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Mein Bruder Yves
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eBook362 Seiten4 Stunden

Mein Bruder Yves

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Über dieses E-Book

Als Angehöriger der französischen Kriegsmarine lernte Julien Viaud Weltmeere und Kontinente kennen, als Pierre Loti formte er aus seinen Erlebnissen eine Fülle von Romanen und Reiseberichten, die den Leser nach Konstantinopel, Palästina, Marokko und bis nach Japan und China führen.
In seinem frühen Roman Mein Bruder Yves (1883) geht es um ferne Länder nur am Rande; im Zentrum steht das Leben auf dem Schiff und die besondere Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und Yves Kermadec, dem »geschicktesten, seetüchtigsten Mann« an Bord, der jedoch an Land dem Teufel Alkohol nicht entrinnen kann. Seine Schönheit – er ist »groß, schlank wie eine Antike, mit muskulösen Armen, dem Hals und den Schultern eines Athleten« – fasziniert den Erzähler. Er sieht es als seine Aufgabe an, Yves vor seiner eigenen Zügellosigkeit zu schützen, hat dies auch Yves' Mutter versprochen.
Der autobiografische Hintergrund des Romans ist besonders deutlich. Die beiden fast gleichaltrigen, aber vom Temperament und von der sozialen Stellung her ungleichen Männer verband eine lebenslange Freundschaft, von der diverse Notate, Briefe und Fotos Zeugnis ablegen; der auch zeichnerisch begabte Pierre Loti imaginierte seinen »Bruder« dabei auch als nackten keltischen Heroen in mythischer Landschaft.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Jan. 2023
ISBN9783863000998
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    Buchvorschau

    Mein Bruder Yves - Pierre Loti

    I

    Das Führungsbuch meines Bruders Yves gleicht allen anderen Büchern anderer Seeleute. Es hat einen Umschlag von gelbem, pergamentartigem Papier, und da es in verschiedenen Schiffskasten viel auf dem Meere herumgereist ist, sieht es schlecht genug aus. Mit großen Buchstaben steht auf dem Umschlag:

    KERMADEC, 2091. P.

    Kermadec ist sein Familienname, 2091 seine Nummer in der Marine und P. der Anfangsbuchstabe seines Gestellungsortes: Paimpol.

    Schlägt man es auf, so findet man auf der ersten Seite folgende Angaben:

    Kermadec (Yves-Marie), Sohn des Yves-Marie und der Jeanne Danveoch. Geboren am 28. August 1851 in Saint-Pol-de-Léon (Finistère). Größe 1 m 80. Haare kastanienbraun, Augenbrauen kastanienbraun, Augen gelblichgrau, Nase mittel, Kinn gewöhnlich, Stirn gewöhnlich, Gesicht oval.

    Besondere Kennzeichen: Die linke Brust zeigt die Tätowierung eines Ankers, das rechte Handgelenk die eines Armbands mit einem Fisch.

    Diese Tätowierungen waren vor etwa zehn Jahren unter den echten Seeleuten noch Mode. An Bord der »Flore« von der Hand eines dienstfreien Kameraden ausgeführt, sind sie für Yves zu einem Gegenstande der Verzweiflung geworden, und mehr als einmal schon hatte er sich vergeblich abgequält, sich von ihnen zu befreien. Der Gedanke, auf eine unvertilgbare Weise gezeichnet zu sein und immer und überall an diesen kleinen blauen Bildern erkannt zu werden, war ihm unerträglich.

    Blättert man weiter, so findet man eine Reihe bedruckter Seiten, welche kurz und bestimmt die Vergehen aufzählen, die unter Matrosen üblich sind, mit den darauf stehenden Strafen – von den leichtesten Übertretungen an, die mit ein paar in Eisen verbrachten Nächten bestraft werden, bis zu den schweren Widersetzlichkeiten, auf denen Todesstrafe steht.

    Leider hat die tägliche Lektüre dieser Strafbestimmungen nicht genügt, unserem Freunde Yves, wie allen übrigen Seeleuten auch, den beabsichtigten heilsamen Schrecken einzuflößen.

    Es folgen sodann einige beschriebene Seiten, welche die Namen von Schiffen, mit blauen Siegeln, den Zeichen und Zeitangaben enthalten. Die Schiffsschreiber, Leute von Geschmack, haben diesen Teil mit eleganten Namenszügen geschmückt. Hier stehen seine Seefahrten verzeichnet und die Löhne, die er dafür erhalten hat.

    Zuerst kamen Jahre, in denen er fünfzehn Franken monatlich bezog, von welchen er zehn für seine Mutter zurücklegte; Jahre, die er, die Brust den Winden preisgegeben, halbnackt, hoch oben auf den großen, schwankenden Masten verbrachte und sorglos die wechselvolle Wüste des Meeres durchirrte; hierauf kamen bewegtere Jahre, in denen die Liebe erwachte und Gestalt in der noch jungfräulichen, naturwüchsigen Seele gewann, um sich bald in Träumen naiver Unschuld, bald in den brutalsten Ausschweifungen zu entladen, je nach dem Ort, an den der Wind ihn gerade hintrieb, und je nach den Frauen, die ihm der Zufall in die Arme warf; furchtbares Erwachen, mächtiger Aufruhr des Herzens und der Sinne, denen die Rückkehr zu dem enthaltsamen Leben des weiten Meeres, zu der Abgeschlossenheit des fliegenden Klosters folgte. Dies alles ist hinter diesen Zahlen, Namen und Zeitangaben verborgen, die sich von Jahr zu Jahr in dem armseligen Führungsbuch eines Seemannes anhäufen. Ein ganzes, großes, fremdartiges Gedicht von Abenteuern und Elend ist in diesen vergilbten Blättern enthalten.

    II

    Der 28. August 1851 war, wie es scheint, zu Saint-Pol-de-Léon in Finistère ein schöner Sommertag.

    Die bleiche Sonne der Bretagne lächelte festlich auf den kleinen neuen Ankömmling herab, der einst die Sonne und die Bretagne so lieb gewinnen sollte.

    Yves trat in die Welt in Gestalt eines großen, ganz runden und ganz braunen Kindes. Die bei seiner Ankunft gegenwärtigen Frauen nannten ihn Bugel-du, was in unsrer Sprache soviel wie kleiner schwarzer Kerl heißt. Es war übrigens die Familienfarbe, dieses Bronzebraun, da die Kermadecs seit langem von Vater auf Sohn Seeleute und dem Sonnenbrand des Meeres ausgesetzt waren.

    Ein schöner Sommertag zu Saint-Pol-de-Léon ist eine seltene Sache in diesem Landstrich der dicken Nebel. Eine Art schwermütigen Glanzes ist dann über alles gebreitet; die alte, mittelalterliche Stadt wie aus ihrem tiefen Nebelschlafe geweckt und verjüngt; der alte Granit erwärmt sich dann an der Sonne; der Glockenturm Creizker, der Riese der bretonischen Glockentürme, badet im vollen Lichte des blauen Himmels seine feinen, grauen, von gelben Flechten durchäderten Ausschnitte. Und ringsumher haucht die wilde Heide mit ihrem rötlichen Heidekraut und ihrem goldgelben Ginster einen zarten Blütenduft aus.

    Bei der Taufe nahm ein junges Mädchen und ein Matrose Patenstelle ein und hinter ihnen reichten die beiden kleinen Brüder, Goulven und Gildas, ihren beiden kleinen Schwestern, Yvonne und Marie, mit Blumensträußen die Hand.

    Als der Zug in die alte Kirche der Bischöfe von Léon trat, hielt der an dem Glockenstrange hängende Küster sich schon bereit, mit dem fröhlichen Glockenspiel, wie es die Veranlassung forderte, zu beginnen. Der herzutretende Pfarrherr rief ihm jedoch mit harter Stimme zu: »Verhalte dich um Gottes willen ruhig, Marie Bervrac’h! Diese Kermadecs sind Leute, die der Kirche nie ein Opfer spenden. Und der Vater trägt alles ins Wirtshaus. Für diese Sorte Menschen haben wir unser Geläute nicht, verstehst du!«

    Und so kam es, daß mein Bruder Yves seinen Einzug auf dieser Erde wie ein Gemeindearmer hielt.

    Jeanne Danveoch horchte von ihrem Bette mit Unruhe auf und lauerte mit schlimmem Vorgefühl auf die ehernen Schwingungen, die immer noch ausblieben. Sie horchte lange und hörte nichts, sie begriff diese öffentliche Beschimpfung und weinte.

    Ihre Augen waren ganz in Tränen gebadet, als die Taufgesellschaft betreten heimkehrte.

    Diese Demütigung bedrückte Yves lebenslang das Herz; er vermochte den schlechten Empfang, den man ihm beim Eintritt in die Welt bereitet hatte, nie zu vergeben, noch die grausamen Tränen, die seine Mutter darüber vergoß; er trug der römischen Geistlichkeit deshalb einen unvergeßlichen Groll nach und verschloß unserer Mutter Kirche sein bretonisches Herz.

    III

    Vierundzwanzig Jahre später, an einem Dezembertag in Brest.

    Der Regen fiel fein, kalt, durchdringend und ununterbrochen; er rieselte über die Mauern, indem er die hohen Schieferdächer, die hohen Granithäuser noch schwärzer färbte und wie zum Vergnügen sich auf die lärmende Menge des Sonntags ergoß, die nichtsdestoweniger, durchnäßt und beschmutzt, sich in der traurigen grauen Dämmerung durch die engen Straßen drängte.

    Diese Menge bestand aus betrunkenen Matrosen, die sangen, aus Soldaten, die, über ihre Säbel stolpernd, einen klirrenden Lärm machten, dazwischen drängten sich Leute aus dem Volke – Arbeiter der großen Stadt, mit abgespannten, bleichen Gesichtern, Weiber in kleinen wollenen Shawls und spitzen Musselinhauben, mit brennenden Blicken und hochgeröteten Wangen, einen Branntweingeruch um sich her verbreitend, greise Männer und Frauen, im Zustand ekler Trunkenheit, die, nachdem sie gefallen waren, und sich wieder aufgerafft hatten, kotbedeckt weiter taumelten.

    Der Regen fiel und fiel, alles durchnässend, die bretonischen Hüte mit Silberschnallen, die übers Ohr gezogenen Mützen der Matrosen, die betreßten Tschakos, die weißen Hauben und Regenschirme.

    Die Luft war so trübe und lichtlos, daß man sich nicht vorstellen konnte, es gäbe irgendwo eine Sonne. Man hatte das Bewußtsein davon ganz verloren. Man fühlte sich wie gefangen in den Niederschlägen und dem Dunste der großen feuchten Wolken, die alles überströmten; es schien kaum möglich, daß sie sich je wieder teilten und sich ein Himmel dahinter befände. Man atmete Wasser. Man wußte nicht mehr, welche Zeit am Tage es wäre, und ob diese Dunkelheit nur vom Regen herrührte oder die wirkliche Winternacht schon hereingebrochen sei.

    Die Matrosen brachten mit ihren offenen Gesichtern und ihren Gesängen, mit ihren großen hellen Kragen und ihren roten, vom Marineblau ihres Anzugs scharf abstechenden Litzen einen Ton übermütiger Jugend und Fröhlichkeit in diese Gassen hinein. Sie gingen und kamen von Schenke zu Schenke, alles beiseite stoßend und von unsinnigen Dingen schwatzend, über die sie unbändig lachten. Oder sie stellten sich wohl auch unter den Dachrinnen vor die Schaufenster aller der Läden, wo Sachen, wie sie sie gebrauchten, verkauft wurden: rote Tücher, die in der Mitte mit schönen Schiffen bedruckt waren, welche den Namen »La Bretagne«, »La Triomphante« oder »La Dévastation« führten; Bänder für ihre Mützen mit schönen goldenen Inschriften; kleine, kunstvoll verschlungene Seilerarbeiten, womit sie die Leinwandsäcke zu verschließen pflegten, in denen sie ihre geringe Habe an Bord bewahrten; elegante Knüpfarbeiten aus gedrehten Schnüren, an denen die Marsgasten sich ihre großen Messer um den Hals hängen; silberne Pfeifchen für die Bootsmaaten, und endlich rote Gürtel, kleine Kämme und Spiegel.

    Von Zeit zu Zeit kamen heftige Windstöße, welche die Mützen mit in die Luft nahmen und die Betrunkenen ins Schwanken brachten, und der Regen fiel dann noch dichter und rascher und peitschte wie Hagel.

    Die Zahl der Matrosen wuchs immer mehr. Man sah sie truppweise in die Siamstraße strömen; sie kamen vom Hafen und aus der unteren Stadt die großen Granittreppen herauf und verbreiteten sich singend in den Gassen.

    Die von der Reede kamen, waren noch nässer, als die andern, noch mehr vom Regen und Seewasser übergossen. Ihre kleinen Segelboote, von den kalten Windstößen ganz auf die Seite gelegt, hatten sie, auf den schaumbedeckten Wellen dahinspringend, im Fluge nach dem Hafen gebracht. Und sie stiegen lustig die in die Stadt führenden Treppen hinauf, während sie sich wie begossene Katzen schüttelten.

    Der Wind stürzte in die langen grauen Gassen herein und kündigte eine böse Nacht an.

    Auf der Reede – an Bord eines am Morgen von Amerika angekommenen Schiffs – hatte mit dem Glockenschlag vier ein Bootsmann das Zeichen mit einem langen, schrillen Pfiff gegeben, dem kunstvolle Triller folgten, was in der Seesprache hieß: »Die Schaluppe bereit!« Worauf ein Freudengemurmel durch das Schiff ging, auf dem die Matrosen wegen des Regens unter der Kuhbrücke zusammengepfercht standen. Man hatte nämlich eine Zeitlang gefürchtet, daß das Meer zu hoch ginge, um nach Brest gelangen zu können, und man wartete mit Ungeduld auf das Zeichen, das die Frage entschied. Nach einer Fahrt von drei Jahren sollte man zum erstenmal wieder den Fuß auf französische Erde setzen, und die Ungeduld war daher groß.

    Als die diensthabenden Männer alle in ihren kleinen Anzügen von strohgelbem Wachstuch die Schaluppe bestiegen und ihre Sitze in vorschriftsmäßiger und symmetrischer Anordnung auf den Bänken eingenommen hatten, pfiff derselbe Bootsmann aufs neue und rief: »Die Beurlaubten zum Appell!«

    Der Sturm und das Meer brausten, die Reede war ganz in einen weißlichen Nebel gehüllt, in dem der Regen mit dem aufspritzenden Wasser der Wellen zusammenfloß.

    Die beurlaubten Matrosen kamen eiligst aus ihren Luken hervor und stellten sich auf Deck der Reihe nach, wie man sie bei ihrer Nummer und ihrem Namen gerufen hatte, auf, die Gesichter glühend vor Freude, Brest wiederzusehen. Sie hatten ihre schönen Sonntagskleider angelegt und gaben unter strömendem Regen ihrer Toilette noch den letzten Schliff, sich einander mit einer Art von Koketterie dabei helfend.

    Als man »218 Kermadec!« rief, trat Yves in ernster Haltung hervor, ein großer Bursche von vierundzwanzig Jahren, den sein gestreifter Anzug mit dem breiten blauen Kragen gut kleidete.

    Groß, schlank wie eine Antike, mit muskulösen Armen, dem Hals und den Schultern eines Athleten, machte seine Erscheinung im ganzen den Eindruck stiller, doch selbstbewußter Kraft. Das Gesicht zeigte unter einer gleichmäßig vom Wetter gebräunten Hautfarbe etwas unerklärbar Bretonisches mit einem Anfluge von arabischem Teint. Seine Rede mit dem Accente von Finistère war kurz; die tiefe Stimme vibrierte auf eine ganz eigentümliche Weise, wie Instrumente von mächtigem Klang, die man kaum zu berühren wagt, aus Furcht vor dem Lärm, den sie machen. Die gelblichgrauen Augen standen etwas eng aneinander und lagen ziemlich tief unter den geschwungenen Brauen mit einem unveränderlichen Ausdruck des nach innen gerichteten Blicks; die Nase war sehr fein und regelmäßig, die untere Lippe stand, wie mit einem Ausdruck von Verachtung, etwas vor.

    Sein Gesicht war unbeweglich, wie von Marmor, ausgenommen in den seltenen Augenblicken, da ein Lächeln erschien. Dann veränderte sich alles und man bemerkte, daß Yves sehr jung war. Das Lächeln derer, welche gelitten haben, ist von kindlicher Sanftheit und durchleuchtet die harten Züge, fast wie die Strahlen der Sonne, die gelegentlich auf die bretonischen Klippen fallen.

    Als Yves erschien, sahen ihn die anderen Seeleute, die zugegen waren, mit wohlwollendem Lächeln und einem ungewohnten Grade von Achtung an.

    Es war, weil er zum erstenmal auf seinem Ärmel die doppelten roten Streifen der Bootsmaaten trug, die man ihm eben verliehen hatte. Und an Bord hat ein Maat des Takelwerks etwas zu bedeuten. Diese armseligen wollenen Streifen, die in der Landarmee so schnell an den ersten besten erteilt werden, stellen in der Marine lange Jahre des Elends dar, die Kraft und das Leben junger Männer, die sie zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, dort oben im Mastwerk, diesem Reich der Marsgasten, von allen Winden des Himmels geschüttelt, verbrauchen. Der Oberbootsmann, der sich genähert hatte, reichte Yves die Hand. Er war ja auch einst ein Marsgast bei harter Arbeit gewesen, und wußte, was starke, mutige Männer bedeuten.

    »Nun, Kermadec«, sagte er, »werden jetzt diese Streifen begossen werden?«

    »Gewiß«, erwiderte Yves mit tiefer Stimme, ohne sein ernstes, träumerisches Wesen zu verändern.

    Es war aber nicht das Wasser der Wolken, von dem der alte Seemann sprach, denn, was dieses betraf, so war das Begießen ja sicher. Nein, in der Schiffssprache versteht man unter dem Begießen der Abzeichen, sich ihnen zu Ehren den ersten Tag, an dem man sie trägt, einen Rausch zu holen.

    Die Notwendigkeit dieser Feier hatte Yves nachdenklich gemacht, weil er mir nur eben erst das heilige Versprechen abgelegt hatte, sich nie wieder zu betrinken, und er dieses Versprechen auch zu halten wünschte.

    Und dann hatte er nachgerade auch diese Schenkscenen satt, die sich in allen Teilen der Welt wiederholten. Sich während der Nächte an der Spitze der unbändigsten Trunkenbolde in allen schmutzigen Löchern herumzutreiben und sich des Morgens von den Rinnsteinen auflesen zu lassen – ist ein Vergnügen, dessen man, so sehr man Matrose ist, doch endlich müde wird. Auch ist der folgende Tag immer scheußlich und sie gleichen sich alle. Das wußte Yves recht gut und wollte davon nichts mehr wissen.

    Es war sehr finster, dieses Dezemberwetter, für einen Tag der Heimkehr. So sorglos und jung man auch war, so warf dieses Wetter doch auf die Freude der Rückkunft eine Art schwarzer Nacht. Yves empfand diesen Eindruck, der ihm unwillkürlich ein trauriges Staunen verursachte; denn dieses alles war doch schließlich seine Bretagne. Er fühlte sie in der Luft und erkannte sie selbst noch an dieser traumhaften Dunkelheit.

    Die Schaluppe stieß ab und trug alle ans Land. Ganz vom Westwinde zur Seite gelegt, fuhr sie dahin, von Welle sprang sie zu Welle mit dem hohlen Ton einer Trommel, und bei jedem Sprung, den sie machte, stürzte eine Masse Seewasser über sie hin, wie von wütenden Händen geworfen.

    Sie fuhren sehr rasch in einer Art Wasserwolke, deren große salzige Tropfen ihnen ins Gesicht peitschten. Sie hielten dieser Sintflut mit gesenkten Köpfen stand, einer eng an den andern gedrückt, wie die Schafe es beim Gewitter tun.

    Keiner sprach ein Wort, obschon sie ganz von der Erwartung der Vergnügungen erfüllt waren. Es gab junge Leute darunter, welche seit einem Jahre den Fuß nicht mehr ans Land gesetzt hatten; ihre Taschen waren ohne Ausnahme mit Gold gefüllt und heiße Begierden kochten in ihrem Blute.

    Auch Yves dachte ein wenig an jene Weiber, die in Brest ihrer warteten und unter denen man nur zu wählen brauchte. Doch gleichviel, er allein war traurig. Noch niemals hatten so viele Gedanken auf einmal den Kopf dieses armen Verlassenen bestürmt.

    Schon manchmal hatte er wohl in der Stille der Meernächte solche schwermütige Anwandlungen gehabt, dann aber war ihm die Heimkehr von dort unten immer in goldigen Farben erschienen. Und jetzt war diese Heimkehr doch da, und sein Herz zog sich im Gegenteil mehr als jemals zusammen. Das begriff er nun nicht, da er wie die Einfältigen und Kinder gewöhnt war, die Eindrücke hinzunehmen, ohne sie sich zu erklären.

    Den Kopf gegen den Sturm gewendet, unbekümmert um das Wasser, das auf seinen blauen Kragen niederströmte, stand er da, nur von der Gruppe Matrosen, die ihn umdrängten, aufrecht gehalten.

    Die ganze Küste um Brest, die man in ungewissen Umrissen durch die Schleier des Regens erblickte, sandte ihm Erinnerungen seiner Schiffsjungenjahre herüber, die er auf dieser großen, nebelreichen Reede in Sehnsucht nach der Mutter verbracht hatte. Wie hart war diese Vergangenheit, und jetzt, das erste Mal seit er lebte, dachte er auch an das, was die Zukunft wohl bringen würde.

    Die Mutter! Wohl war es wahr, daß er ihr seit bald zwei Jahren nicht mehr geschrieben hatte. Allein die Matrosen machen es so, und trotz allem lieben sie sie doch so sehr, ihre Mutter! Das macht die Gewohnheit, man verschwindet für Jahre, und dann, eines glücklichen Tags, kommt man unangemeldet mit Litzen am Ärmel zurück, mit vielem sauer verdientem Geld, Freude und Wohlstand in der armen, einsamen Wohnung verbreitend.

    Sie fuhren noch immer in dem eisigen Regen, auf den grauen Wellen einherspringend, verfolgt von dem Pfeifen des Windes und dem wilden Brausen des Wassers.

    Yves dachte an viele Dinge, und seine starrenden Augen unterschieden nichts mehr. Das Bild seiner Mutter hatte plötzlich eine unendliche Sanftheit gewonnen; er fühlte sie so nah, in jenem kleinen bretonischen Dorfe, in derselben winterlichen Dämmerung, die auch ihn umfing; noch zwei oder drei Tage und mit welcher Freude würde er sie überraschen und umarmen können!

    Die Stöße des Meeres, die schnelle Fahrt und der Wind verhinderten den stetigen Gang seiner Gedanken, die hin und her sprangen. Nun empfand er wieder peinlich, seine Heimat bei so trübem Wetter wiederzusehen. Da unten hatte er sich an die Hitze und die blaue Klarheit der tropischen Gegenden gewöhnt, und hier schien es ihm, als ob ein Leichentuch finstere Nacht über die Erde würfe.

    Und dann bestärkte er sich in seinem Vorsatz, nicht mehr zu trinken; nicht, daß es gerade etwas Böses wäre – sei es doch die Gewohnheit aller bretonischen Seeleute! – aber er hatte es ernstlich versprochen – und dann ist man mit vierundzwanzig Jahren doch ein erwachsener Bursche, man ist von manchen Dummheiten zurückgekommen, man fühlt, wie es scheint, das Bedürfnis, etwas gesetzter zu werden.

    Er stellte sich dann die erstaunten Mienen der anderen an Bord, besonders seines großen Freundes Barrada, vor, wenn sie ihn morgen früh aufrecht und gerade zurückkommen sähen. Bei dieser drolligen Vorstellung sah man plötzlich über sein männliches, strenges Gesicht ein kindliches Lächeln gleiten.

    Sie waren jetzt fast beim Schlosse von Brest angekommen, und unter dem Schutze der ungeheuren Granitmassen wurde es jählings ruhig. Die Schaluppe tanzte nicht mehr, sie fuhr still unter dem Regen hin; die Segel wurden eingezogen und die Männer im gelben Wachstuch fuhren nun mit den taktmäßigen Schlägen ihrer großen Ruder weiter.

    Vor ihnen öffnete sich die tiefe, schwarze Bucht, die den Kriegshafen bildet. Auf den Quais standen Reihen von Geschützen und andere zum Seedienst gehörige Dinge von furchtbarem Aussehen. Man sah nichts als endlose Baulichkeiten von Granit, die, alle einander gleich, das schwarze Wasser überragten und sich übereinander auftürmten mit ihren regelmäßigen Reihen von kleinen Türen und Fenstern. Darüber zeigten noch die ersten Häuser von Brest und von Recouvrance ihre feuchten Dächer, aus denen kleine weiße Rauchwolken hervorbrachen; man sah ihnen ihr kaltes, feuchtes Elend an, und der Wind drang überall mit traurigem Sausen dazwischen.

    Die Nacht brach nun völlig herein und die kleinen Gasflammen fingen an, ihre gelben Brillanten auf die grauen Steinmassen zu heften. Die Matrosen hörten bereits das Rollen der Wagen und den Lärm der Stadt, der ihnen von oben, über das leerstehende Arsenal, mit dem Gesang der Betrunkenen entgegenkam.

    Yves hatte aus Klugheit an Bord seinem Freunde Barrada alles Geld, das er für seine Mutter bestimmt hatte, anvertraut, und nur fünfzig Franken für die Nacht in der Tasche behalten.

    IV

    »Und mein Mann, Madame Quéméneur, schläft ebenfalls, die ganze Zeit über, wenn er betrunken ist.«

    »Sie machen sich also mit auf den Weg, Madame Kervella?«

    »Ich erwarte ja doch auch meinen Mann, der heute auf dem ›Catinat‹ angekommen ist!«

    »Und der meine, Madame Kerdoncuff, als er von China zurückgekommen war, schlief zwei volle Tage durch. – Und ich hatte mich ebenfalls betrunken, Madame Kerdoncuff, ja! O, wie ich mich darüber geschämt habe! Und auch meine Tochter, sie fiel die Treppe herunter!«

    Dieses Geschwätz in dem singenden, taktmäßigen Accent von Brest flog unter den alten, vom Winde umgestülpten Regenschirmen hin und her zwischen den Frauen in Waterproofumhängen und spitzigen Musselinhauben, die dort oben am Eingang der großen Granittreppen warteten.

    Ihre Männer waren auf demselben Schiffe wie Yves zurückgekommen und sie hatten sich nun dort aufgestellt und standen, nachdem sie sich erst durch etwas Branntwein gestärkt, mit halb begehrlichem, halb gerührtem Blick auf der Wacht.

    Die alten Seeleute, die sie erwarteten, waren vielleicht vor Jahren recht tüchtige Marsgasten bei harter Arbeit gewesen; der Aufenthalt in Brest und die Trunksucht hatten sie aber verdorben, so daß sie diese Geschöpfe geheiratet hatten und in den Schmutz der untersten Schichten herabgesunken waren.

    Hinter diesen Weibern standen aber noch andere Gruppen, auf denen der Blick um so lieber verweilte: junge Frauen von anständigem Wesen, echte Seemannsfrauen; die, sich in der Freude des Wiedersehens ihres Bräutigams oder ihres Mannes zurückhaltend, ängstlich hinab in den großen, gähnenden Schlund des Hafens blickten, aus dem die Ersehnten hervorsteigen sollten. Es gab Mütter darunter, die von den Dörfern hereingekommen waren, ihr schönes Festtagsgewand, die große Haube und das schwarztuchene, mit Seide gestickte Kleid, angelegt hatten; und doch verdirbt ihnen der Regen diese kostbaren Sachen, die man nicht zweimal im Leben erneut; man mußte dem Sohn aber Ehre machen, den man nun gleich vor den anderen umarmen sollte.

    »Da kommen die Leute vom ›Magicien‹ in den Hafen, Madame Kerdoncuff.«

    »Und nun auch die vom ›Catinat‹. Sie kommen gleich dahinter, Madame Quéméneur!«

    An den schwarzen Quais, dort ganz hinten, legten die Boote an, und sie, die erwartet wurden, stiegen herauf.

    Zuerst die Männer dieser schwatzenden Weiber, dem Alter zu Ehren, allen voran. Das Teerwasser, der Wind, die Sonnenglut, der Branntwein hatten ihre Gesichter wie die von Affen verzerrt. Und man geht Arm in Arm in der Richtung nach Recouvrance in eine der alten finstern Gassen mit den hohen Granithäusern, man steigt zu einem feuchten Zimmer empor, das nach den Gossen und dem Moder der Armen riecht, wo auf den Möbeln sich Muscheln im Staube herumtreiben und Flaschen und chinesischer Tand kunterbunt durcheinander stehen. Und dank dem in einer der Schenken da unten gekauften Schnaps, vergißt man die lange grausame Trennung und glaubt wieder jung, wie mit zwanzig Jahren zu sein.

    Dann kommen die anderen, die jungen Männer, die von ihren Bräuten, Gattinnen oder ihren alten Müttern erwartet werden; – und endlich, je zu vieren, die Granitstufen heraufspringend, die ganze Bande der großen, wilden Burschen, die Yves zur Feier seiner Litzen führte.

    Die, welche auf diese warteten, standen schon in der Siebenheiligengasse vor der Tür auf der Lauer. Frauen, die Haare ›à la chien‹ tief in die Augen gekämmt, mit vertrunkenen Stimmen, und abschreckenden Gebärden.

    Ihnen fällt nun die Kraft, das verhaltene Feuer, das Geld dieser jungen Menschen zur Beute. Denn sie bezahlen gut, die Matrosen, am Tage der Heimkehr, und das, was sie geben, wird noch von dem überboten, was man ihnen stiehlt, wenn sie sich glücklich von Sinnen getrunken haben.

    Die jungen Leute blickten ungewiß, wie verstört, vor sich hin, schon durch nichts als die Vorstellung berauscht, sich wieder auf festem Land zu befinden.

    Wohin nun zuerst? Womit seine Freuden beginnen? Dieser Wind, dieser winterkalte Regen, dieses unheimliche Hereinbrechen der Nacht – das alles erhöht wohl für

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