Jedes Verhalten hat seinen Sinn: Herausfordernden Kindern in der KiTa begegnen
Von Verlag Herder
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Über dieses E-Book
Es wird gezeigt wie sich Zugänge zum Kind finden lassen, z.B. durch ressourcenorientierte Entwicklungsbegleitung oder Resilienz. Darüber hinaus werden praktische Impulse gelingender Grenzsetzung und Selbstfürsorge für pädagogische Fachkräfte im Kita-Alltag dargestellt.
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Buchvorschau
Jedes Verhalten hat seinen Sinn - Verlag Herder
Kindliches Verhalten im Kontext
Entwicklung und Kultur – Variabilität und Kontextabhängigkeit von Verhalten
Bettina Lamm
Bei der Beschäftigung mit auffälligem oder herausforderndem Verhalten von Kindern liegt die Frage nach der Entwicklung solcher Verhaltensweisen nahe. Um das kindliche Verhalten zu verstehen und Veränderungen herbeizuführen, streben wir nach Erkenntnissen über die Entstehungsbedingungen und mögliche Ursachen. Diese sind jedoch nicht als lineare Wirkungsketten abzubilden, sondern reflektieren vielmehr ein multikausales Bedingungsgefüge aus genetischen und Umweltfaktoren, die sich wechselseitig beeinflussen. Dabei basieren »normale« und abweichende Entwicklung grundsätzlich auf den gleichen Entwicklungsprinzipien (vgl. Pinquart 2011). Derselbe Risikofaktor kann, in Abhängigkeit von den sonstigen Bedingungen, sowohl zu abweichendem Verhalten führen oder auch wirkungslos bleiben. Ebenso kann dasselbe (abweichende) Verhalten über viele unterschiedliche Entwicklungswege entstehen. »Normale« und abweichende Entwicklung sind dabei auf einem Kontinuum angesiedelt und nicht kategorial voneinander abzugrenzen.
In diesem Beitrag soll daher der Fokus auf die enorme Bandbreite und Variabilität von Entwicklungsverläufen gerichtet werden. Dabei werden die Einflüsse individueller Voraussetzungen und vielfältiger Umwelten sowie der Normerwartungen der sozio-kulturellen Umwelt auf die Entwicklung in den Blick genommen. Insbesondere letztere beeinflussen schließlich maßgeblich, was wir als normale Entwicklung auf diesem Kontinuum betrachten.
Entwicklung als kulturspezifische Lösung universeller Entwicklungsaufgaben
Nach Keller und Kärtner (2013) verstehen wir den Lebenslauf als Abfolge universeller Entwicklungsaufgaben, die sich im Laufe der Evolution herausgebildet haben und als überlebenswichtig und entwicklungsförderlich anzusehen sind. Dazu zählen beispielsweise in den ersten Lebensjahren der Erwerb des aufrechten Ganges, das Erlernen von Sprache und der Aufbau von sozialen Beziehungen. Mit diesen Aufgaben sehen sich alle Kinder auf der Welt konfrontiert. Zur Bewältigung dieser Aufgaben sind sie mit einem universellen Verhaltensrepertoire ausgestattet (z. B. Reflexe oder Lernmechanismen). Aus dem Zusammenspiel der genetischen Veranlagung eines Kindes und den jeweiligen Umweltbedingungen, in denen es aufwächst, ergibt sich der individuelle Entwicklungsverlauf. So lassen sich trotz Universalität der Aufgaben große Unterschiede beobachten – hinsichtlich des Zeitpunktes und der Abfolge, wann eine bestimmte Aufgabe bearbeitet und gelöst wird, sowie hinsichtlich der Art und Weise, wie sie bewältigt wird.
Besonderen Einfluss auf die Entwicklung nimmt der öko-kulturelle Kontext, in dem ein Kind aufwächst. Die ökologischen Umgebungsbedingungen und kulturellen Gegebenheiten charakterisieren dabei die Anforderungen, die sich an das Leben der Kinder stellen. Bestimmte Verhaltensweisen und Strategien aus dem universellen Repertoire erweisen sich in diesem Rahmen als geeigneter zur Bearbeitung und Lösung einer jeweiligen Entwicklungsaufgabe als andere. Die Lösung einer Entwicklungsaufgabe beeinflusst die Bearbeitung nachfolgender Entwicklungsaufgaben. So lässt sich Entwicklung als »kulturinformierter Pfad« entlang universeller Entwicklungsaufgaben beschreiben (vgl. Keller & Kärtner 2013).
Variabilität von Entwicklungsverläufen
Der Zeitpunkt, wann bestimmte Entwicklungsmeilensteine erreicht werden, und ihre Abfolge variieren individuell und kulturell. Besonders anschaulich lässt sich das an der motorischen Entwicklung nachzeichnen. So beschreibt der Pädiater Remo Largo (2006) an einer Stichprobe Schweizer Babys und Kleinkinder beispielsweise, dass das Zeitfenster für die ersten freien Schritte zwischen neun und 19 Monaten liegt. Darüber hinaus konnte der Entwicklungsneurologe Richard Michaelis (2006) darlegen, dass auch bezüglich der Abfolge der motorischen Meilensteine bis zum freien Gehen große Varianz besteht. Nur etwa ein Viertel der Kinder absolvierte in seiner Untersuchung die nach geltender Lehrmeinung feststehende Abfolge von Vorläuferfähigkeiten auf dem Weg zum freien Gehen. Die überwiegende Mehrheit der Kinder durchlief ganz individuelle Entwicklungswege (mit alternativen Abfolgen, Auslassungen einzelner Schritte oder eigenen Zwischenschritten jenseits der vermeintlich allgemeingültigen Vorläuferfähigkeiten). Auf das Entwicklungsergebnis »freies Gehen« hatten diese unterschiedlichen Wege jedoch keinen Einfluss. Am Ende konnten alle Kinder problemlos laufen, unabhängig davon, ob sie zuvor gekrabbelt, gerobbt, auf dem Po gerutscht waren oder keine dieser Verhaltensweisen gezeigt hatten.
Kulturvergleichende Untersuchungen zur motorischen Entwicklung offenbaren ebenfalls große Variabilität. So zeigte die Studie von Lohaus und KollegInnen (2011), dass nahezu alle Nso-Kinder im Nordwesten Kameruns mit sechs Monaten frei sitzen können (98,6 Prozent), was hingegen nur ca. 12 Prozent der gleichaltrigen Kinder einer Vergleichsgruppe der deutschen Mittelschicht beherrschen. Letztere wiederum können sich in diesem Alter mehrheitlich selbständig vom Rücken auf den Bauch drehen (54 Prozent), was jedoch lediglich 11 Prozent der Nso-Kinder schaffen. Die Studie stellt damit die häufig zitierte vermeintliche Frühreife afrikanischer Babys gegenüber euro-amerikanischen Entwicklungstabellen in Frage. Ein genereller Entwicklungsvorsprung der einen oder anderen kulturellen Gruppe lässt sich nämlich nicht bestätigen. Vielmehr scheint in jedem öko-kulturellen Umfeld durch unterschiedliche Lebensumstände sowie kulturell variierende motorische Erfahrungen und Trainingsstrategien die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten besonders gefördert. Deutsche Babys verbringen in den ersten Lebensmonaten viel Zeit im Liegen im Kinderwagen, Bettchen oder auf Krabbeldecken und haben somit viel Gelegenheit zur freien selbständigen Bewegung und auch zu Drehversuchen. Derweil sind Nso-Babys fast immer auf dem Schoß oder im Tragetuch einer Bezugsperson und somit meist in einer aufrechten Position, die die für das Sitzen nötige Rückenmuskulatur trainiert.
Kulturelle Überzeugungen
Nicht allein die ökologischen Gegebenheiten oder die Verfügbarkeit von Babyausstattungsgegenständen bestimmen die Alltagsroutinen, die die Kinder in verschiedenen kulturellen Umgebungen erleben. Auch und insbesondere die Vorstellungen darüber, was Babys und Kindern guttut und wie sie sich gut entwickeln können, beeinflussen die kindliche Entwicklungsumgebung und die Verhaltensweisen der Bezugspersonen. So können sehr unterschiedliche Entwicklungsbereiche (z. B. sprachliche, kognitive, soziale oder motorische Entwicklung) im Fokus stehen. Innerhalb der Entwicklungsbereiche können bestimmte Fähigkeiten besonders gefördert werden, während andere nicht beachtet oder möglicherweise gar explizit verzögert werden. Beispielsweise werden deutsche Eltern von ExpertInnen darin bestärkt, dass Babys viel liegen, zur selbstständigen Bewegung animiert und auf keinen Fall hingesetzt werden sollten, solange sie diese Position nicht von selbst erreichen. Nso-Mütter hingegen halten zu viel Liegen für äußerst gefährlich, da es eine Steifheit der Gelenke und Schwächung des Rückens mit sich bringe. Sie beschreiben ausgefeilte Techniken, wie durch motorisches Training und Körperstimulationen die motorische Entwicklung zu unterstützen ist (vgl. Keller 2011) und setzen ihre Babys in mit Kissen abgepolsterte Wannen, Eimer oder Erdlöcher, um das Sitzen zu trainieren. Mütter im ländlichen Gujarat in Indien wiederum stellen ihre Babys bereits in den ersten Lebensmonaten häufig auf die Füße, während sie das Hinsetzen und damit verbundene Abknicken im Becken strikt ablehnen. Hintergründe dieser Überzeugungen sind oftmals kulturspezifische Erklärungsmuster und zum Teil auch spirituelle Konzepte. Aus der gezielten Beschleunigung oder Hemmung bestimmter Fähigkeiten lässt sich aber auch ein gewisser Anpassungswert z. B. zur Entlastung der Bezugspersonen oder zum Schutz vor Gefahren