Mama Fish
Von Rio Youers und Daniele Serra
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Über dieses E-Book
Zwanzig Jahre später kehrt Patrick nach Harlequin zurück. Die Stadt hat sich verändert, aber ein dunkles Geheimnis lebt noch immer in ihrem Herzen. Es ist hier, in Harlequin. Sie ist hier. Patrick wird Mama Fish nie vergessen.
Mama Fish ist eine Coming-of-Age-Geschichte über die Wege, die wir wählen ... über Veränderungen in der Gesellschaft und in uns selbst. Sie wird durch die Augen von Patrick Beauchamp erzählt, einem liebevollen Familienvater, der im Herzen von viel Dunkelheit geplagt wird ... ein Mann, der buchstäblich zwischen dem Geist und der Maschine gefangen ist.
Aaron Polson, Amazon.com: »Hier ist der Grund, warum du Mama Fish von Rio Youers lesen solltest: Du wirst angepisst sein, wenn es vorbei ist.«
Paul G. Bens, Jr., Amazon.com: »Verdammt, Rio Youers kann tatsächlich schreiben. Mama Fish ist eine Novelle, die sich nur schwer kategorisieren lässt. Teilweise Coming-of-Age, teilweise befreundete Außenseiter, teilweise urbaner Horror und teilweise spekulativ, ist diese Novelle ganz sicher ein Pageturner, der mich die ganze Zeit über gefesselt hat. Wenn Sie auf der Suche nach einer guten, gruseligen und dennoch emotional wahrheitsgetreuen Kurzlektüre sind, dann ist Mama Fish vielleicht genau das Richtige für Sie.«
Rio Youers
Rio Youers is the British Fantasy and Sunburst Award–nominated author of Lola on Fire and No Second Chances. His 2017 thriller, The Forgotten Girl, was a finalist for the Arthur Ellis Award for Best Crime Novel. He is the writer of Sleeping Beauties, a comic book series based on the bestselling novel by Stephen King and Owen King. Rio lives in Ontario, Canada, with his wife and their two children.
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Buchvorschau
Mama Fish - Rio Youers
KAPITEL 1
Es gibt sie in jeder Schule. Wahrscheinlich in jeder Klasse: die, die völlig fehl am Platz sind, nicht dazugehören. Er (man setze männlich voraus, aber es könnte genauso gut ein Mädchen sein) sitzt immer hinten in der Klasse und redet nur, wenn er angesprochen wird. Mit ihm macht man keine Witze, mit ihm tauscht man keine Baseball-Sammelkarten, er hat kein Lieblingsteam … Es scheint, dass er überhaupt keine Interessen hat. Er hat jeden Tag dieselben ausgeleierten Klamotten an, sitzt beim Essen allein und trägt immer einen Brief von zu Hause bei sich, der ihn vom Sport befreit. Man lästert nur hinter seinem Rücken über ihn, denn niemand will auf seiner schwarzen Liste stehen. Die meisten Leute haben Angst vor ihm. Auch die Lehrer. Das würden sie nie zugeben, aber es stimmt. Sie haben Angst vor seinem andächtigen, verärgerten Schweigen. Er ist der komische Vogel, der Sonderling … Der Typ, von dem die meisten Leute erwarten würden, dass er mit einer halbautomatischen Waffe in die Klasse kommt und Amok läuft.
1986. Die Schule hieß Harlequin High. Und Kelvin Fish war völlig fehl am Platz. Er war groß und grobknochig, und alle hätten darauf geschworen, dass die riesigen Eiterbeulen auf seinem Nacken in der Dunkelheit leuchteten. Ich war mir sicher, dass sich jeder seiner Zähne in Größe, Form und Farbe von den anderen unterschied. Er hatte ein hängendes Augenlid. Vergiss es … Sein linkes Augenlid hing nicht nur, das gottverdammte Ding lag im Koma. Jeden Tag lungerte es zwischen offen und geschlossen herum, und bis zum frühen Nachmittag hatte sich im Augenwinkel ein Klumpen orangefarbener Pampe gebildet (einmal sah ich zu, wie er sich den Klumpen aus dem Auge fischte und lässig in den Mund schnippte). Kelvin Fish. Nicht Frischfisch. Nicht Fischmeister. Er hatte nie einen Spitznamen. Wenn die Leute von Kelvin Fish sprachen, dann immer mit dem vollen Namen: Was glaubst du, wann hat Kelvin Fish zum letzten Mal geduscht? Hast du das braune Zeug gesehen, das in Kelvin Fishs Ohren wächst? Die Lehrer waren nicht anders: Ich warte immer noch auf deine Hausaufgaben, Kelvin Fish. Er schlurfte mit hochgezogenen Schultern durch den Tag, immer still. Er hatte so dichtes Haar, dass man meinte, es würde nie wachsen. Es saß auf seinem Schädel, stets dieselbe Länge, immer derselbe Schnitt, praktisch die gesamte Zeit, die ich ihn kannte, wie Elton Johns Frisur.
Hast du die Farbe von Kelvin Fishs Fingernägeln gesehen?
Man könnte an meiner Entscheidung, mich ihm zu nähern, Zweifel haben. Man könnte glauben, ich tat es aus Mitleid oder Neugier. Ich bin mir sicher, dass beides stimmte, aber da war noch mehr … Etwas, von dem ich Angst hatte, es einzugestehen. Auch mir selbst. Ich wusste, dass in diesem Herman-Munster-Körper ein ganz normaler Junge stecken musste. Ein Junge mit einem Herzschlag. Ein Junge mit einer Seele. Er musste ein Zuhause haben, eine Familie, eine Mutter, die ihn liebte. Ich meine, sie hatte ihn wohl kaum gezüchtet, oder? Er war auch nicht unter einem feuchten Stein hervorgekrochen oder wie Superman in einem Meteor vom Himmel gefallen.
Kelvin Fish hat in Sozialkunde gefurzt. Und der Gestank! Uähhhh…
Ich saß in Mathe hinter Kelvin Fish und sah, wie sich etwas unter seinem T-Shirt bewegte. Etwas auf seinem Rücken.
Ich habe meine Entscheidung nie infrage gestellt. Nicht eine Sekunde lang. Ich wollte nur eins: ihm näher sein.
Ich wollte sein Freund sein.
KAPITEL 2
Bevor ich Kelvin Fish das erste Mal ansprach, hatte ich mir ab und zu Gedanken gemacht, wie es im Hause Fish so zuging. Damit kriegte man gut die Zeit rum, vor allem in diesen endlosen Stunden, in denen sich der Minutenzeiger nur schmerzend langsam voranzubewegen schien.
In meinem Kopf liefen eine Menge verschiedener Szenarien ab, mit einer Schwäche für das Ausgefallene. Ich stellte mir Kelvin Fishs Haus als freudloses, baufälliges Ding vor: abblätterndes Holz, wuchernder Schimmel, die Fensterläden geschlossen und blind für die Welt. Im Garten wucherte krebsartig das Unkraut und erstickte alles, was irgendwann mal tatsächlich grün gewesen war. Es war ein Zerrbild. Eine Geistergeschichte. Kinder hatten Angst, sich ihm zu nähern. In den Bäumen sangen keine Vögel und wohnten auch keine Eich- oder Streifenhörnchen. Wenn Autos an ihm vorbeifuhren, passierten oft ungewöhnliche Dinge: Der Radiosender wechselte einfach, die Heizung schaltete sich von selbst ein, die Scheibenwischer erwachten unaufgefordert zum Leben. Selbst Flugzeuge, die darüber hinwegflogen, erlebten ab und zu Pannen.
Im Fundament befanden sich Leichen – Hunderte –, und im Keller war ein Kerker, in dem Gefangene an Wände gekettet wurden (man hatte ihnen zuvor die Stimmbänder durchgeschnitten, sodass niemand ihre Schreie hören konnte). An jedem Vollmond versammelten sich dort maskierte Gäste. Sie zogen sich aus, beteten in der Nacht und tranken Blut aus einem mit Edelsteinen besetzten Kelch. Meine Fantasie hatte Stunden damit verbracht, sich Kelvin Fishs Brüder und Schwestern vorzustellen: eine mutierte Brut, hirn- und namenlos, auf dem Dachboden eingesperrt.
Papa Fish hatte rote Augen. Er hatte sich wie Charles Manson ein Hakenkreuz auf seine Stirn tätowiert und bestrafte Kelvin Fish und dessen merkwürdige Geschwister regelmäßig mit einem Schlagstock und einer kaputten Fahrradkette.
Aber Mama Fish spielte die Hauptrolle in meinen Tagträumen. Manchmal sah ich sie als kleine Frau vor mir, mit einem Knick in der Wirbelsäule, der sie zwang, seitwärts zu gehen, aber am häufigsten war sie fett wie ein Bär. Sie musste sich auf zwei Krücken stützen, die so krumm waren wie die Beine eines alten Mannes. Ihre Haare waren so rot wie die Augen ihres Ehemanns und hingen ihr in dreckigen Strähnen ins Gesicht. Sie hatte praktisch immer etwas im Mund – entweder kaute sie Tabak oder Twinkies. Ihre Spucke hatte die Farbe alten Öls, und wenn sie sich nicht rasierte, hätte sie in weniger als einer Woche den Bart eines Eishockeyspielers.
Ich machte mir Mathe interessanter, indem ich mir Mutter und Sohn beim Geschlechtsverkehr vorstellte. Nichts zu Anschauliches (meine Fantasie kannte ein Mindestmaß an Anstand), aber doch anregend genug für meinen seltsamen Sinn für Humor.
Manchmal lag Mama auf ihrem Rücken, die fetten Beine im gewagten Spagat, ohne Unterwäsche, während Kelvin Fish ihr die Schwielen am Fußballen massierte (Gefällt dir, was du siehst, Babyfant?). Manchmal verlangte sie eine »Inspektion« ihres Jungen – er musste sich splitterfasernackt ausziehen und Pirouetten drehen, während sie sich Erdnussriegel reinstopfte. Manchmal blies sie ihm einen und versuchte dabei nicht zu weinen, obwohl sie jeden Aspekt ihres tragischen Lebens hasste.
Luftschlösser: wild dahingeworfene Bilder, die mir die Zeit vertrieben und mich vielleicht darauf vorbereiteten, was passieren sollte. Ich hätte wissen müssen, dass die Beziehung zwischen mir und Kelvin Fish viel interessanter werden würde. Ich nahm an, dass diese harmlosen Bilderfluten in meinem Kopf eine Art Schutzmechanismus waren und mir halfen, mit jeder Situation fertigzuwerden.
Aber ich lag falsch. Nichts – keine mentalen Bilder, keine Naturkatastrophe, nicht mal Filme ab 18 – hätte mich auf das vorbereiten können, was dann passierte.
Nichts hätte mich auf Mama Fish vorbereiten können.
KAPITEL 3
Ich hatte versucht, mit Kelvin Fish zu reden – mehrmals sogar –, aber ich wurde jedes Mal unterbrochen: Mal blaffte mich ein Lehrer an, ich würde die Stunde stören, mal schnippte mir eine der Sportskanonen ins Ohr und nannte mich Schwuchtel. Ich musste mit ihm unter vier Augen reden, weit weg von jeder Ablenkung. Ich hielt es für die beste Idee, mich vor der Sportstunde zu drücken, schrieb einen Brief von zu Hause, in dem ich behauptete, ich wäre zu krank für körperliche Betätigung, und