtete bringen sich mit ihren Geschichten zur Sprache. Grundlegende Aspekte werden in theologischer, sozialethischer, soziologischer und volkswirtschaftlicher Perspektive beleuchtet und bearbeitet. Gefragt wird, welche Allianzen in der Flüchtlingsarbeit notwendig sind, und unter welchen Bedingungen unterschiedliche Subjekte und gesellschaftliche Akteure mit ihren jeweiligen Prägungen, System- und Handlungslogiken erfolgreich zusammenarbeiten können - z.B. Geflüchtete und Einheimische, Ehrenamtliche und Hauptamtliche, Kirchen und Kommunen. Bezogen auf unterschiedliche Handlungsfelder kommen Aufgaben, Projekte und Initiativen zur Darstellung. Die Skala reicht dabei von der Betreuung unbegleiteter Minderjähriger über Integrationsaufgaben der Kindertagesstätten und Schulen bis hin zu Netzwerken für Ehrenamtliche und spezifischen Fragen der Entwicklung von Kirchengemeinden. Anforderungen an eine europäische Flüchtlingspolitik und an eine Flüchtlingsarbeit in christlicher Verantwortung verschränken sich mit Chancen und Zumutungen gesellschaftlicher Veränderung. Der Band enthält schließlich exemplarische Dokumente, in denen sich wichtige gesellschaftliche Diskurse widerspiegeln.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Dez. 2016
ISBN9783788731779
Geflüchtete in Deutschland: Ansichten - Allianzen - Anstöße

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    Buchvorschau

    Geflüchtete in Deutschland - Gerhard K. Schäfer

    1

    Ansichten

    Reinhard van Spankeren

    Wenn Flüchtlinge erzählen

    Zum Umgang mit – fremden – Menschen

    1Armen eine Stimme geben …

    Etwa eine Million Flüchtlinge sind im Jahr 2015 nach Deutschland gekommen. „Wir schaffen das", so die programmatische Ansage von Kanzlerin Angela Merkel. Der angeblich bürokratisch verkrustete deutsche Sozialstaat erwies sich als erstaunlich flexibel, war in der Lage zu improvisieren und schuf pragmatische Lösungen, die kaum einer erwartet hätte. Bei vielen Unzulänglichkeiten im Einzelnen, trotz Wirrwarr bei den Zuständigkeiten, trotz Schlangen vor Ämtern, trotz aller Auseinandersetzungen um die auf allen Ebenen fehlenden Gelder – die Menschen, die auf oft gefährlichen und kraftraubenden Wegen Deutschland schließlich erreicht haben, wurden untergebracht, medizinisch versorgt, ernährt und gekleidet. Kinder aus Flüchtlingsfamilien kamen in Kindertagesstätten und Schulen und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge profitierten von den hohen Standards in der Jugendhilfe.

    Aufnahme in Deutschland hatte aber vor allem eine Komponente, mit der vorher kaum zu rechnen war: Die Zivilgesellschaft hieß die Flüchtlinge herzlich willkommen. Mit Blumensträußen am Bahnhof, mit Sachspenden, mit kleinen, enorm aktiven Unterstützergruppen, mit Initiativen in Kirchengemeinden und Nachbarschaften, mit runden Tischen, mit ehrenamtlich organisierten Sprachkursen, mit Kinder-Spielgruppen und mit vielen, vielen bunten Aktivitäten mehr. „Refugees welcome", so klang es überall. Keine Studie zu den angeblich nicht ausgeschöpften Potenzialen bürgerschaftlichen Engagements hatte diese Willkommenskultur, die Zahlen und die Stärke dieser sozialen Bürgerbewegung vorhergesehen. Während die Freiwillige Feuerwehr selbst auf dem Land große Nachwuchsprobleme hat und in Kirchengemeinden traditionelle Gruppenaktivitäten an Auszehrung leiden, fanden sich im Engagement für die Flüchtlinge Tausende von Frauen und Männern zusammen, um zu helfen, Begegnung zu ermöglichen und Orientierung in der neuen Umgebung zu geben.

    Auch als es schwierig wurde, etwa nach den „Kölner Ereignissen" vom Silvester 2015 oder durch fremdenfeindliche Gegenbewegungen, Demonstrationen und Gewaltakte, ließen sich die für Flüchtlinge und ihre Familien freiwillig Engagierten nicht davon abbringen, weiterhin Partei für Geflüchtete zu ergreifen und ihre Aktivitäten auf langfristige, nachhaltige, immer besser organisierte und abgestimmte Grundlagen zu stellen. Das Wunder der Willkommenskultur mündet in die Wirklichkeit einer Gesellschaft, die bunter, hybrider, vielfältiger, jünger, vielsprachiger wird – und neue Herausforderungen bewältigen muss. Jetzt steht Integration auf der Tagesordnung – Integration, die in Kooperation und Konflikt dazu führen wird, dass Deutschland sich neu finden muss, wie die Migrationsforscherin Annette Treibel klarmacht.

    Wenn sich Alte Deutsche und Neue Deutsche – um auch mit dieser Begrifflichkeit Treibel zu folgen – begegnen, dann geht es um Kommunikation. Da werden zunächst einmal ganz pragmatisch Dolmetscher gesucht, denn wer in Syrien oder Somalia aufgewachsen ist, kann in aller Regel kein Deutsch und schon gar nicht Behördendeutsch. Sprachhindernisse sind aber letztlich leichter zu überwinden als Gesprächshindernisse. Wer sich kennenlernen, verstehen, miteinander arbeiten und sich weiterentwickeln will, der braucht mehr als Google Übersetzer und die 1.000 wichtigsten Vokabeln einer Fremdsprache, mit der man überall auf der Welt schon sehr weit kommt. Der gesellschaftliche Lernprozess, der jetzt auf der Tagesordnung steht, ist ganz wesentlich ein Kennen-Lernprozess. Und wenn Menschen sich kennenlernen wollen, dann erzählen sie sich ihre Lebensgeschichten. So erzählen Flüchtlinge von ihrer Heimat und von ihrer Flucht, von ihren Familien und von ihren Interessen, von ihren Ideen und von ihren Plänen für die Zukunft. Und viele wollen davon hören. So entwickelt sich Empathie, und aus dieser Empathie entwickelt sich Engagement.

    Seitdem Deutschland faktisch zu einem Einwanderungsland geworden ist, engagieren sich Diakonie und Kirche in besonderem Maße für Flüchtlinge und Zuwanderer – vom Kirchenasyl bis zum Jugendmigrationsdienst. Die Hilfen und Dienste wurden seit 2014 / 2015 noch einmal stark ausgeweitet und partiell neu ausgerichtet. Das gilt für die professionelle soziale Arbeit wie auch für das ehrenamtliche Engagement. Die diakonischen Hilfen zur Erziehung nahmen „Heimkinder der besonderen Art auf, nämlich „umF – unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. In den Zeitschriften der diakonischen Einrichtungen und Unternehmen werden die Lebensgeschichten und der Alltag junger Flüchtlinge und von Flüchtlingsfamilien mit Bild und Text dokumentiert. „Und manchmal fließen auch Tränen heißt da eine Überschrift oder auch „Harun, Chinoso und der Blick nach vorn oder „Hochschwanger in einem fremden Land. Auch der UNICEF-Report 2016 „Flüchtlingskindern helfen enthält neben umfangreichen Statistiken, Fachartikeln und Aufrufen sieben Porträts von Flüchtlingskindern. „Europa ist schön. Hier wird nicht geschossen", sagt hier die achtjährige Saria, die mit ihrer Familie aus Aleppo geflohen ist.¹

    Der 25-jährige Adil ist mit seinem jüngeren Bruder aus Syrien geflohen. Für ein Ausstellungsprojekt des Diakoniewerks Gelsenkirchen und Wattenscheid erzählt er von seinen Fluchtgründen und seinem Fluchtweg. Ich zitiere hier den Anfang seiner Geschichte:

    „Ich will keine Menschen umbringen – weder aus religiösen Gründen noch aus anderen. Aber da ich im richtigen Alter bin, kamen Soldaten zu uns nach Hause. Sie forderten mich auf, dass ich mein Studium abbrechen und zum Militär gehen solle. In unserem Land herrscht aber Krieg. Ich hatte Angst, mein Leben zu verlieren, entweder im Krieg oder – wenn ich mich weigern würde, zum Militär zu gehen – direkt durch die Soldaten. Die Soldaten können in unserem Land jeden Menschen willkürlich ins Gefängnis stecken. Ich wollte aber die Chance auf ein besseres Leben, ohne töten zu müssen.

    Meine Eltern haben dann Geld an die Soldaten gezahlt, damit sie nicht wiederkommen, rund 100 Euro, was bei uns so viel ist wie ein ganzer Monatsverdienst einer normalen Familie. Über Facebook habe ich mich informiert, wie man am besten flüchten kann, dabei habe ich dann circa zehn bis 15 Personen im Netz getroffen, die ebenfalls fliehen wollten. Unsere Familie und Freunde haben 8.000 Dollar für uns gesammelt, damit mein jüngerer Bruder und ich mit diesem Geld fliehen konnten.

    Zunächst sind wir mit einem Flugzeug von Damaskus bis nach Algier geflogen. Wir Syrer haben ein Visum für Algerien – bis dahin war also alles legal, aber gefährlich. Falls das Militär von unseren Fluchtplänen erfahren hätte, hätten sie uns einfach töten können. Wir haben deshalb kein Wort miteinander gesprochen. Im Flugzeug war es überhaupt ziemlich still, solange, bis wir über das Mittelmeer flogen und die italienische Insel Sizilien unter uns sahen. Da fingen einige Passagiere an zu rufen ‚Hey, Pilot, lass uns hier landen!‘ Uns wurde klar, dass wir nicht die Einzigen im Flugzeug waren, die aus Syrien flüchten wollten. Am Flughafen in Algier haben wir dann so lange gewartet, bis der Morgen kam, damit uns keiner unser Geld stehlen konnte, denn das ist das einzig Wichtige auf der ganzen Flucht.

    Am Morgen sind wir dann in ein Hotel in Algier gegangen. Dort blieben wir zwei Tage und hielten den Kontakt zu unserer Facebook-Gruppe. Danach sind wir weitergefahren, in ein Hotel im Landesinneren. Dort sollte sich die Gruppe zum ersten Mal treffen. Es trafen dann die Einzelnen nach und nach ein. Wir lernten uns kennen, haben Pläne gemacht und uns über das Internet informiert, mit welchem Schlepper wir weiterreisen wollten. Verschiedene Menschen haben sich als Fluchthelfer angeboten. Es war schwierig, denjenigen zu finden, dem man vertrauen wollte. Nach zwei bis drei Tagen haben wir dann die Person, die für uns die nächste Etappe organisieren würde, zum ersten Mal getroffen. Mit dem Bus sind wir dann von einem der Männer zur Grenze nach Libyen gefahren worden. Dort haben wir in einem kleinen Haus auf den nächsten Schritt gewartet."²

    Wesentliches Anliegen solcher journalistisch aufbereiteten Geschichten ist, nicht nur über Flüchtlinge zu reden, sondern mit ihnen. Ihre authentische Stimme soll Gehör finden. Zugleich kann man so „Armen eine Stimme geben"³. So macht es etwa die Freie Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen, die den offiziellen Sozialbericht des Landes NRW um ein eigens gestaltetes Kapitel mit diesem sprechenden Titel ergänzt. Dort wird Armut in Lebensgeschichten anschaulich, zum Beispiel auch in der Geschichte „Ich habe Angst vor der Abschiebung, die die Sorgen und Nöte einer alleinerziehenden jungen Mutter aus Albanien plastisch deutlich macht. Denen, die von Armut nichts wissen wollen und die deshalb auch keine Armen kennen, will man auf diese Weise klarmachen, wie Armut und Ausgrenzung aussehen und vor allem wie sich die „Lebenslage Armut anfühlt. Öffentlichkeitsarbeit mit Originaltönen gehört zum klassischen Repertoire anwaltlicher Parteinahme für Benachteiligte. Misslich an diesem gut gemeinten Lobbying für Arme ist freilich, dass die strukturelle Gewalt verfestigter Armut diffundiert in emotional aufwühlende Geschichten von Einzelschicksalen.

    2… oder Flüchtlinge lieber in Ruhe lassen?

    Es gibt weitere Einwände. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi äußert deutliche Vorbehalte gegenüber der Forderung, Flüchtlinge um ihre Erzählungen zu bitten. Er behauptet: „Am besten, das wissen wir aus klassischen Einwanderungsländern, geht es Migranten (welcher Art auch immer), wenn sie möglichst wenig erzählen müssen. Erst dann entstehen ganz neue Geschichten."⁴ Der „sprechende Flüchtling", so Nassehi, sei ein Trugbild, mit dem insbesondere die kirchlich gebundenen Hochgebildeten Vereinnahmung betrieben. Mit einem stark ironischen Unterton karikiert der Sozialforscher dieses Engagement:

    „Nicht unerwähnt lassen sollte man aber, dass es einen ganz besonderen Typus des gebildeten Engagierten gibt, gerne im Zusammenhang mit Hochkulturinstitutionen wie dem Theater oder mit kirchlicher Beteiligung, die geradezu darum kämpfen, dem Flüchtling etwas vom Status des politischen Sonderlings und kulturell Interessanten zurückzugeben. Es werden Begegnungen organisiert, Kulturen und Religionen treffen aufeinander, es ist viel von Praxis die Rede, man möchte etwas von persönlichen Schicksalen hören und mehr Gemeinschaft und Gemeinsamkeit erzeugen, als es einer modernen Gesellschaft womöglich guttut. Ich jedenfalls habe hier den Eindruck, dass die hochkulturelle Vereinnahmung des Flüchtlings in solchen Projekten den ‚sprechenden Flüchtling‘ hervorbringen soll, der mehr von sich preisgibt, als es Autochthone je müssten. Der sprechende Flüchtling wird damit zum funktionalen Äquivalent für den klassischen politischen Flüchtling, der immer schon eine Geschichte mit sich herumgetragen hat, allerdings eher eine kollektive Geschichte. Jetzt werden die Flüchtlinge zwangsauthentisiert, womit sich vielleicht ein engagiertes Milieu eher Distinktion von den pöbelnden Kleinbürgern vor Flüchtlingsunterkünften verschafft als Lösungen für Flüchtlinge. […] Überall sprießen Initiativen, die ausloten, wie man ‚gemeinsam‘ leben kann und die Leute dann zum Reden bringt."

    Ähnlich kritisch äußert sich Carlo Kroiß, der im Rahmen eines Promotionsprojekts offene Interviews mit Asylbewerbern geführt hat: „Die Geschichten der Geflüchteten selbst taugen maximal als Grundlage für rührselige Einzelfallporträts in der Zeitung oder als Teil einer Fallakte in einer Schublade der deutschen Ausländerbehörden."

    Darüber hinaus: Zu viel zu erzählen, kann für den betroffenen „sprechenden Flüchtling" sogar üble Konsequenzen haben. Einem wohlmeinenden Journalisten eines seriösen Radiosenders erzählte ein Flüchtling seine Geschichte – und wurde abgeschoben, trotz eigentlich guter Bleibeperspektive und trotz Begleitung durch eine diakonische Flüchtlingsberatung in einer westdeutschen Metropole. Wenn ein Geflüchteter von seinem Erleben erzählt, kann er sich damit schlimmstenfalls, so zeigt dieses Einzelbeispiel, um Kopf und Kragen reden. Das wird niemand von denen wollen können, die gutwillig und freundlich auf Fremde zugehen, das Gespräch suchen und praktische Hilfe anbieten wollen.

    Ist es womöglich falsch, Flüchtlingen zuzuhören, das Gespräch zu suchen, Lebensgeschichten aufzuschreiben? Das hielte ich dann doch für problematisch. Wenn man gar nicht zur Kenntnis nehmen will, was Flüchtlinge (uns) zu sagen haben, wenn man gar nicht mit Flüchtlingen redet, sondern nur über sie, dann gerät man, auch in wohlmeinender Absicht, schnell in die Dilemmata der Instrumentalisierung.

    Für die deutsche Wirtschaft sind Flüchtlinge Humankapital mit Heilserwartungen. Sie sind willkommen, weil sie den Facharbeitermangel beseitigen und mit hoher Geburtenzahl der „Vergreisung Deutschlands entgegenwirken sollen. Die Aufnahmebereitschaft der Wirtschaftseliten gehört zu den Überraschungen der jüngsten Zeit. Hier hat sich eine historisch neue Allianz von Open-Border-Gesinnungsethikern und Industriekapitänen gebildet. Erwartungsgemäß kritisieren Autor_innen aus dem linken politischen Spektrum allerdings, dass die Aufnahmefreundlichkeit der Arbeitgeber vor allem durch das Interesse an billigen Arbeitskräften motiviert sei. Man sieht hier die „Gefahr eines rassistisch gespaltenen Prekariats, wie Martin Koch und Lars Niggemeyer in ihrem Aufsatz „Der Flüchtling als Humankapital. Wider die neoliberale Integrationslogik" schreiben.⁷ Auch die politische Linke tappt gerne in die Falle der Funktionalisierung. Hier werden Flüchtlinge gewissermaßen zu humanistischem Kapital mit Heilserwartungen. Koch und Niggemeyer erhoffen sich von den zu uns Geflüchteten die „Wiedererrichtung eines handlungsfähigen Sozialstaats; sie träumen ganz offensichtlich von Flüchtlingen als neuem revolutionärem Subjekt für eine „Wiedergewinnung des Sozialen.⁸ Nicht ganz so hoch sind die Erwartungen von Silke van Dyk und Elène Misbach, die sich eingehend mit der politischen Ökonomie des Helfens befassen⁹: Sie wünschen sich einen gemeinsamen Streiktag von Ehrenamtlichen und Engagierten.

    Die in großen Zahlen Zugewanderten der letzten Jahre sind zum Spielball politischer Auseinandersetzungen und zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse geworden. Das Bild des Flüchtlings changiert zwischen Schreckbild, Zerrbild und Hoffnungsbild. Im eher rechten politischen Lager hat die massive Zuwanderung Alpträume von Überfremdung und Überforderung ausgelöst. Auf der linken Seite gibt es naive Träume von einer anderen Gesellschaft. Wenn Flüchtlinge selbst erzählen, kann das mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden sein. Erzählte Lebensgeschichte bringt aber Realitäts- und Erkenntnisgewinn. Wenn Flüchtlinge erzählen, sind sie damit Subjekt ihrer Lebensgestaltung und nicht Objekt von Zuschreibungen.

    3Über den Umgang mit Menschen

    Eine wahre Anekdote: Zu Weihnachten lud die gut katholische Familie aus der gut katholischen Stadt eine fünfköpfige syrische Familie zum Festessen ein. Mutter gab alles, um ein ebenso schmackhaftes wie korrektes Mahl zuzubereiten. Zum Schluss bedankten sich die Gäste artig, aber ganz vorsichtig merkte der Familienvater an, er hätte durchaus auch Schweinebraten gegessen … Wie das? Antwort: „Ich bin Atheist."

    Bei Begegnungen kann es zu Missverständnissen kommen, zu solchen eher harmlosen wie auch zu ernsthafteren Missverständnissen. Wird Begegnung vermieden oder gar abgelehnt, kommt es aber schnell zu Vorurteilen, die sich zu „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" auswachsen können. Diese Gefahr halte ich für größer als die Gefahren misslingender Gesprächsführung.

    Den Umgang mit Menschen kann man lernen. Davon war zumindest der große Aufklärer Adolph Freiherr von Knigge überzeugt, der in seinem epochalen Werk 1788 schrieb: „Eine gewisse Leichtigkeit im Umgange also, die Gabe, sich gleich bei der ersten Bekanntschaft vorteilhaft darzustellen, mit Menschen aller Art zwanglos sich in Gespräche einzulassen und bald zu merken, wen man vor sich hat und was man mit jedem reden könne und müsse, das sind Eigenschaften, die man zu erwerben und auszubauen trachten soll."¹⁰ Auf dieser Linie liegen auch die Hinweise, die in dem von Diakonie und Kirche herausgegebenen Wegweiser für die ehrenamtliche Arbeit mit Flüchtlingen in Nordrhein-Westfalen gegeben werden. Dort ist auch von „Stolpersteinen im Rahmen des persönlichen Engagements die Rede. Hier heißt es: „Gerade zu Beginn des Kontaktes ist es ratsam, viel Zeit zum Kennenlernen einzuplanen und Vertrauen aufzubauen. Am besten ist es, einfach zuzuhören und nur sehr behutsam Fragen zu stellen.¹¹ Der alte, aber hochaktuelle Knigge formuliert es kurz und bündig: „Belästige nicht die Leute, mit welchen Du umgehst, mit unnützen Fragen."¹² Ob die vielen Mini-Knigges, die jetzt auf den Markt geworfen werden, um jungen, arabischstämmigen Männern zu erklären, dass man in Deutschland Frauen nicht begrapschen darf, wirklich von Nutzen sind, wage ich zu bezweifeln. Der Rekurs auf den viel zitierten, aber zu wenig gelesenen Original-Knigge könnte hier mehr Nutzen stiften.

    Hört man von Angesicht zu Angesicht Geschichten von Flüchtlingen oder liest man Sozialprotokolle oder auch ausführlichere Dokumentationen wie die Bücher von Melanie Gärtner und Antonie Rietzschel¹³, kann man jenseits von Statistik, politischer Programmatik oder knappen Zeitungsberichten anschaulich, ausführlich und emotional aufwühlend vor allem zwei Dinge nachvollziehen: Flüchtlinge kämpfen um ihr Überleben und für ein besseres Leben. Die Geschichten, die sie erzählen, sind Teil dieser (Über-)Lebensstrategie. Wenn Flüchtlinge erzählen, dann inszenieren und stilisieren sie. Gegenüber Behörden, von denen ihr Weiterleben in Deutschland abhängig ist, bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig. „Ich sag dir mal was. Du musst dir eine komplett neue Lebensgeschichte einfallen lassen.¹⁴ Das rät der erfahrene Salim dem neu angekommenen Flüchtling Karim Mensy in dem Roman „Ohrfeige von Abbas Khider, einem bitterbösen Stück Migrantenliteratur, aus dem man mehr über das wahre Leben in der Einwanderungsgesellschaft lernen kann als aus den wertvollen Materialien der Bundeszentrale für politische Bildung oder den kritischen Analysen zur Ökonomie der Flucht und der Migration im flexiblen Kapitalismus – deren Studium natürlich auch unverzichtbar ist.

    Ein weiteres kommt hinzu: Wer auf lebensgefährlichen wochenlangen Fluchtrouten sich Tag und Nacht fragen musste, wem er überhaupt vertrauen kann, wer dabei durch erschütternde Erlebnisse traumatisiert wurde, von dem kann man schlichtweg nicht erwarten, dass er uns im Plauderton seine Abenteuer serviert. Auch bei ehrlichem Interesse müssen Helfer_innen nicht alles wissen, um mit ihren zugewanderten Mitmenschen ins Gespräch zu kommen. In dem Doppelporträt „Harun, Chinoso und der Blick nach vorn, das Roelf Bleeker für die Unternehmenszeitschrift der Düsseldorfer Graf-Recke-Stiftung verfasst hat, geht der Autor sensibel mit den Lebensgeschichten seiner jungen Protagonisten aus Nigeria und Syrien in ihrer Zeit vor dem Leben in Deutschland um: „Chinosos Geschichte seines Lebens ist noch kurz, aber voller schrecklicher Erlebnisse. Auf jede Frage, die sich auf sein Leben vor seiner Ankunft in Deutschland bezieht, schüttelt er den Kopf: ‚Ich erinnere mich nicht.‘ Als er nach Deutschland kam, schlief er im Warteraum des Oberhausener Bahnhofs, bevor er aufgegriffen wurde, viel mehr erzählt er auch davon nicht. Und: „Persönliches erzählt Harun nicht aus seiner Vergangenheit oder Heimat. Stattdessen berichtet er begeistert von einem Hobby, das er ganz neu für sich entdeckt hat: Zwei Mal war er mit seiner Schulklasse Skifahren in Österreich."¹⁵

    „Gesichtsausländer_innen, also Menschen mit Migrationshintergrund, denen man als „people of color ihre Zuwanderungsgeschichte ansieht, mögen es nicht besonders, wenn man sie fragt, wo sie „wirklich herkommen. Darauf weist Annette Treibel in „Integriert Euch hin. Meist haben eben auch Menschen mit dunklerer Hautfarbe, zumindest jüngere, Geburtsorte wie Hamm oder Duisburg. Denn Deutschland ist ja nicht erst seit 2015 ein multiethnisches Einwanderungsland. In der kleinbürgerlich geprägten Großstadt, in der ich lebe, legen die „Paohlbürger viel Wert darauf, „echte Münsteraner zu sein. In meiner Familie sehen aber die einzigen in Münster Geborenen so aus, dass der Kinderarzt meine Tochter gefragt hat, ob sie ihre Kinder adoptiert habe – was sie etwas pikiert hat. Fragen, Gespräche, Begegnungen und Austausch können von falschen Voraussetzungen ausgehen und von Klischees geleitet sein. Man kann miteinander sprechen und doch aneinander vorbeireden. Im Umgang mit Menschen gibt es viele Fallstricke. Das sollte aber in letzter Instanz kein Hinderungsgrund sein, vorsichtig und respektvoll aufeinander zuzugehen, die Kunst des Zuhörens zu üben und lebensweltlich wie politisch Diskurse über eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz zu führen.

    Wenn Flüchtlinge erzählen, dann tun sie das nicht nur als Bewohner_innen von Unterbringungseinrichtungen, im kirchlich getragenen Flüchtlingscafé für Frauen oder als Jugendliche, die von diakonischen Hilfen zur Erziehung betreut werden, sondern auch als Schriftsteller_innen. Zum Schluss eine sarkastische Passage aus dem bereits zitierten Roman „Ohrfeige" von Abbas Khider, aus der man viel lernen kann für den berühmt-berüchtigten interkulturellen Dialog:

    „In den Regionalzügen herrscht ständiges Ein- und Aussteigen. Anfangs wollte ich gern die Einheimischen kennenlernen und freute mich darüber, wenn sich jemand zu mir gesellte. Oft setzte ich mich selbst in Bussen oder Zügen neben einen Blondschopf und versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich betrachtete es als kulturellen Austausch und lernte so die Sprache anzuwenden. In letzter Zeit vermeide ich den Kontakt jedoch zunehmend und will lieber für mich alleine bleiben. Ich bin es leid, über Dinge zu reden, die mit meinem jetzigen Leben nichts mehr zu tun haben. Die permanenten Fragen zur Vergangenheit erledigen mich. Seit Monaten bemühe ich mich, den Nachrichten aus der Heimat auszuweichen, höre oder lese sie höchstens ein Mal wöchentlich, und das so oberflächlich wie möglich. Allenfalls die Schlagzeilen, damit der Trübsinn mich nicht übermannt. Die deutschen Fahrgäste wollen sich mit mir jedoch über nichts anderes unterhalten. Die Fragen sind immer dieselben: Woher kommen Sie? Wann kehren Sie in Ihr Heimatland zurück? Der 11. September war abscheulich. Sehen Sie das auch so? Können die Araber überhaupt demokratisch denken? Sind Sie Muslim? Was denken Sie über das, was die Amerikaner in Ihrem Land angestellt haben? Sehen Sie es als Befreiung oder Besatzung? Ist das Leben jetzt besser ohne Diktatur? Was glauben Sie – wird es mit der Demokratie dort funktionieren?

    Nie macht sich einer mal Gedanken über mein gegenwärtiges Leben. Über die Schwierigkeiten mit der Aufenthaltserlaubnis, die Folter in der Ausländerbehörde, die Schikanen des Bundeskriminalamtes, über die Peinlichkeiten des Bundesnachrichtendiensts oder die Banalitäten des Verfassungsschutzes. Und warum fällt niemandem die Tatsache des Polizeirassismus auf? Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf? Frau Schulz?"¹⁶

    Integration zielt auf Teilhabe an Arbeit, Politik, Konsum und Kultur. Das ist in erster Linie ein wirtschafts- und sozialpolitischer Transformationsprozess. Die neue Migrationsgesellschaft in Deutschland braucht als Grundpfeiler aber auch den Aufbau von Sozialkapital durch interkulturelle Lern- und Öffnungsprozesse. Die grundlegende Leitfrage lautet: Wie wollen wir leben und wer ist überhaupt dieses „Wir? Ein neues Leitbild ist zu entwickeln, anders gesagt eine neue Erzählung. Zu dieser vielschichtigen und vielfältigen Erzählung gehören die Erzählungen der zu uns Geflüchteten notwendig dazu. Deshalb plädiere ich letztlich dafür, Flüchtlingen zuzuhören, wenn sie denn erzählen können und mögen. Carlo Kroiß bringt das so auf den Punkt: „Wenn statt Flüchtlingsabwehr eine wie auch immer geartete Willkommenskultur Einzug halten soll, dann müssen wir auf die Berichte derjenigen hören, die man zu Recht als Experten ihrer selbst beschreiben kann: die Asylbewerber, die wissen, wo der Schuh drückt.¹⁷

    Literatur

    Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Armen eine Stimme geben. Ausgrenzung hat viele Facetten, Köln 2016.

    Bleeker, Roelf, Harun, Chinoso und der Blick nach vorn, recke: in – das Magazin der Graf Recke Stiftung 2 (2015), 24–26.

    Deutsches Komitee für UNICEF (Hg.), UNICEF-Report 2016 Flüchtlingskindern helfen, Frankfurt / Main, Juli 2016.

    Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe / Evangelische Kirche im Rheinland / Evangelische Kirche von Westfalen / Lippische Landeskirche (Hg.), Unter dem Schatten deiner Flügel. Wegweiser für die ehrenamtliche Arbeit mit Flüchtlingen in Nordrhein-Westfalen, Mönchengladbach 2015.

    Dyk, Silke van / Misbach, Elène, Zur politischen Ökonomie des Helfens. Flüchtlingspolitik und Engagement im flexiblen Kapitalismus, Ökonomie der Flucht und der Migration, PROKLA 183 / 2 (2016), 207–227.

    Foroutan, Naika, Die Einheit der Verschiedenen: Integration in der postmigrantischen Gesellschaft, Kurzdossier, Osnabrück / Bonn 2015.

    Gärtner, Melanie, Grenzen am Horizont. Drei Menschen. Drei Geschichten. Drei Wege nach Europa, Frankfurt / Main 2015.

    Geissler, Cornelia, Die falsche Nase. Ein Stück Alltag. Wie das Thema Flucht in Büchern für Kinder und Jugendliche angekommen ist, FR, 22.06.2016, 28.

    Georgi, Fabian, Widersprüche im langen Sommer der Migration. Ansätze einer materialistischen Grenzregimeanalyse, Ökonomie der Flucht und der Migration. PROKLA 183 / 2 (2016), 183–203.

    Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Wandern. Zur Globalgeschichte der Migration, Mittelweg 36 / 1 (2016).

    Khider, Abbas, Ohrfeige. Roman, Frankfurt / Main 2016.

    Knigge, Adolph Freiherr von, Über den Umgang mit Menschen, hg. v. Gerd Ueding, Frankfurt / Main 2001, urspr. Hannover 1788.

    Koch, Martin / Niggemeyer, Lars, Der Flüchtling als Humankapital. Wider die neoliberale Integrationslogik, Blätter für deutsche und internationale Politik 16 / 4 (2016), 83–89.

    Kroiß, Carlo, Und sie bewegen sich doch. Über Einkommen und Auskommen in Deutschland, Kursbuch 183: Wohin flüchten?, Hamburg 2015, 111–125.

    Muy, Sebastian: Hilfe zwischen Abschreckung und Profit. Interessenkonflikte Sozialer Arbeit in Flüchtlingssammelunterkünften gewerblicher Träger in Berlin, Ökonomie der Flucht und der Migration. PROKLA 183 / 2 (2016), 229–244.

    Nassehi, Armin, „Die arbeiten nichts. Eine kleine Polemik gegen den „Wirtschaftsflüchtling, Kursbuch 183: Wohin flüchten?, Hamburg 2015, 101–110.

    Nikles, Bruno W. / Nikles-Windolph, Barbara, Im Dschungel der Ehrenamtlichkeit. Case-Management für eine Flüchtlingsfamilie aus Syrien, Caritas in NRW 2016 / 1: Flüchtlinge integrieren, 9–12.

    Ott, Konrad, Zuwanderung und Moral, Stuttgart 2016.

    Reportagen zum Thema Flucht, laufend bei: diakonie-rwl.de.

    Reschke, Anja (Hg.), Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge, Reinbek 2016.

    Rietzschel, Antonie, Dreamland Deutschland? Das erste Jahr nach der Flucht. Zwei Brüder aus Syrien erzählen, München 2016.

    Treibel, Annette, Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland, Bonn 2016.

    ¹ Deutsches Komitee für UNICEF, Flüchtlingskindern helfen, 90. Siehe darin auch Kapitel 2 (Susanne Schlüter-Müller, Was Kinderseelen bewegt) und 7 (Porträts von Flüchtlingskindern).

    ² Ausstellungstafel im Ausstellungsprojekt „Hoffnung eine Heimat geben" des Diakoniewerks Gelsenkirchen und Wattenscheid mit Unterstützung der Diakonie RWL, Gelsenkirchen 2015.

    ³ Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Armen eine Stimme geben.

    Nassehi, „Die arbeiten nichts", 110.

    Nassehi, „Die arbeiten nichts", 109f.

    Kroiß, Und sie bewegen sich, 111.

    Koch / Niggemeyer, Humankapital, 86 passim.

    Koch / Niggemeyer, Humankapital, 86 passim.

    Dyk / Misbach, Zur politischen Ökonomie des Helfens.

    ¹⁰ Knigge, Umgang, 62.

    ¹¹ Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe / Evangelische Kirche im Rheinland / Evangelische Kirche von Westfalen / Lippische Landeskirche (Hg.), Unter dem Schatten, 64.

    ¹² Knigge, Umgang, 52.

    ¹³ Vgl. Gärtner, Grenzen am Horizont, und Rietzschel, Dreamland Deutschland?

    ¹⁴ Khider, Ohrfeige, 69.

    ¹⁵ Bleeker, Harun, Chinoso, 26.

    ¹⁶ Khider, Ohrfeige, 18f.

    ¹⁷ Kroiß, Und sie bewegen sich, 124.

    Sigurd Hebenstreit / Helene Skladny

    Flüchtlingen ein Gesicht geben

    Die Kapitelüberschrift „Ansichten erlaubt subjektive Sichtweisen und eine entsprechende Sprache. Die nehmen wir uns im Folgenden heraus. Wir umreißen Erfahrungen mit deutscher Flüchtlingspolitik des vergangenen Jahres, deuten an, was wir mit „Flüchtlingen ein Gesicht geben meinen, wohl wissend, dass Flüchtlinge bereits ein Gesicht haben und wir es ihnen nicht erst geben müssen. Wir skizzieren ein gemeinsames Kunstseminar mit Studierenden der Evangelischen Hochschule Bochum und einer Gruppe von geflüchteten Menschen und präsentieren wenige ausgewählte Ergebnisse. Nichts Spektakuläres, aber Spannendes.

    12.500 Zeichen einer einjährigen Geschichte deutscher Flüchtlingspolitik

    300.000 – 400.000 – 500.000 – 700.000 – 1.000.000 – mehr als 1 Million. Flut – Welle – Schwemme – Überschwemmung. Das war 2015. Auch professionelle Überforderung und ehrenamtliche Willkommenskultur. „Wir schaffen das! („Wir schaffen das nicht, kann ein verantwortungsvoller Politiker kaum sagen.) Kritische Politiker fragen – zunächst vorsichtig: „Wollt ihr noch mehr Flüchtlinge willkommen heißen?" Ja! Immer mehr Menschen strömen zu den Bahnhöfen, um ankommenden Flüchtlingsmassen zu applaudieren. Warum gehen 100.000 auf die Fan-Meile, um ein Fußballspiel zu betrachten, das sie auch zusammen mit Freunden, ein Bier in der Hand, am heimischen Fernseher verfolgen könnten? Ein Sommermärchen. Ein Hype. Der erfahrene Politiker weiß, das geht vorüber.

    „Wollt ihr denn noch mehr Flüchtlinge willkommen heißen?" Das geht doch nicht. Abschottung. Zuerst Ungarn – profaschistisch. Aber dann auch Österreich. Das geht doch nicht. Die europäischen Werte, die Freizügigkeit. Doch im Ergebnis Zufriedenheit – auch der deutschen Politiker verschiedener Parteien. Schließung der Balkanroute.

    Der Türkei-Flüchtlings-Deal. Leichter werdende Bedenken. Die Menschenrechte? Die zwiespältige Rolle der Türkei bei der Förderung des Islamismus? Die ungeklärte Kurdenfrage in Syrien, im Irak, in der Türkei? Bedenken. Aber das positive Ergebnis: Während sich die Kommunen nach verschlafenem Beginn auf die Schwemme vorbereiten, reduziert das Bundesinnenministerium seine Prognosen im Jahr 2016 kontinuierlich: von 1.000.000 auf 700.000 auf 450.000, auf 300.000, auf … Es flutet nicht mehr, sondern tröpfelt. Alles gut? Das Flüchtlingshilfswerk der UN gibt bekannt: Noch nie so viele Flüchtlinge wie 2016.

    Der Blick auf das Innere. Nach der Willkommenskultur der Schock der Silvesternacht von Köln. Die Schlagzeilen ändern sich. Wir müssen Angst bekommen. Die Welle überrollt uns. Die innere Sicherheit ist in Gefahr. Frustrierte Sexualstraftäter, eingeschmuggelte Islamisten, der Terror jetzt auch in Deutschland. Orban hatte recht. Um sich gegen die Sintflut zu schützen, müssen die Dämme erhöht werden. Um die Asylflut einzudämmen, müssen die Gesetze verschärft werden: Asylpaket I, Asylpaket II, Integrationsgesetz. Falls dadurch die Abschreckung nicht reicht: die Asylpakete III bis … Wir werden der Flut Herr. Schotten dicht. Und so schlimm ist es in Afghanistan doch nicht. Es soll sogar Urlauber geben, die dieses Land für ihr Abenteuer aufsuchen. Dschungelcamp. Das schauen wir uns im Fernsehen auch an. Und die deutsche Masse, der kurzfristige Hype bleibt zu Hause vor dem Fernseher, wählt AfD, stimmt in Umfragen ausländerfeindlichen Statements zu oder schüttelt den Kopf und schweigt. War es das, was Angela Merkel meinte, als sie ihr „Wir schaffen das!" sagte?

    2Flüchtlingen ein Gesicht geben

    Durch unser Gesicht präsentieren wir uns den anderen – deshalb das Passfoto auf amtlichen Ausweisen, das Profilbild auf Facebook und WhatsApp, die Angst vor der Burka. Unser Gesicht zeigt unsere Stimmung; mein Gegenüber weiß, ob ich traurig oder fröhlich, offen oder verschlossen, neugierig oder ignorant, interessiert oder abweisend bin. Mein Gesicht, das sind auch meine Augen, Ohren, meine Nase, mit denen ich mir ein Bild von den anderen mache: Sind sie freundlich oder bedrohlich, anziehend oder abstoßend, liebenswert oder neutral; wecken sie meine Neugierde, sie näher kennenzulernen, oder schalte ich auf Abwehr. Ein Gesicht geben und ein Gesicht nehmen, ist ein wechselseitiger Prozess: Ich zeige mich dem Gegenüber, und ich interpretiere die Eindrücke, die ich von dem des anderen erhalte. Mein Gegenüber deutet mein Gesicht – als Kommunikationsangebot oder Abweisung – und reagiert darauf – bestätigend oder ablehnend. Kommunikation über die Präsentation des Gesichtes funktioniert nur in der Face-to-face-Situation. Einer Masse kann ich nicht in die Gesichter schauen, die einzelne Stimme nicht hören. Nicht die 1 Million, sondern die / der Einzelne.

    „Flüchtlingen ein Gesicht geben, meint diesen wechselseitigen Prozess: Ich gewinne einen Eindruck von der Individualität meines Gegenübers, und ich präsentiere mich ihm als neugierig, aufgeschlossen, zugewandt. Ich sehe nicht „den Flüchtling, Syrer, Afghanen, Iraker, Kurden, sondern Ihab, Muhammed, Said, Resha. Und ich bin nicht das Musterexemplar des Deutschen, Vertreter der westlichen Wertegemeinschaft, der Einheimische, sondern zeige mich als individuelle Persönlichkeit mit meinen Stärken und Schwächen, meinen Verständnismöglichkeiten und Grenzen. Wechselseitig: Auch der Geflüchtete nimmt mich als einzelnen Menschen wahr, der ihm vertraut wird oder fremd bleibt.

    Wir begegnen uns auf Augenhöhe, als Menschen mit gleicher Menschenwürde, mit Interesse an der Begegnung, die neugierig auf das Fremde im Vertrauten macht. Solche Begegnungen auf Augenhöhe können gelingen – die Erfahrungen mit Patenschaften in der Flüchtlingshilfe zeigen dies. Sie sind bereichernd für beide Seiten: ermöglichen mir, einen neuen Menschen kennenzulernen und dabei auch neue Seiten an mir selbst zu entdecken. Ein Beispiel: Mein Interesse an dem anderen zu zeigen, wenn die sprachliche Verständigung schwierig ist, verlangt neue Möglichkeiten des nichtsprachlichen Ausdrucks – ich forme mein Gesicht, und ich kann das einzigartige Gesicht der kopftuchtragenden Frau sehen (und nicht das Kopftuch). Der geflüchtete Mensch, vielleicht in seinem menschlichen Grundvertrauen durch erlittene Gewalt verunsichert, bekommt die Möglichkeit, sich zu öffnen: Ich bin mehr als meine schreckliche Fluchtgeschichte, ich werde nicht darauf reduziert, und ich muss mich selbst nicht darauf reduzieren. Das mir offen gezeigte Gesicht des anderen zeigt mir menschliche Vertrautheit im Fremden; ich kann es mir erlauben, mein Gesicht zu zeigen.

    Das wechselseitige Geben und Nehmen des Gesichts kann misslingen: subjektiv von Seiten des Geflüchteten, der zu sehr in seiner Angst gefangen ist, als dass er es wagen könnte, sein Gesicht zu zeigen; und von Seiten des Flüchtlingshelfers: Er sieht nicht das Gesicht, sondern nur die Probleme, auf die er sich stürzen mag (wenn jeder zweite Flüchtling traumatisiert ist, dann muss ich doch Spuren des Traumas in meinem Fall entdecken), oder er sucht nach Bestätigung der Klischees, die die öffentliche Meinung für Geflüchtete positiv oder negativ bereithält (und übersieht, dass die intellektuelle oder technische Kompetenz des syrischen Flüchtlings die seine übersteigt); er orientiert sich an der Lösung von kleineren oder größeren technischen Problemen, für die er sein überlegenes Wissen parat hat, aber sein eigenes Lachen, seine Traurigkeiten, Enttäuschungen, Hoffnungen bleiben außen vor. Mir ist aufgefallen, dass meine Standarderöffnung „Wie geht‘s?" immer zu spät kam, weil das Gegenüber mit der gleichen Frage schneller war. Misslingen kann der gleichberechtigte Prozess, ein Gesicht zu geben und zu empfangen, auf Grund politischer Rahmenbedingungen, die die Geflüchteten auf eine passive Empfängerrolle einschränken, die Vorrangstellung der westlichen (christlich-abendländischen) Zivilisation betonen (und damit die neokapitalistischen Interessen verdecken) und Fremdenfeindlichkeit Vorschub leisten. Aber das ist ein weites, anderes Feld …

    „Flüchtlingen ein Gesicht geben – kann gelingen. Eine empirische Untersuchung, welche Faktoren förderlich sind, wie sie sich erlernen lassen und welche Rahmenbedingungen sie benötigen, wäre hilfreich. Wir schreiben hier nur „Ansichten, subjektive Eindrücke. In diesem Sinne einige Fragen: Wie bereit bin ich, mich auch Fremden mit Neugierde zuzuwenden? Wie nehme ich Abschied von den Illusionen des starken Helfers und des hilflosen Geholfenen? Wie sehr bewahre ich den realistischen Blick auf das, was ist, und das, was möglich ist, anstatt mich in idealistischen Spekulationen zu ergehen? Gelingt es mir, beides zugleich zu sehen: das Neue und das Vertraute? Gelingt es mir, auf Augenhöhe dem anderen ins Gesicht zu sehen und ihm mein Gesicht zu zeigen? Kann ich mich vom Egozentrismus befreien – meinem persönlichen und dem meiner Kultur, Geschichte und Religion? Erlebe ich die Begegnung für mich persönlich als bereichernd oder opfere ich mich – meine Menschenfreundlichkeit herausstellend – für den Dienst an der guten Sache auf?

    3Bilder über Bilder

    Flüchtlinge. Unser Bild über sie beruht vor allem auf medial vermittelten Bildern. Noch vor wenigen Monaten reihten sie sich ein in das, was wir täglich in den Tagesnachrichten zu sehen gewohnt sind. Etwa: hoffnungslos überfüllte Schlauchboote, ferne Kriegsschauplätze, Tote, Verletzte, Gestrandete und Helfer_innen. Weinende Kinder, die auf Boote gehoben, von Rettungskräften entgegengenommen werden, Küstenwachen, erschöpfte Frauen am Wegrand, Müll, Absperrzäune, Auffanglager, Männer, Frauen, Kinder mit Rucksäcken und Plastiktüten, hinter Zäunen, Registrierungen, Austeilung von Decken, Essensrationen usw. Sie lösten (mehr oder weniger) Betroffenheit aus, so wie all die anderen journalistischen Fotos und Filme über die Katastrophen dieser Welt Betroffenheit auslösen.

    Ab September 2015 änderte sich das. Natürlich änderte sich auch die reale Situation. Menschen, die uns noch zuvor medial in unseren Wohnzimmern (und real weit entfernt!) begegneten, kamen nun in unser Land. Aber auch das wurde den meisten von uns nur über Bilder vermittelt. Bilder blieben. Eine Flut von neuen Bildern kam hinzu. Einige von ihnen avancierten noch während ihres Erscheinens zu „Symbolbildern. So z.B. das Foto des auf der Flucht ertrunkenen dreijährigen Aylan Kurdi oder Angela Merkels „Selfie in einer Flüchtlingsunterkunft. Bahnhofsszenen, in denen Applaudierende Ankommende verdecken, Teddybären verteilen und Pappschilder mit „refugees welcome hochhalten. Kurz darauf Bilder von Menschen hinter Absperrzäunen. Auch sie halten Pappschilder: We are not going back, open the way. Idomeni, eine Flüchtlingszeltstadt versinkt im Schlamm. Kinder werden über reißende Wassermassen gereicht. Unscharfe, diffuse und dunkle Bilder der Silvesternacht in Köln. Nordafrikanische junge Männer. Wieder Pappschilder mit Aufschriften wie „Nein heißt Nein. Überfüllte Erstaufnahmelager, halbleere Erstaufnahmelager usw. Bilder und Gegenbilder. Bilder, die Emotionen auslösen, die Meinung und Politik machen und vor allem immer mehr und immer weiter polarisieren.

    4„Wir sind keine Ressource für Euer nächstes Kunstprojekt!"

    Kunstprojekte mit Flüchtlingen sind im Trend. Mehr als das. Wer die Stichworte „Kunstprojekte und Flüchtlinge im Internet eingibt, gelangt auf eine schier unübersehbare Anzahl von Workshops, Ausstellungen und Dokumentationen. Angefangen von kleinen improvisierten Kursen, die mit geflüchteten Menschen malen, singen usw., bis hin zu professionellen Kunstausstellungen findet man eine breite Angebotspalette. Fragt man nach den Intentionen von Kreativprojekten dieser Art, so stößt man hauptsächlich auf folgende Begründungen: Künstlerische Workshops mit Flüchtlingen bieten u.a. Möglichkeiten, Sprachbarrieren zu überwinden, da auf eine „universellere Sprache zurückgegriffen wird. Sprachenlernen kann unterstützt und gefördert werden. Künstlerisch-kreative Betätigungen können entlastende, mitunter therapeutische Wirkungen haben. Kommunikation kann so über ein „Drittes, nämlich das Material, die Farbe, das Bild, den Rhythmus usw., stattfinden. Im gemeinsamen Gestalten oder gar „flow können Berührungsängste abgebaut werden. Und es macht vor allem Spaß! Hier liegen Chancen und viele wertvolle Möglichkeiten, weil Begegnung (tatsächlich!) stattfindet, es um Kommunikation, Ausdruck und Verstehen geht. Aber hier liegen auch Gefahren. Einige sollen hier kurz skizziert werden:

    Erstens: Flüchtlingsboote töpfern. Bei der Internetrecherche zu den Stichworten „Kunstprojekte mit Flüchtlingen" trifft man immer wieder auf einen bestimmten Typus von Kunstprojekten. Zu sehen sind obligatorische Werkraumbilder. Menschen töpfern, halten ihre Ergebnisse in die Kamera, stehen im Halbkreis, sitzen an Werktischen über ihre Arbeiten gebeugt. Bekannte Szenen von Kreativgruppen, wie sie häufig in der Lokalpresse zu finden sind. Mit dem Unterschied, dass einige

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