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Verschollen in Australien
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eBook287 Seiten4 Stunden

Verschollen in Australien

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Über dieses E-Book

Der Hamburger Wissenschaftler Jonas Tjerne trifft am Frankfurter Flughafen seine ehemalige Freundin Judith Tenhausen. Sie offenbart ihm, dass ihre Schwester überstürzt nach Australien gereist ist, um dort ihre Tochter Ulrike zu suchen, von der es seit einigen Wochen kein Lebenszeichen mehr gibt. Da Jonas aus beruflichen Gründen auch nach Australien fliegt, bietet er ihr seine Hilfe an.
Nachdem die Polizei sich als wenig kooperativ erweist und auch ein Privatdetektiv keine Erfolge bei der Suche vorweisen kann, nimmt Judith die Hilfe von Jonas in Anspruch und die beiden kommen Judiths Nichte scheinbar immer näher. Doch gleichzeitig wächst auch die Gefahr, in die sie sich begeben. Und sie können kaum mit Hilfe rechnen, denn in der australischen Einöde sind sie von der Außenwelt nahezu völlig abgeschnitten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Mai 2016
ISBN9783734522130
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    Buchvorschau

    Verschollen in Australien - Günter-Christian Möller

    1

    Irgendwie hatte es jemand aus der Reisestelle seines Instituts geschafft, aus seinem Flug von Frankfurt nach Brisbane in Australien eine Bahnreise von Hamburg nach Frankfurt zu machen. Vielleicht lag es daran, dass er einige teure Präzisionsgeneratoren dort in Australien abnehmen sollte und das als Grund für diese Reise angegeben hatte. Anscheinend hielt man es in der Verwaltung für unmöglich, dass derartige Geräte in Australien hergestellt werden konnten. Die Geräte waren zugegebenermaßen auch recht ausgefallen, weil sie von dem Forschungsinstitut gebraucht wurden, in dem er, Jonas Tjerne, arbeitete. Als er die Tickets für die Reise vor drei Tagen bekam und die Reisestelle in seinem Institut auf diesen Fehler aufmerksam machte, wollte man zunächst nicht glauben, dass man einen Fehler gemacht hatte. Nach fast einer halben Stunde hatte er den Sachbearbeiter endlich überzeugt und der beeilte sich mächtig, den Fehler wieder zu korrigieren.

    Jetzt stand er vor der Sicherheitskontrolle für das Handgepäck und die Kleidung. Vor ihm wartete ein etwa sechzig Jahre alter Türke in der Schlange. Schließlich war der Mann an der Reihe und ging durch den Metalldetektor. Die Anlage löste aus und der Mann sah irritiert zum Kontrolleur. Der schien selber ein südländischer Typ zu sein und schaute den Türken abschätzig von oben bis unten an. Ein schelmischer Blick blieb an seinem Gürtel hängen.

    „Die Hose", sagte er und schaute dem alten Mann streng ins Gesicht.

    „Was Hose? Habe kein Geld in die Hose.", erwiderte der Alte.

    „Die Hose. Ausziehen", sagte der Kontrolleur streng und bestimmt.

    „Was? Hier?"

    „Ja, hier! Wo sonst. Die Hose ist gefährlich"

    Der Mann fing an, die Schnalle an seiner Hose aufzumachen. Es schien so, als ob er die Hose tatsächlich ausziehen würde. Jonas fand das unerhört und meldete sich zu Wort:

    „Das ist doch die Höhe! Einen alten Mann die Hose ausziehen lassen. Noch dazu in aller Öffentlichkeit. Würden Sie sich etwa so behandeln lassen?", meinte er empört. Ein anderer Kontrolleur beobachtete seinen Kollegen nun misstrauisch.

    „Das war doch nur ein Scherz", meinte der Kontrolleur enttäuscht.

    „Sie können die Hose anbehalten, nur den Gürtel auf das Band legen und dann noch einmal durch den Detektor gehen."

    Der alte Mann bestand den Test diesmal und nun war Jonas dran. Mit seiner Kleidung war alles in Ordnung, aber die Anlage meckerte über irgendetwas in seinem kleinen Reisekoffer, den er als Handgepäck mitgenommen hatte. Jetzt sah der Kontrolleur Jonas interessiert an. Er war ein mittelgroßer Mann mit einem schmalen Gesicht und hellblauen müden Augen, trug eine Jeans und hatte eine braune Lederjacke an.

    Diesmal schien der Jagdinstinkt des Kontrolleurs erwacht zu sein und nicht nur die Sehnsucht nach Abwechslung. Er deutete auf den Handkoffer und meinte nur: „Aufmachen!"

    Missmutig öffnete Jonas den kleinen Koffer und blickte auf einige Kleidungsstücke und eine völlig zerfledderte alte Kulturtasche, die mit allem möglichen Trödel angefüllt war: ein paar Streifen mit Tabletten, Zahnbürsten, Kämme, Schreibutensilien, Nähzeug, aber auch Kosmetikartikel und noch einiges andere war dort zu sehen.

    Der Kontrolleur holte eine große Plastikschüssel hervor und meinte:

    „Alles hier rein!"

    Jonas schüttete den Inhalt in den Plastikbehälter Der Kontrolleur ging zum Detektor zurück und ließ die Schüssel noch einmal durchlaufen. Wieder meckerte der Apparat.

    „Also, irgendwas von dem Zeug ist gefährlich. Ich würde sogar sagen, dass es eine getarnte Gefährlichkeit ist", meinte der Kontrolleur belehrend, als ob er vorhätte, eine Dissertation über gefährliches Reisegepäck zu schreiben. Dann fragte er:

    „Wofür sind denn die ganzen Tabletten?"

    „Wenn wir abstürzen, dann nehme ich ein paar davon und hab nicht mehr so viel Angst, wenn es nach unten geht."

    Der Kontrolleur sah Jonas nachdenklich an, so, als ob er den Wahrheitsgehalt des Gesagten abwägen würde. Stirnrunzelnd sagte er schließlich:

    „Das klingt einleuchtend. Die Tabletten sind es also nicht."

    Beide beugten sich wieder über die Schüssel und nach einer Weile deutete der Kontrolleur auf ein kleines Teil und meinte nur:

    „Was ist das?"

    „Das ist ein ausklappbarer kleiner Flaschenöffner inklusive Korkenzieher. Dient zur Stressbewältigung."

    „Das ist eine Waffe", entschied der Kontrolleur.

    „Aber das Ding ist kaum vier Zentimeter lang, meinte Jonas entsetzt. Das habe ich in einem Schweizer Hotel geschenkt bekommen. Ein harmloses Andenken an ein paar ungemütliche Übernachtungen.

    „Das ist eine Waffe. Da hinten in den Container gehört das rein."

    Zähneknirschend sah Jonas den Kontrolleur an. Schließlich nahm er den Flaschenöffner und ging zu dem Behälter, wo er ihn mit einem Seufzer hineinwarf. Damit hatte er die Kontrolle geschafft und neunundneunzig Prozent aus seinem Handgepäck befand sich noch immer in seinem Besitz. Und das war ja das Wichtigste. Wehmütig dachte er daran, dass er von nun an bei seinen Reisen auf kleine Wein- und Bierfläschchen verzichten musste.

    Mit seinem kleinen Koffer machte er sich auf den Weg zum Abflug-Gate. Vor ihm lag ein achtundzwanzig Stunden langer Flug mit einer kleinen Unterbrechung in Singapur. Vorsichtshalber kaufte er sich in einem Kiosk noch etwas Kaugummi und eine deutsche Zeitschrift. Gegen die Langeweile und mögliche Nervosität musste er im Flugzeug gewappnet sein.

    Jonas gehörte nicht zu den Leuten, die oft flogen. Vielleicht ein- oder zweimal im Jahr. Wenn es ging, dann drückte er sich davor, für das Institut ‚auf Tour‘ zu gehen. Aber in diesem Fall hatte sich Franz nicht erweichen lassen. Franz war sein Vorgesetzter. Jonas musste sich anhören, dass er selbst das letzte Mal zwei ganze Monate in den Vereinigen Staaten gewesen wäre, um sich dort fortzubilden. Jetzt sei er, Jonas, an der Reihe. Wenn er wolle, könne er ja eine Woche Urlaub in Australien dranhängen. „Niemals", hatte Jonas empört geäußert. Australien sei etwas für Kängurus und Backpackers, doch nicht für ihn. Bis Franz ihm gedroht hatte, ihn in die Antarktis zum Experiment ‚lceCube‘ zu schicken, wo auch noch technische Unterstützung für ein anderes Institut gebraucht wurde. Dort wurde ein Experiment im dicken antarktischen Eispanzer versenkt. Bei der Wahl zwischen Australien und der Antarktis hatte Jonas dann nach kurzer Bedenkzeit der Reise nach Australien zugestimmt. Grollend zwar, aber er hatte zugestimmt. Franz hatte ihm auf die Schulter geklopft und gehässig gemeint, jeder Institutsmitarbeiter könne sich Jonas zum Vorbild nehmen. Beim nächsten Mitarbeitergespräch über das jährliche Leistungsentgelt würde Jonas in der Sparte ‚Engagement und Arbeitseinsatz‘ die vollen sechs Punkte bekommen. Jonas wollte sich nun revanchieren. Er hatte die eine Woche Urlaub schon eingereicht, die Franz ihm vorgeschlagen hatte. Und eine Tour in die Wildnis hatte er auch schon eingeplant, egal wohin es gehen würde.

    Er entschloss sich, die Erinnerung an dieses Gespräch mit einem Kaugummi zu löschen. So näherte er sich halbwegs beruhigt seinem Abflug-Gate. Es war zehn Uhr abends. Noch eine knappe Stunde, bis man ihn an Bord des Flugzeugs lassen würde. Um elf Uhr sollte es losgehen. Er schaute zu den anderen Passagieren, die auf den Bänken saßen, und versuchte, einen freien Platz ausfindig zu machen.

    Plötzlich sah er sie. Das konnte doch nicht sein! Er kniff die Augen zusammen. Doch es bestand kein Zweifel. Sie war es. Dort hinten, etwas abseits von den anderen, saß Judith. Seine Judith. Sie war Kommissarin bei einer neu gegründeten Polizeibehörde in Frankfurt. Vor ein paar Monaten hatte sie ihm geholfen, seine Unschuld zu beweisen, als er verdächtigt wurde, in einen Fall von Patentspionage verwickelt zu sein. Sie waren danach noch eine Weile befreundet gewesen. Er hatte sogar gehofft, dass es länger halten würde. Regelmäßig hatten sie sich gegenseitig besucht und es schien, als ob sie nichts jemals wieder trennen könnte. Aber irgendwann hatte sich etwas verändert. Es war kaum wahrnehmbar gewesen und er hatte die Gründe nie richtig erfasst. Vielleicht lag es daran, dass sie beide mehr voneinander haben wollten, als es ihre individuellen Lebenssituationen zuließen. Schließlich lebte sie in Frankfurt und er in Hamburg. Nur eine Stunde Flugzeit lag dazwischen. Das schien jedoch für ihre gegenseitigen Erwartungen zu viel zu sein. Vor einem Monat hatte es einen fürchterlichen Streit gegeben. Eigentlich war es eine Bagatelle gewesen. Er hatte eine Kaffeetasse umgekippt und der größte Teil davon war auf einem der recht wertvollen Teppiche von Judith gelandet. Das hatte leider eine Lawine von Gehässigkeiten und Streitereien ausgelöst. Er hatte ihr ein Buch mit dem intelligenten Titel „Wie schaffe ich meinen Haushalt" geschenkt und sie hatte sich mit einem in Geschenkpapier eingewickeltem biologisch abbaubaren Fleckenentferner revanchiert. Damit hatte es angefangen und schließlich waren sie bei Telefongesprächen angekommen, die man nur noch als rhetorische Fernduelle bezeichnen konnte.

    Er wusste nicht warum, doch er fühlte sich magisch von ihr und ihren meergrünen Augen angezogen. Seine Gedanken verirrten sich in schönen Erinnerungen und Sehnsüchten nach ihr. Ihr lächelndes Gesicht, ein Blick von ihr über eine ihrer nackten Schultern, ihr Haar an seinem Gesicht und der sanfte Druck ihrer Hände an seinen Hüften.

    Er bahnte sich den Weg durch die anderen Passagiere und wollte sie schon ansprechen und sich neben sie setzen, als er sie von der Seite aus betrachtete und ihren besorgten Ausdruck in den Augen wahrnahm. Er blieb kurz stehen und wollte sich dann doch ein Stückchen weiter entfernt hinsetzen, als sie ihren Blick hob, sich umschaute und ihn sofort erkannte. Ein kurzes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das jedoch sofort erstarb. Es blieb ein Gesicht voller Sorgen, dessen Züge sich jetzt mit Ärger vermischten. Oder war es der Versuch, die Sorgen mit Ärger zu verdecken?

    Obwohl er es nicht mehr wollte, ging er auf sie zu und setzte sich neben sie. Er spürte jetzt schon die Niederlage, die dieses Gespräch ihm einbringen würde. Aber er sprach seine zu Eis erstarrte Freude trotzdem aus.

    „Hallo Judith. Ich hätte nie erwartet, dich hier zu treffen. Was machst du hier?"

    „Ich warte auf meinen Flug: 23 Uhr nach Brisbane. Über Singapur. Was machst du hier? Verfolgst du mich?"

    Jonas war zutiefst überrascht und musste zweimal schlucken. Das konnte doch nicht sein, dass sie auch in diesem Flieger sitzen würde. Womöglich sogar in seiner Nähe.

    „Nein, Franz schickt mich nach Brisbane, um dort Generatoren abzunehmen, die wir bestellt haben. Jemand von unserem Institut soll bei den Abnahmeprüfungen dabei sein, damit wir nicht wertlosen Schrott einkaufen."

    „Sag nicht, dass du auch mit dem Flugzeug nach Singapur fliegst."

    „Doch Judith, das mache ich. Mein Gepäck ist sogar schon drin. Und ich habe keine Chance, es wieder rauszubekommen. Ist das nicht schön?"

    Ärger und Missmut breitete sich in ihrem Gesicht aus und er fühlte, dass es noch schlimmer kommen würde.

    „Du bist ein absoluter Widerling. Als ob ich es nicht schon schwer genug hätte. Jetzt hängst du dich auch noch als Klotz an mein Bein."

    „Hast du denn außer mir noch einen Klotz an deinem Bein?", fragte Jonas neugierig und mit etwas gehässigem Lächeln.

    „Nein, natürlich nicht. Sag mir bloß nicht, welchen Platz du hast. Verdirb mir bloß nicht die sowieso schon schlechte Laune."

    Aber Jonas war noch immer recht unbefangen und meinte scheinbar gleichgültig. „Gut, wenn es so wichtig ist, dann behalte ich es für mich. Behältst du dann auch für dich, was du in Australien machst?"

    „Ja, auf jeden Fall. Wenn ich etwas hasse, dann ist es Neugier."

    „Das muss doch extrem schwer für dich sein, Judith, denn du bist doch Polizistin und musst doch von Berufs wegen neugierig sein, oder nicht?"

    „Das kann schon sein. Aber ich habe die Nase gestrichen voll von Kaffeeflecken, Ratschlägen zum Fleckenentfernen und anderen Gemeinheiten von dir."

    Er spürte, dass Judith ihm nichts über ihre Absichten sagen wollte und entschloss sich, das Thema zu wechseln.

    „Judith, wenn du nicht darüber reden willst, dann ist das in Ordnung. Ich hab dich hier nur sitzen sehen und du machtest so einen einsamen und besorgten Eindruck. Und da hab ich gedacht, ich komme mal zu dir rüber und rede mit dir. Wenn du allerdings lieber allein sein möchtest, dann ist das auch in Ordnung. Dann suche ich mir eben einen anderen Platz zum Warten."

    „Ja, das ist in Ordnung. Such dir einen anderen Platz zum Warten. Mir geht es auch ohne dich schon schlecht genug. Ich hab im Moment nichts zu erzählen. Hast du das kapiert?"

    Ihre zunächst lauter gewordene Stimme war wieder auf das normale Lautstärkemaß zurückgekehrt. Trotzdem klang sie noch immer eindringlich und bestimmt.

    „Ja, Judith. Jetzt, wo du das so klar gesagt hast, habe ich es kapiert."

    Das fruchtlose Gespräch und ihre Anmaßungen hatten ihn jetzt ebenfalls wütend gemacht. Er stand auf, ging wieder hinaus zum Gang und wartete dort darauf, dass das Einchecken der Passagiere begann. Sie schien sich keinen Deut verändert zu haben. Doch trotzdem war sie anders als sonst. Was mochte bloß mit ihr los sein? Und warum flog sie nach Australien? Einen Begleiter schien sie jedenfalls nicht dabei zu haben.

    Als er sich eine andere Sitzgelegenheit gesucht hatte, fiel ihm auf, dass er sie von seinem Platz aus gut sehen konnte. Irgendetwas schien sie zu bedrücken. Es war ganz offensichtlich, dass sie große Sorgen hatte.

    Was konnte einen Menschen dazu bringen, mit großen Sorgen nach Australien zu fliegen. Nun, er würde in Singapur noch Gelegenheit haben, das herauszufinden, denn dort hatten sie einige Stunden Aufenthalt. Sie schien sich nichts mehr aus ihm zu machen, aber keine fünf Minuten nach ihrem katastrophalen Gespräch sah er, wie sie ihren Kopf hob und sich suchend umblickte, bis sie ihn entdeckte. Als sie merkte, dass er sie beobachtete, wandte sie den Kopf demonstrativ von ihm ab. Jetzt musste er lächeln. Ein jubelnder Gedanke tobte durch seinen Kopf. Sie hatte nach ihm gesucht.

    2

    Knapp zwei Tage später saß Judith in einem Überlandbus und war auf dem Weg nach Harvey Bay. Sie hatte Jonas schon auf dem Flughafen in Singapur von ihren Sorgen erzählt. Ihre Schwester Elisabeth war überstürzt nach Australien geflogen, um dort in dieser kleinen Hafenstadt nördlich von Brisbane nach ihrer Tochter Ulrike zu suchen. Denn diese hatte sich mittlerweile drei Wochen nicht mehr gemeldet, obwohl sie vorher immerhin zweimal pro Woche per E-Mail von sich hatte hören lassen. Jonas hatte Judith seine Hilfe angeboten für den Fall, dass sie Schwierigkeiten bekommen würde. Er hatte schon kurz nach der Ankunft in Brisbane festgestellt, dass die Generatoren, die er abnehmen sollte, ein Problem hatten, das die australische Firma erst beheben musste.

    Judith hatte fast den halben Tag in dem Bus nach Harvey Bay verbracht. Allerdings fühlte sie sich wieder ausgeschlafen und erholt, denn sie hatte es heute geschafft, trotz der Zeitumstellung neun Stunden an einem Stück zu schlafen. Der Blick aus dem Fenster verwöhnte ihre Augen mit den sonnendurchfluteten Farben einer bizarren Landschaft. Schließlich erschien das ersehnte Schild mit dem Namen des Ortes, wo ihre Schwester sie erwartete.

    Als sie in Harvey Bay ankam, erkundigte sie sich im Zentrum nach den örtlichen Hostels. Statt sich gleich auf den Weg zu ihrer Schwester zu machen, nahm sie zuerst ein leichtes Mittagessen zu sich und versuchte nebenbei von der Serviererin einige Informationen über andere Unterkünfte in der Stadt zu bekommen. Sie erfuhr, dass es noch vier weitere Hostels gab, die vornehmlich von Touristen genutzt wurden. Als sie nach Arbeitsmöglichkeiten für Backpacker fragte, wurde sie an die Touristinformation verwiesen.

    Die Serviererin hatte den Hafen in den höchsten Tönen gelobt. Sie selbst käme eigentlich aus Brisbane und das hätte natürlich einen sehr viel größeren Hafen. Judith entschloss sich, zunächst einen Eindruck von dem Hafen zu gewinnen. Wie mochte er wohl auf Ulrike gewirkt haben?

    Dort angekommen stellte sie fest, dass die Atmosphäre etwas Beschauliches und Romantisches hatte. Es gab vorwiegend kleine Boote und Schiffe. Auch viele Segelboote, sogar zwei Zweimaster lagen dort. Auf Judith machte das alles keinen großartigen Eindruck, denn sie wurde dadurch nur intensiv an ihre Anfälligkeit für Seekrankheit erinnert. Schließlich hatte sie genug gesehen und entschloss sich, mit dem Taxi zum Hotel ihrer Schwester zu fahren. Als sie dort angekommen war und ihre Schwester in den Armen hielt, wollte diese sie gar nicht mehr loslassen. Schließlich merkte sie, dass Elisabeth eine Träne nach der anderen aus den Augen lief.

    „Endlich! Endlich kümmert sich mal jemand aus unserer Familie um mich und Ulrike. Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch machen soll."

    Eine wahre Flut von Beschwerden und Ängsten prasselten jetzt auf Judith nieder. Es war ein kleiner Schock für sie, ihre Schwester so hilflos zu sehen, denn Elisabeth war sechs Jahre älter als sie und hatte während ihrer Kinderzeit oft auf sie aufpassen müssen. Damals war Elisabeth ihr Vorbild gewesen. In der Jugendzeit war sie stets ihre eigenen Wege gegangen, und hatte auch frühzeitig einen Freund gehabt, was zu teilweise heftigen Reibereien mit ihrem Vater geführt hatte, doch Elisabeth hatte nie klein beigegeben. Allerdings hatte sie nun die fantastische Entscheidung getroffen, einen Privatdetektiv zu engagieren.

    „Was macht denn der Privatdetektiv heute?", fragte Judith ihre Schwester leichthin und versuchte, ihre Wut nicht durchklingen zu lassen. Sie dachte daran, welches horrende Geld für den Mann verplempert wurde.

    „Oh, ein wirklich netter Mann ist der Mister Cooper. Ich habe ihm ein Bild von Ulrike gegeben und er hat es vervielfältigt. Heute fährt er zu einigen von den größeren Farmen hinaus und wird es dort herumzeigen und wenn möglich auch aufhängen."

    „Na, das ist ja schon mal etwas. Und hat er auch schon mit der Polizei geredet oder das Hostel gefunden, in dem Ulrike hier übernachtet hat?"

    „Zu der Polizei hat er ein ganz schlechtes Verhältnis. Er meinte, es sei besser, wenn du dort mal nach Informationen fragst. Und bei Ulrikes Hostel ist er auch gewesen. Die Frau dort hat Ulrike zwar erkannt und gemeint, sie sei dort gewesen, aber sie wusste nicht, wohin sie dann weitergezogen ist. Ja, so sieht es leider aus. Niemand hat sie gesehen, überhaupt keiner."

    Elisabeth war den Tränen bedenklich nahe und Judith sah sich genötigt, ihr wieder etwas Mut zu machen.

    „Ich schlage vor, dass ich selber noch einmal zur Polizei gehe und dort Erkundigungen einziehe. Danach suche ich noch einmal die Frau in dem Hostel auf, in dem Ulrike übernachtet hat."

    Als erstes ging Judith zur Polizei. Inspektor Walker war ein verständiger Mann, besonders, als er hörte, dass Judith selbst bei der Polizei arbeitete.

    „Sie müssen das verstehen. Wir haben hier, anders als in den europäischen Ländern, keine Meldepflicht. Dass sich eine Hostelbesitzerin nach drei Wochen noch an einen bestimmten Gast erinnert, kann man eigentlich schon Glück nennen. Aber dass sich der Betreiber später auch noch daran erinnert, wohin dieser oder jener Gast weiterreisen wollte, oder mit wem er zusammen war, das wird auch in europäischen Hotels nur selten vorkommen."

    Damit kam der Redefluss des Inspektors vorübergehend zum Stillstand. Zumindest, was sein Interesse an dem Verschwinden von Judiths Nichte anging. Dafür zeigte er reges Interesse an ihrer Arbeit in Deutschland. Industrie- und Wirtschaftsspionage waren für ihn magische Begriffe, insbesondere, als sie von dem Fall mit Rechenprozessoren auf Lichtleiterbasis berichtete. Judith hatte sein starkes Interesse an ihrer eigenen Polizeiarbeit mit Genugtuung wahrgenommen und wollte es für sich nutzen. Sie walzte ihre Ermittlungserfolge noch etwas aus und schilderte ihm besonders eindrücklich die Entwicklung eines schwierigen Falles von Wirtschaftskriminalität. Als sie erläuterte, wie sie von einem der Verbrecher sogar angeschossen worden war, stammelte Walker nur noch:

    „Mein Gott! Oh, mein Gott!"

    Dann ging er zum Schrank, holte eine Flasche Whisky mit zwei Gläsern und schenkte sich und Judith einen tüchtigen Schluck ein. Sie zeigte dem Inspektor noch kurz ihre Narbe am linken Unterarm und spürte die Bewunderung des Inspektors.

    Dann lenkte sie das Gespräch wieder geschickt auf die vermisste Ulrike. Sie schilderte ihm kurz, was sie zu tun gedachte, nahm einen kleinen Schluck aus dem Whiskyglas und fragte den Inspektor dann:

    „Was würden Sie an meiner Stelle tun, Inspektor Walker? Stellen Sie sich vor, es wäre Ihre Tochter, die plötzlich verschwunden wäre, und Sie kämen hierher und müssten sie suchen."

    Der Inspektor sah sie sinnend an und sagte dann: „Was hatte ihre Nichte denn für Vorlieben? Hätte sie lieber Erdbeeren oder Bananen gepflückt, lieber Zuckerrohr geschnitten oder eine Seereise gemacht?"

    Judith überlegte kurz und meinte:

    „Ich glaube, dass sie am ehesten Erdbeeren gepflückt hätte, um Geld zu verdienen. Und auch eine Seereise hätte für sie reizvoll sein können. Natürlich hätte sie auch mit dem Bus in die nächste, größere Stadt aufbrechen können."

    Plötzlich hatte sie eine Idee.

    „Andererseits hatte sie gerade fast zwei Monate in Brisbane gearbeitet und es wäre denkbar, dass sie hier lieber erst einmal etwas erleben wollte. Gibt es denn die Möglichkeit, von hier aus eine Schiffstour zu machen?" Der Inspektor dachte kurz nach und sagte:

    „Es gibt hier zwei Segelschiffe, die abwechselnd Touren in den Norden machen. Von dort kann man dann noch eine zweitägige Bustour durch zwei Naturparks machen. Das wird von einer Agentur hier im Hafen für ein paar Hundert Dollar angeboten."

    „Und werden die Namen der Teilnehmer einer solchen Tour registriert?"

    „Ich weiß es nicht. Das müsste man herausfinden. Würden Sie mich eventuell zum Hafen begleiten, wenn ich dort nachfrage?

    Der Inspektor sah sie zunächst entrüstet an, sagte jedoch schließlich zu und meinte, er hätte im Moment sowieso nichts Wichtiges zu tun.

    Im

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