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Kinder in Armut: Benachteiligung, Diffamierung und Stigmatisierung in der Kita begegnen
Kinder in Armut: Benachteiligung, Diffamierung und Stigmatisierung in der Kita begegnen
Kinder in Armut: Benachteiligung, Diffamierung und Stigmatisierung in der Kita begegnen
eBook265 Seiten2 Stunden

Kinder in Armut: Benachteiligung, Diffamierung und Stigmatisierung in der Kita begegnen

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Über dieses E-Book

Pädagogische Fachkräfte können die gesellschaftspolitisch verursachte Entstehung von Kinderarmut kaum beeinflussen. Doch die Frage, wie sie mit ihr umgehen, ist von allergrößter Relevanz: Reproduzieren ihre Haltungen und Handlungen einfach nur die vorhandene soziale Ungleichheit oder verstärken sie sie sogar? Oder gelingt es ihnen, Armutswirkungen zu lindern und zu vermindern und  Ressourcen, Resilienz und solidarische Beziehungen zu stärken? 
Dafür benötigen sie fundiertes Fachwissen über das Ausmaß, die Folgen, die Ursachen und wirksame Gegenmaßnahmen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sowie in den jeweiligen Bildungseinrichtungen. Hier verschafft das Buch Übersicht, Klarheit und gibt starke Impulse.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Herder
Erscheinungsdatum27. Feb. 2023
ISBN9783451829222
Kinder in Armut: Benachteiligung, Diffamierung und Stigmatisierung in der Kita begegnen
Autor

Michael Klundt

Michael Klundt ist Professor für Kinderpolitik im Studiengang Angewandte Kindheitswissenschaften an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

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    Buchvorschau

    Kinder in Armut - Michael Klundt

    1

    Ausmaß und Erscheinungsformen von Kinderarmut

    Wie viele Kinder sind eigentlich in Deutschland von Armut betroffen und wie nehmen wir im Allgemeinen deren Zustand wahr? Das folgende Kapitel untersucht zunächst das Ausmaß und die Erscheinungsformen sozial polarisierter Kindheiten. Es beweist auch die Relevanz von Wissenschaften, weil sie in vielerlei Dingen aufzeigen können, dass die Erscheinungsform(en) und das Wesen bzw. der soziale Inhalt von Sachverhalten nicht notwendigerweise identisch sind. Das gilt übrigens auch für das subjektive Selbstverständnis bezüglich Haltungen und Handlungen im Verhältnis zur objektiven Funktion dieser Ansichten und Artikulationen. Wer wissen möchte, wie sich Armut „anfühlt", hat seit Jahren die Möglichkeit, die empirische Forschungsliteratur zu bemühen (vgl. z.B. Chassé/Zander/Rasch 2010), die von der Nationalen Armutskonferenz (NAK) herausgegebenen Betroffenen-Berichte zu studieren (vgl. z.B. NAK 2018) oder seit einiger Zeit im Internet unter #ichbinarmutsbetroffen kurze Beiträge von Betroffenen über ihren Alltag und ihre Lebensrealität kennenzulernen, die für viele Menschen als eigentlich undenkbare Verhältnisse in dem doch so reichen Deutschland erscheinen.

    Sich mit einer Thematik auseinanderzusetzen, erfordert somit zunächst einmal, sie wirklich wahrzunehmen und nicht zu verharmlosen oder zu verleugnen. Die Anerkennung der Existenz der Betroffenen als ganz „normale" Menschen kann dabei als erster Schritt gesehen werden. Wie im folgenden Exempel gezeigt wird, ist dies für viele Menschen und auch für viele Professionelle keineswegs selbstverständlich.

    „,Bei uns gibt es so etwas nicht, wir haben keine armen Kinder. Bei uns sind nur ganz normale Kinder‘, sagt die Kitaleiterin eines katholischen Familienzentrums, das im Schatten eines Hochhauskomplexes liegt, und lehnt am Telefon den Wunsch nach einem Interview zum Thema armutsbetroffene Kinder ab" (Iglesias/Wolter-Buhlmann 2019, S. 4).

    Dass Armut im Allgemeinen jedoch seit Jahren in Deutschland vorkommt und sogar gravierende Ausmaße angenommen hat, zeigt der Armutsbericht 2022 des Paritätischen Gesamtverbandes. Danach „hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemiejahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet angesichts der aktuellen Inflation mit einer weiteren Verschärfung der Lage und appelliert an die Bundesregierung, umgehend ein weiteres Entlastungspaket auf den Weg zu bringen, das bei den fürsorgerischen Maßnahmen ansetzt: Grundsicherung, Wohngeld und BAföG seien bedarfsgerecht anzuheben und deutlich auszuweiten, um zielgerichtet und wirksam Hilfe für einkommensarme Haushalte zu gewährleisten" (Pressemitteilung Parität 2022). Einen Überblick zum allgemeinen Armuts-Ausmaß unter allen Bewohnerinnen und Bewohnern in den Bundesländern gibt die Karte aus dem Armutsbericht 2022 des Paritätischen Gesamtverbandes (Abb. 1).

    Abb. 1: Armutsbericht 2022

    Quelle: Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband (2022): Zwischen Pandemie und Inflation. Paritätischer Armutsbericht 2022, Berlin, S. 16.

    Anhand der dort aufgetragenen Armutswerte lässt sich erkennen, dass es nicht nur zwischen Stadt-Staaten und Flächenstaaten und nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschland große Differenzen gibt, sondern mittlerweile auch zwischen Norden und Süden.

    In einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage zu aktuellen Zahlen über Kinderarmut vom März 2022 wird der Umfang der Kinderarmut in Deutschland mit der folgenden Tabelle des Statistischen Bundesamtes durch die Parlamentarische Staatssekretärin Annette Kramme illustriert (Abb. 2). Aus den darin enthaltenen Zahlen geht hervor, dass in der Bundesrepublik Deutschland durchschnittlich etwa jedes fünfte Kind und jede/r fünfte Jugendliche von Armut(srisiken) betroffen sind.

    Abb. 2: Armutsgefährdungsquoten¹) von unter 18-Jährigen in Deutschland und nach Bundesländern in Prozent gemessen am Bundes- und Landesmedian 2020

    Ergebnisse des Mikrozensus; Hochrechnung der fortgeschriebenen Ergebnisse des Zensus 2011.

    1) Anteil der Personen mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten am Ort der Hauptwohnung. Das Äquivalenzeinkommen wird auf Basis der neuen OECD-Skala berechnet.

    Quelle: Kramme, Annette (2022): Antwort der Parlamentarischen Staatsekretärin auf die Schriftliche Frage des Bundestagsabgeordneten Dr. Dietmar Bartsch im März 2022 zum Ausmaß der Kinderarmut in Deutschland. Arbeitsnummer 039. Berlin.

    Da Kinderarmut in Deutschland heute, wie gesagt, Armut in einem der reichsten Länder dieser Erde bedeutet, geht es in der Regel weniger um absolutes Elend und Verhungern, sondern mehr um Entbehrungen, Ausgrenzungen und Benachteiligungen im Verhältnis zum allgemeinen gesellschaftlichen Lebensstandard. Dabei können sich Diffamierungen und Stigmatisierungen sogar noch schmerzhafter als materielle Einschränkungen auswirken. Dennoch darf nicht vergessen werden, wie viele Hunderttausende Menschen inzwischen wieder in Deutschland wohnungs- oder obdachlos sind (laut Tagesschau.de v. 11.11.2019 über 678.000 Menschen, darunter um die 37.000 Jugendliche) und wie viele Menschen vom Flaschensammeln, Betteln oder von Tafeln leben müssen (vgl. Mehr als zwei Millionen Menschen suchen Hilfe bei der Tafel, in: Zeit.de v. 14.07.2022). Hunderttausende teilsanktionierte ALG II-Bezieher/innen und Zehntausende vollsanktionierte Hartz IV-Empfänger/innen (deren Grundsicherungsleistungen zu einem gewissen Anteil gekürzt oder vollständig gestrichen werden, um sie für ein Fehlverhalten zu bestrafen), darunter viele Jugendliche und Familien mit Kindern, für die tatsächlich absolute Armut – die Sorge um ein Dach über dem Kopf oder um Licht und Wärme in der Wohnung, Hunger, Mangel an Kleidung und medizinischer Versorgung – zum täglichen existenziellen Überlebenskampf gehören, werden seit Jahren allzu oft ignoriert. Etwa 80.000 Minderjährige lebten z.B. 2018 in teilsanktionierten ALG-II-Haushalten, und über 5.000 Kinder mussten ertragen, dass ihre sog. Bedarfsgemeinschaft vollsanktioniert wurde (d.h. die Grundsicherungsleistungen wurden zu 100 Prozent gekürzt; vgl. Tagesspiegel.de v. 21.11.2019).

    1.1 Wahrnehmung von und Haltung zu Armut sowie Ungleichheit

    Die Wahrnehmung und Bearbeitung von sozialer Ungleichheit und Armut in frühkindlichen Bildungseinrichtungen ist entscheidend für die Entwicklung und das Wohl vieler Kinder. Eine völlige Ignoranz der Problematik, wie im oben zitierten Beispiel, ist dabei in den letzten Jahren eher in den Hintergrund getreten. Stattdessen referieren viele Fachkräfte Standardsituationen in der Kita, die auf Unterversorgung des Kindes in verschiedenen Bereichen schließen lassen: Nicht wettergerechte Kleidung, oft morgens sehr hungrig; immer wieder Nahrung einsteckend und nach Hause mitnehmend. Eine erst mal nachvollziehbare, häufige und geläufige Reaktion einiger Fachkräfte besteht dann oft darin, ihr Unverständnis darüber kundzutun, da in anderen Marken- und Technikdingen das betroffene Kind und/oder seine Eltern oft recht gut ausgestattet zu sein scheinen. Die daraus manchmal abgeleitete vermutete Fehlversorgung wird dann gelegentlich mit dem Vorwurf mangelnder Elternkompetenz verbunden. In jedem Fall führt diese Herangehensweise erst mal dazu, dass die Probleme sozialer Ungleichheit und Armut individualisiert und den Betroffenen selbst zugeschrieben werden. Sie, die Eltern, sind die für viele Fachkräfte auf den ersten Blick sichtbaren, eigentlichen Verursacher der Schwierigkeiten ihrer Kinder und demnach letztlich selbst schuld daran. Dass die damit oft verbundenen verbalen und non-verbalen Zeichen des Mangels an Respekt und der Nicht-Anerkennung durch Professionelle, durch andere Eltern oder auch durch andere Kinder sehr schmerzhaft für von Armut belastete Kinder und Eltern sein können, wird mitunter übersehen. In jedem Fall sind sie für die betroffenen Kinder sehr belastend und wenig hilfreich, wie das folgende Beispiel zeigt:

    „Dalias Mutter erinnert sich an diese kleine Situation an der Garderobe der Kita, die möglicherweise davon zeugt: ‚Es gab so ein blondes Mädchen, die hatte in der Nähe von Dalia ihr Fach. Und Dalia hatte einen Einteiler als Schneeanzug, das andere Mädchen aber hatte einen Zweiteiler. Dann wurde Dalia echt fertiggemacht – wie, du kannst dir nur sowas leisten und nicht so, wie ich das habe. Das habe ich miterlebt, sie kam aus reicheren Verhältnissen. Dalia war total verdutzt.‘ In Elterngesprächen wurde der Mutter versichert, Dalia gehe es gut. Tanja L. selbst fand keine Freundinnen unter den Müttern der Kita, und das, obwohl sie offen und freundlich ist" (Iglesias/Wolter-Buhlmann 2019, S. 7).

    Als um die Jahreswende 1999/2000 Erzieher/innen in Ost- und Westdeutschland gefragt wurden, welche Wesenseigenschaft sie bei ihren Kita-Kindern mit Armut in Verbindung sähen, antworteten über die Hälfte der Befragten eines Forschungsprojekts in Ost wie West „Asozialität. Jenseits der Frage, ob diese Be- bzw. Verurteilung der betroffenen Kinder nicht schon stigmatisierenden Charakter hat, verwechselten sie dabei durch eine verhaltenszentrierte Wahrnehmung womöglich Erscheinungsformen und Wesen der problematischen Lebenslage (Frühauf/Zeng 2001, S. 374f.). Hierbei geht es um die konkrete Beobachtung einer Situation, in der ein Kind als „arm wahrgenommen wird – und der Interpretation dieser Situation, bei der dem Kind selbst Charaktereigenschaften zugeschrieben werden, wie „nicht normal oder „asozial zu sein. Deshalb ist es wichtig, nach der jeweiligen Wahrnehmung von Kinderarmut bzw. deren Erscheinungsformen zu fragen und die eigene Haltung dazu selbstkritisch zu hinterfragen. Die bisherigen Forschungsergebnisse unterstreichen immer wieder, wie wichtig es ist, Armut als mehrdimensionales Phänomen zu betrachten (vgl. Böhnke/Dittmann/Goebel 2018, S. 17ff.). Das Verständnis für die unterschiedlichen Ursachen und Folgen von Armut bzw. Unterversorgung auch oder gerade bei Kindern ist bei vielen Erzieher(inne)n und Lehrer(inne)n womöglich (noch) nicht so ausgeprägt, wie es für ein problemadäquates Umgehen damit erforderlich wäre. Auch nehmen einige Pädagog(inn)en immer noch die materielle Unterversorgung bzw. Armut der Kinder – selbst bei Sozialhilfebezug – meist gar nicht als solche wahr (vgl. Bertz/Rössel/Siebert 1998, S. 80). Aufgrund ihrer eigenen Mittelschichtorientierung fehlen Pädagog(inn)en häufig einschlägige Erfahrungen. Sie verweisen bei Formen von Armut auf die Vernachlässigung und ungenügende Förderung seitens der Eltern. Auch durchaus wohlmeinende Erzieher/innen neigen dazu, vor allem die Eltern für das Schicksal der Kinder verantwortlich zu machen. Dies deckt sich mit der genannten Studie zur Wahrnehmung und Deutung von Kinderarmut bzw. deren Folgen bei Mitarbeiter(inne)n in Kindertagesstätten in Ost- und Westdeutschland. So hatten etwa die bereits angesprochenen, befragten Erzieher/innen in Erfurt und Mainz in der Regel eine verhaltenszentrierte Wahrnehmung, bei der die Gründe für auffälliges Verhalten von Kindern kaum reflektiert wurden – für viele Befragte bestand die Eigenschaft armer Kinder – wie gesagt – in deren „Asozialität" (vgl. Frühauf/Zeng

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