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Eckpfeiler einer reifen Weltsicht: Eine Einführung in das Prinzip der Einheit von Wissenschaft und Glauben
Eckpfeiler einer reifen Weltsicht: Eine Einführung in das Prinzip der Einheit von Wissenschaft und Glauben
Eckpfeiler einer reifen Weltsicht: Eine Einführung in das Prinzip der Einheit von Wissenschaft und Glauben
eBook1.170 Seiten13 Stunden

Eckpfeiler einer reifen Weltsicht: Eine Einführung in das Prinzip der Einheit von Wissenschaft und Glauben

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Über dieses E-Book

Nur wenn unsere Weltsicht die Wirklichkeit angemessen widerspiegelt, können wir ein authentisches und sinnerfülltes Leben führen, auf das wir später zufrieden zurückblicken werden.

Ein reifes Weltbild ist dabei weit mehr als die Ansammlung von Fakten und Erfahrungen. Mangelte es in der Vergangenheit vorrangig an wissenschaftlichen Einsichten, so verstellt uns heute vor allem der ungeheure Reichtum an Informationen und Meinungen den Blick auf wesentliche Erkenntnisse. Daher verwundert es nicht, dass sich die Ansichten der Menschen hinsichtlich grundlegender Lebensfragen mitunter erheblich unterscheiden.

Die These dieses Buches lautet, dass es in diesem Zeitalter erstmalig möglich ist, objektiv überzeugende Antworten auf die großen philosophischen Lebensfragen zu erhalten. Allerdings müssen wir hierzu zwei ebenbürtige Erkenntnisquellen heranziehen, die in den letzten Jahrhunderten eher als Widersacher galten: Wissenschaft und Glaube. In ihrer jeweils aktualisierten Form sind sie der Schlüssel, um Wahrheit von Irrtum zu trennen und die verschiedenen weltanschaulichen Bruchstücke zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenzufügen. Ziehen Wissenschaft und Religion in reifer Weise an einem Strang, eröffnen sich großartige Einsichten und ungeahnte Zusammenhänge.

Das vorliegende Buch bietet eine leicht lesbare, wenn auch umfangreiche Einführung in das tiefgreifende Prinzip der Einheit von Wissenschaft und Glauben. Nach der Untersuchung, was moderne Wissenschaft und wahren Glauben auszeichnet, wird erläutert, wie beide Bereiche ihrer Natur entsprechend miteinander verknüpft sind und konstruktiv zusammenwirken. Aufbauend auf dieser methodischen Grundlage werden im Lichte aktueller wissenschaftlicher und religiöser Erkenntnisse wesentliche philosophische Konzepte erläutert, die als notwendige Eckpfeiler in keinem reifen Weltbild fehlen sollten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. März 2021
ISBN9783347270107
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    Buchvorschau

    Eckpfeiler einer reifen Weltsicht - Michael Merkel

    VORWORT

    Die Welt mit ihren vielfältigen und wunderbaren Phänomenen faszinierte mich von Kindheit an und war einer der Gründe, weshalb ich später Physik studieren sollte. Über mein naturwissenschaftliches Interesse hinaus beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit metaphysischen Themen und bin Mitglied der jüngsten Weltreligion, der Bahá’í-Religion. Erfahren Menschen, dass mein Glaube für mich eine bedeutsame Erkenntnisquelle darstellt, reagieren sie in aller Regel zurückhaltend, irritiert oder gar ablehnend. Nicht wenige betonen eindringlich ihre Überzeugung, dass Glaube durch den Fortschritt der Wissenschaft längst überflüssig geworden sei.

    Warum »moderne« Wissenschaft und »wahrer« Glaube keine Gegensätze darstellen, sondern untrennbar miteinander verknüpft sind, ist eine vielschichtige Fragestellung, die sich nicht mit wenigen Sätzen hinreichend beantworten lässt. Hinzu kommt, dass Wissenschaft und Glaube im Hinblick auf ihre Fähigkeit, Erkenntnisse zu vermitteln, zumeist sehr wenig differenziert betrachtet werden. Viel zu oft bestimmen Vorurteile, Meinungen und Vorlieben zu Lasten objektiver Fakten die Diskussion. Dieser Umstand ist bedauerlich, da er den individuellen wie auch gesellschaftlichen Erkenntnisbildungsprozess erheblich behindert. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich die ernsten globalen Herausforderungen, mit denen die Menschheit gegenwärtig konfrontiert ist, nur dann lösen lassen, wenn Wissenschaft und Religion harmonisch zusammenwirken. Erst dann erhalten wir ein kohärentes und ganzheitliches Weltbild, das – wie wir noch sehen werden - nicht nur sehr interessante, sondern vor allem auch unverzichtbare Einsichten für die Gestaltung unseres Lebens bietet.

    Die Notwendigkeit des konstruktiven Zusammenwirkens von Wissenschaft und Glauben entspringt gemäß den Bahá’í-Lehren einem Prinzip, das als »Einheit von Wissenschaft und Religion« bezeichnet wird. Sowohl das Begreifen als auch die praktische Umsetzung dieses wichtigen Prinzips setzt voraus, dass wir ein fundiertes Verständnis von der wahren Natur beider Erkenntnissysteme erwerben. Dieses muss auch die bedeutenden Paradigmenwechsel einschließen, die sich in den letzten 200 Jahren auf beiden Gebieten ereigneten, aber leider noch nicht flächendeckend Eingang in den öffentlichen Diskurs gefunden haben.

    Die intensive Beschäftigung mit dem Prinzip der Einheit von Wissenschaft und Religion stellte sich bald als äußerst spannendes Unterfangen heraus und führte schließlich zu dem Wunsch, die wichtigsten Einsichten zu systematisieren und niederzuschreiben. Grob betrachtet, begegnen sich beide Wissensdomänen im Prozess der Erkenntnisgewinnung auf drei Ebenen:

    › Methodenwissen: Wie kommen wir zu relevanter Erkenntnis?

    › Grundwissen: Woraus besteht die Welt und wie funktioniert sie?

    › Praxiswissen: Was sollen wir tun und welche Prinzipien helfen uns dabei?

    Dieser Systematik folgend, ist das vorliegende Buch der Versuch darzulegen, wie Wissenschaft und Glaube zusammenwirken müssen, sollen relevante und verlässliche Erkenntnisse entstehen. Auf diesem methodischen Verständnis aufbauend, werden im Hauptteil des Buches einige zentrale Eckpfeiler vorgestellt, die aufgrund ihrer Bedeutung in keinem reifen und ganzheitlichen Weltbild fehlen sollten.

    Das komplexe Thema angemessen darzustellen, erwies sich mitunter als große Herausforderung. So galt es, die wesentlichen Aspekte in der nötigen Breite zu behandeln, ohne dabei zu langatmig oder zu oberflächlich zu werden. Inwieweit hier eine sinnvolle Balance geglückt ist, bleibt dem Urteil des Lesers überlassen. Ich möchte nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass ich trotz gründlicher Auseinandersetzung mit den präsentierten Inhalten nicht auf allen behandelten Gebieten Experte sein kann. Ebenso lässt sich bei einem Buch dieser Komplexität nicht ausschließen, dass sich die eine oder andere subjektive Interpretation eingeschlichen haben könnte. In jedem Fall habe ich mich sowohl hinsichtlich der Auswahl der zu den jeweiligen Themen verfügbaren Ansichten und Lehrmeinungen sowie auch bei der Darstellung und Beurteilung der Faktenlage um bestmögliche Objektivität bemüht.

    Insgesamt hege ich die Hoffnung, dass das vorliegende Buch - bei aller Unvollkommenheit - genügend Material für interessante Denkanstöße liefert und zu konstruktiven Diskussionen anregt.

    Zu diesem Buchprojekt haben über die Jahre hinweg verschiedene Personen direkt oder indirekt beigetragen. Den größten Anteil hatte dabei meine Ehefrau Stefanie Merkel, die mich von Beginn an aktiv und unermüdlich unterstützt hat. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle auch die Unterstützung von Dagmar Königer, Sören Rekel-Bludau, Babak Farrokhzad, Miriam Merkel, David Schubert, Bidjan Sobhani, Peter Hörster, Nikolai Merkel sowie des Bahá’í Academic Review Board. Diesen und anderen möchte ich hiermit ganz herzlich danken!

    Holzkirchen im Februar 2021

    Michael Merkel

    PROLOG

    1 Das Spiel des Lebens

    Der Mensch braucht Orientierung

    Das Leben ist ein Spiel, wie alle Spiele sind: Wer's nicht versteht, verliert, Und wer's versteht, gewinnt. JOHANN WILHELM LUDWIG GLEIM

    Leben ist wie Zeichnen ohne Radiergummi. ECKART VON HIRSCHHAUSEN

    Ein Vater spielt mit seiner kleinen Tochter Schach. Beide sitzen einander gegenüber und blicken gebannt auf das Spielbrett mit seinen weißen und schwarzen Feldern. Vater und Tochter wirken sehr konzentriert, während sie abwechselnd ihre Figuren bewegen. Plötzlich springt die Tochter aufgeregt auf, während sie ihren Springer in eine vielversprechende Position bringt. Auch für den Vater scheint dieser Zug unerwartet gewesen zu sein. Verärgert murmelt er etwas von »Anfängerfehler« und einem »verlorenen Turm«. Minutenlang betrachtet er sichtlich angestrengt das Spielfeld, während seine Tochter vor Spannung kaum still sitzen kann. Schließlich bewegt er seinen König ein Feld nach rechts. Ungeduldig schlägt die Tochter den Turm und fährt dadurch ihre Beute ein. Das Spiel setzt sich fort. Mit der Zeit verschwindet die siegesgewisse Mine der Tochter wieder. Nach einigen kleinen Fehlern der Tochter hat der Vater gewonnen und atmet sichtlich auf. Auch die Tochter ist zufrieden, hat sie doch ihren vermeintlich übermächtigen Vater zumindest an den Rand einer Niederlage geführt.

    Die Qualität der einzelnen Spielzüge erschließt sich nur demjenigen, der mit dem Schachspielen vertraut ist. Hierzu gehören neben dem Verständnis vom Ziel des Spiels auch die Kenntnis der Spielregeln und Einsatzmöglichkeiten sämtlicher Spielfiguren. Ein solides Grundwissen allein macht allerdings noch keinen guten Spieler aus. Wie wir am obigen Beispiel gesehen haben, spielt bei einem anspruchsvollen Spiel wie Schach auch die Erfahrung eine entscheidende Rolle. Es ist vor allem das Praxiswissen, das den Spieler befähigt, eine geeignete Spielstrategie zu entwickeln und unter einer Vielzahl an möglichen Zügen die jeweils besten auszuwählen. Vermutlich erfreut sich Schach deshalb so großer Beliebtheit, weil es zahlreiche Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten bietet und sich durch einen offenen Spielverlauf auszeichnet. Diese Eigenschaften machen das Spiel interessant, verleihen ihm Spannung und verlangen gleichermaßen denkende wie auch kreative Spieler.

    Das menschliche Leben ähnelt in vielerlei Hinsicht einem Spiel. Auch hier haben wir schier zahllose Möglichkeiten zu gestalten und Einfluss zu nehmen. Allerdings haben wir im Unterschied zu einem Spiel, welches wir jederzeit noch einmal von vorne beginnen können, nur ein einziges Leben zur Verfügung. In Bezug auf unser Leben steht daher im wahrsten Sinne des Wortes etwas auf dem Spiel. Möchten wir beim »Spiel des Lebens« erfolgreich sein, sollten wir uns gründlich mit der Natur dieses »Spiels« auseinandersetzen und überlegen, was dies für unserer Lebensweise bedeutet.

    — Das Spiel des Lebens

    Grundsatzfragen

    Unser Leben ist im Vergleich zu einem Spiel nicht nur sehr viel bedeutsamer und großartiger, sondern auch wesentlich vielschichtiger und komplexer. Zudem fehlt für das Leben eine offensichtliche »Spielanleitung«, die bezüglich der herrschenden Rahmenbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten Orientierung bietet. Wollen wir dem Spiel des Lebens auf die Spur kommen, müssen wir uns eingehend mit den wesentlichen Grundsatzfragen des Lebens auseinandersetzen und uns auf diese Weise ein reifes Weltbild erarbeiten.

    Betrachten wir nun analog zu den Erfolgsfaktoren eines Spiels wie Schach einige wesentliche Grundsatzfragen zur Lebenskunst, die als Pendant zur Spielanleitung im Rahmen einer tragfähigen Weltsicht zu beantworten sind. Die Abbildung gibt hierzu einen Überblick, der im Folgenden erläutert wird.

    Abb.1: Zentrale Fragen zum »Spiel des Lebens«

    Was sind Ziel und Sinn des Lebens?

    Wer erfolgreich spielen möchte, hat bei jedem Spielzug das Ziel des Spiels fest im Blick und richtet seine Spielzüge bewusst darauf aus. Was aber sind das Ziel und der Sinn unseres Lebens? Gibt es einen übergeordneten, für alle Menschen gleichermaßen gültigen Sinn, oder ist jeder Mensch aufgerufen, seine Bestimmung und seinen Lebenssinn selbst zu definieren? Es ist offenkundig, dass Ziel und Sinn des Lebens nicht wie eine Spielanleitung vorgegeben sind, sondern bewusst erkannt und gewählt werden müssen. Wo aber finden wir geeignete Anhaltspunkte dafür, woran wir diese Entscheidungen festmachen könnten?

    Die Beschäftigung mit dem Sinn unseres Daseins ist eng mit der Frage verknüpft, ob das »Spiel des Lebens« mit dem körperlichen Tod endet, oder ob es danach in irgendeiner Weise weitergeht. Diese Frage ist von fundamentaler Bedeutung, weil wir je nach Antwort unser Leben unter einer völlig anderen Prämisse betrachten und gestalten werden. Jeder Mensch, der ein selbstbestimmtes Leben führen möchte, wird früher oder später über diese und ähnliche Fragen stolpern. Solange Ziel und Sinn unseres Lebens nicht näher bestimmt sind, fehlt es uns an Orientierung und Ausrichtung. Unsere »Lebensspielzüge« sind dann in gewisser Weise beliebig.

    Bei einem Spiel hat auch die Spielweise anderer Spieler einen Einfluss auf die eigene Spielstrategie und Taktik. Sie zwingt dazu, trotz eigener Pläne Anpassungen vorzunehmen und zuweilen sogar fundamental umzudenken. Im echten Leben ist es nicht anders: Weil wir in die Wirklichkeit einer Gesellschaft eingebunden sind, hängt unser persönlicher Gestaltungsspielraum ganz erheblich von der Beschaffenheit unseres gesellschaftlichen Umfelds und ihrem Einfluss auf uns ab. Die hohe Bedeutung der Gesellschaft für die sie bildenden Mitglieder erfordert es, darüber nachzudenken, ob und inwieweit möglicherweise der Gesellschaft selbst ein übergeordneter, kollektiver Sinn und eine gemeinsame Mission innewohnen. Infolgedessen gilt es nicht nur, die Bestimmung des Menschen, sondern auch die der Menschheit näher zu beleuchten. Hierfür ist es zielführend, sich mit dem Wesen des Menschen und der Beschaffenheit der Welt eingehender auseinanderzusetzen.

    Woraus besteht die Welt?

    Beim Spiel des Lebens bildet die Welt mit ihren vielfältigen Phänomenen das »Spielfeld«, auf dem wir agieren. Je gründlicher die Wissenschaft unser Universum erforscht, desto deutlicher tritt zutage, wie außerordentlich ästhetisch, aber auch komplex unsere Welt beschaffen ist. Wissenschaftler haben sich längst daran gewöhnt, dass die Erklärung untersuchter Phänomene immer neue Fragestellungen aufwirft, deren Beantwortung zu einem sich stetig vertiefenden Verständnis der Welt des Seins führt. Während das wissenschaftliche Weltbild noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend mechanistisch und materialistisch geprägt war, hat vor allem die Erforschung verschiedener Quantenphänomene ein radikales Umdenken erzwungen. Heute zeichnet die moderne Wissenschaft das Bild einer Welt, die weit mehr ist, als uns ihre materielle Oberfläche vorgaukeln will.

    Sollte die Beschaffenheit der Welt tatsächlich nicht rein materiell sein, wie verhält es sich dann mit dem Menschen, der Teil dieser Welt ist? Wäre es gemäß dieser Erkenntnis für moderne Menschen nicht geradezu ein Muss, in Erwägung zu ziehen, dass auch der Mensch eine über die Materie hinausgehende Dimension besitzen könnte? Sollten wir tatsächlich eine immaterielle, vom Körper unabhängige Identität – zumeist Seele genannt – besitzen, dann wäre es nur folgerichtig, dass wir uns auch mit der Beschaffenheit dieser besonderen Dimension auseinandersetzen. Wir müssten unser Leben aus einer deutlich erweiterten Perspektive betrachten und überdenken, welche Konsequenzen dies für das Verständnis vom Wesen des Menschen hätte. Unser Menschenbild wäre dann womöglich um relevante Attribute und Aspekte zu ergänzen.

    Die Frage nach der Existenz einer Seele ruft unmittelbar die Frage nach der Existenz Gottes auf den Plan. Wer nach einem reifen und vollständigen Weltbild strebt, kommt nicht umhin, zu untersuchen, welche Argumente für und welche gegen eine solche Hypothese sprechen. Denn ähnlich der Annahme einer Seele, verändert auch die Annahme eines Gottes unser Weltbild erheblich und wirft zwangsläufig weitere Fragen auf, wie zum Beispiel: Kann man Gott erkennen? Lassen sich Aussagen zu seinen Attributen treffen und Merkmale der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf finden? Hat Gott eine Absicht für den Menschen? Und, um noch einmal auf die Spielanalogie zurückzukommen: Könnten sich aus dieser Quelle möglicherweise zentrale Hinweise im Sinne einer »Spielanleitung« für unser Leben ergeben?

    Welche Gesetze herrschen im Universum?

    Unser Universum zeichnet sich durch zahlreiche Gesetzmäßigkeiten aus, die sich aus den Beziehungen zwischen den verschiedenen Elementen ergeben. Eine Vielzahl dieser Regeln erleben wir tagtäglich. So unterliegen wir Menschen als Teil der physikalischen Schöpfung zwangsläufig den dort herrschenden Naturgesetzen. Wir müssen regelmäßig Essen und Trinken, uns vor Wind und Wetter schützen sowie weitere physikalische Gegebenheiten beachten, wenn wir überleben wollen. Auch werden wir im Laufe der Zeit nicht jünger, sondern sind einem natürlichen und zwangsläufigen Alterungsprozess ausgesetzt, der schließlich mit dem körperlichen Tod endet.

    Interessant und zugleich enorm wichtig ist nun die Frage, ob auch außerhalb der physikalischen Realität gesetzesartige Zusammenhänge existieren. Da bereits die moderne Physik deutliche Hinweise auf immaterielle Daseinsbereiche liefert, sollten wir in Betracht ziehen, dass auch diese Dimensionen Gesetzen unterliegen. Unser Erfolg im »Spiel des Lebens« wird entscheidend davon abhängen, diejenigen Gesetzmäßigkeiten zu begreifen, die für unser Menschsein auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene von besonderer Bedeutung sind.

    Praxiswissen zur individuellen und kollektiven Lebenskunst

    Um erfolgreich handeln zu können, reicht die Auseinandersetzung mit zentralen philosophischen Fragestellungen nicht aus. Wie bei einem Spiel, müssen wir zusätzlich über relevantes Praxiswissen verfügen. Das für unser Handeln wichtige praktische Wissen ergibt sich, wenn wir uns fragen, was uns das Verständnis vom Sinn des Lebens und der Beschaffenheit der Welt im Hinblick auf unsere Lebensgestaltung lehrt. Analog zur Spielstrategie und Spieltaktik eines Schachspielers benötigen wir für eine bewusste Gestaltung unseres Lebens sowohl einen übergeordneten Lebensplan als auch ein Verständnis von einer zielführenden Organisation des Alltags.

    Einem sinnstiftenden Leben können wir uns dadurch annähern, dass wir wesentliche Lebensaufgaben definieren, die im Einklang mit den gewonnenen ontologischen Erkenntnissen, insbesondere unserem Menschenbild, stehen. Unsere Lebensaufgaben liefern die Grundlage für eine langfristige Lebensplanung. Darauf aufbauend ergibt sich weiteres handlungsorientiertes Wissen, wenn wir der Frage nachgehen, wie sich die im Universum existierenden Gesetze zur Erreichung unserer großen Lebensaufgaben und zur Bewältigung des Alltags effektiv nutzen lassen. Je gründlicher wir materielle und gegebenenfalls auch metaphysische Gesetzmäßigkeiten verstehen, desto besser können wir von ihnen für die Gestaltung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens profitieren.

    Beispielsweise erlaubt die Kenntnis um das Gesetz der Schwerkraft die Konstruktion von Wasserkraftwerken. Der dadurch produzierte Strom lässt sich in vielfältiger Weise zur Erleichterung und Bereicherung unseres Lebens nutzen. Umgekehrt gerät die Missachtung wesentlicher Gesetze schnell zu unserem Nachteil. So führt, um noch einmal das Beispiel der Schwerkraft zu bemühen, ein Sprung von einem Turm in aller Regel zum Tod.

    Alle Gesetze des Universums gelten in unveränderter Weise, ganz gleich, ob wir sie anerkennen oder ignorieren, ob sie uns gefallen oder nicht. Daher sollten sie, Leuchttürmen gleich, beachtet werden. Sind die Prinzipien und Normen menschlichen Handelns sinnvoll definiert, bilden sie in verschiedenen Lebenssituationen den Rahmen, in dem die bestehenden Gesetze in positiver Weise wirken können. Wie bei einem Spiel führt damit auch im wahren Leben erst ein angemessenes Praxiswissen zu wahrer Lebenskunst.

    — Kandidaten verlässlicher Orientierung

    Wissenschaft oder Glaube?

    Auf der Suche nach Antworten

    Leider lassen sich weder philosophische Grundsatzfragen noch praktische Fragen zur persönlichen und gesellschaftlichen Lebensgestaltung einfach beantworten. Unsere subjektiven Überlegungen und begrenzten Erfahrungen greifen hier schlichtweg zu kurz. Wie also kommen wir zu tragfähigen und befriedigenden Antworten auf die großen Lebensfragen? Die Suche nach aussichtsreichen Quellen für eine verlässliche Orientierung führt unweigerlich zu Wissenschaft und Religion als mögliche Kandidaten. So sind es neben persönlichen Erfahrungen in erster Linie Erkenntnisse wissenschaftlicher oder religiöser Natur, die Menschen in ihren philosophischen Überlegungen beeinflussen und ihre Weltanschauung bestimmen.

    In der Vergangenheit vermittelte vor allem die Religion hinsichtlich der großen Lebensfragen Orientierung. Tatsächlich waren alle großen Weltreligionen in ihrer ursprünglichen und reinen Form sowohl metaphysische Welterklärer als auch Moralgeber und Sinnstifter. Zumeist in einer Zeit sittlichen Verfalls entstanden, war der Glaube stets die treibende Kraft dafür, dass Menschen ihr Leben neu ausrichteten und so zur Entwicklung einer neuen Hochkultur beitrugen. Spätestens mit der Renaissance nahmen allerdings der Einfluss und die Bedeutung der Religion spürbar ab. Im Gegensatz dazu erlebte die Wissenschaft in den letzten Jahrhunderten einen wahren Höhenflug. Sie brachte zahlreiche Erkenntnisse hervor und erweiterte unser Verständnis von der Welt in ungeahnter Weise. Die Tiefe unserer wissenschaftlichen Einsichten und Errungenschaften zeigt sich heute eindrucksvoll in den vielfältigen Wundern der Technik, die das Angesicht der Welt dramatisch veränderten. Darüber hinaus inspirierte die Wissenschaft viele Denker in ihren Überlegungen zu weltanschaulichen Fragen.

    Wissenschaft oder Glaube?

    Zur Frage, welche Rolle Wissenschaft und Glaube in der heutigen Zeit spielen und welchen Beitrag sie zur Beantwortung der großen Lebensfragen und zur praktischen Lebensgestaltung liefern können, herrschen sehr unterschiedliche Meinungen. Diskussionen zu dieser Frage sind häufig unsachlich und emotional geprägt. Sie belegen, dass vielfach davon ausgegangen wird, dass sich Wissenschaft und Glaube grundsätzlich gegenseitig ausschließen. Das hat zur Folge, dass wissenschaftsgläubige Menschen keinen Anlass dafür sehen, die Grundlage der Religion ernsthaft zu untersuchen. In ähnlicher Weise erachten viele überzeugte Gläubige die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen als nachrangig, wenn nicht gar unnötig.

    Daher mag die übergreifende These des vorliegenden Buches, nach der Wissenschaft und Glaube auch heute noch die beiden wesentlichen Erkenntnisquellen darstellen, für viele zunächst überraschend anmuten. Wie sich zeigen wird, sind Wissenschaft und Glaube nicht nur miteinander verträglich, sondern bilden eine schlagkräftige, synergetische Einheit.

    Warum das Prinzip der Einheit von Wissenschaft und Glauben noch nicht weitläufig erkannt wird, hängt vorwiegend damit zusammen, dass viele Menschen mit Wissenschaft und Glauben noch Vorstellungen verbinden, die inzwischen überholt sind. Tatsächlich ereigneten sich sowohl in der Wissenschaft als auch in der Religion vor allem in den letzten knapp 200 Jahren, zum Teil völlig unbemerkt, gravierende Paradigmenwechsel, die ein völlig neues Licht auf unser Verständnis der Realität werfen.

    Im Falle der Wissenschaft erschütterte insbesondere die Entwicklung von Quantenphysik und Relativitätstheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts das damals etablierte materialistisch-mechanistische Bild des Universums. Seitdem lehren uns Physiker, dass Materie, Zeit und Raum ihrer Natur nach fundamental anders sind, als es sich der gesunde Menschenverstand gemeinhin vorstellt. Wie später noch auf vielfältige Weise erläutert werden wird, zeichnet die heutige Wissenschaft ein Bild von der Welt, in dem auch ein moderner Glaube einen wichtigen und angemessenen Platz hat. Unbemerkter als in der Wissenschaft ereignete sich auch auf dem Gebiet der Religion ein fundamentaler Paradigmenwechsel. So wird der im 19. Jahrhundert entstandene Bahá’í-Glaube zwar inzwischen von der Religionswissenschaft zu den Weltreligionen gezählt, aber seine modernen und zum Teil bahnbrechenden Inhalte sind der breiten Öffentlichkeit bislang noch weitgehend unbekannt.

    Die Entwicklungen innerhalb beider Wissensdomänen führen zur Notwendigkeit, die gängigen Meinungen zu Wesen und Bedeutung von Wissenschaft und Glauben gründlich zu überdenken.

    Die Einheit von Wissenschaft und Glauben

    Das vorliegende Buch möchte aufzeigen, dass es heute – vielleicht erstmalig - möglich ist, objektive Antworten auf die großen weltanschaulichen Fragen zu erhalten. Tatsächlich haben wir heute alle Mittel zur Verfügung, die es uns erlauben, die Spreu vom Weizen zu trennen und wertvolle weltanschauliche Bruchstücke zu einem schlüssigen und der heutigen Zeit angemessenen Gesamtbild zusammenzufügen. Wie sich noch zeigen wird, ergibt sich eine ganzheitliche Orientierung gemäß dem Prinzip der Einheit von Wissenschaft und Glauben allerdings erst dann, wenn wissenschaftliches Verständnis und religiöse Einsicht gleichermaßen ernst genommen und in Betracht gezogen werden. Nur dann, wenn die verschiedenen Teilwahrheiten moderner Wissenschaft und wahren Glaubens geeignet verknüpft werden, offenbaren sich die hinter der Oberfläche liegenden, großartigen Zusammenhänge. Hierbei liegt die Betonung bewusst auf »modern« in Abgrenzung zu einer unnötig verengten oder unseriösen, pseudowissenschaftlichen Sichtweise sowie »wahr« im Sinne eines möglichst objektiven und auf Vernunft gegründeten Zugangs zu metaphysischen und religiösen Fragestellungen.

    Die vorliegende Schrift bietet eine umfangreiche Einführung in das fundamentale Prinzip der Einheit von Wissenschaft und Glauben. Dabei begegnen sich moderne Wissenschaft und wahrer Glaube auf drei Erkenntnisebenen: Grundwissen, Praxiswissen und Methodenwissen. Analog zum tiefen Verständnis eines Spiels sind auch im Hinblick auf eine ganzheitliche und reife Weltsicht vor allem die beiden erstgenannten Dimensionen entscheidend. So verhilft uns ein möglichst breites und gleichzeitig tiefes Grundwissen von der Welt zu einem umfassenden Verständnis des Seins, das auch die Rolle und die Natur von Mensch und Menschheit einschließt. Ergänzend dazu bildet das Praxiswissen die handlungsorientierte Seite unserer Weltsicht. Wie sich erweisen wird, tragen Wissenschaft und Glaube zu beiden Wissensdimensionen in erheblichem Maße bei, weil sich ihre jeweiligen Kernkompetenzen wirksam ergänzen und in ihren Überschneidungsbereichen gegenseitig stützen.

    Das Muster der überschneidenden Komplementarität zeigt sich nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf methodischer Ebene, wenn wir uns fragen: »Wie kommen wir zu Erkenntnis?« Wie wir noch sehen werden, bilden Wissenschaft und Glaube auch in diesem Bereich eine Einheit, da sie in ihrer grundlegenden Methodik übereinstimmen und sich gleichzeitig aufgrund ihrer naturgemäßen Unterschiede wirksam ergänzen. Auf welche Weise beide Domänen zu einer ganzheitlichen Weltsicht beitragen, zeigt sich, wenn man das Wesen wissenschaftlicher und religiöser Erkenntnis genauer analysiert.

    — Gebrauchsanweisung für den Leser

    Wo finde ich was?

    Das vorliegende Buch ist entsprechend dieser Zusammenhänge strukturiert. Wie in Abbildung 2 dargestellt, beinhaltet es neben dem Prolog 26 weitere Kapitel, die in die Teile I bis V, ein Intermezzo und einen abschließenden Epilog gegliedert sind.

    Abb.2: Eckpfeiler einer reifen Weltsicht: der Aufbau des Buchs

    Die behandelten Themenblöcke

    Teil I Die Notwendigkeit klarer Orientierung zeigt auf, dass nicht nur die ungeheure Komplexität, die unsere Welt heute kennzeichnet, sondern auch die Grundsatzfrage der Ethik »Was sollen wir tun?« verlässlicher Orientierung bedarf. Der Versuch, die Rolle zu klären, welche die beiden großen Erkenntnissysteme Wissenschaft und Glaube bei der Entwicklung eines reifen Weltbildes spielen können, führt zur Frage nach der Natur menschlicher Erkenntnis.

    Teil II Die Grenzen menschlicher Erkenntnis beleuchtet den philosophischen Zweig der Erkenntnistheorie. Am Beispiel der wesentlichen Erkenntnisstrategien des Rationalismus und Empirismus wird die bekannte philosophische Tatsache aufgezeigt, dass es für den Menschen in letzter Konsequenz kein absolut sicheres Wissen geben kann.

    Teil III Wie die Wissenschaft Wissen schafft fasst die wesentlichen Ergebnisse der Wissenschaftstheorie zusammen. In einiger Ausführlichkeit werden die grundlegenden Elemente wissenschaftlicher Forschung erläutert, die zur Entwicklung von immer umfassenderen wissenschaftlichen Paradigmen führen. Die wissenschaftliche Methodik erklärt, wie allen erkenntnistheoretischen Grenzen zum Trotz der fulminante Höhenflug der Wissenschaft möglich werden konnte.

    Teil IV Die Wissenschaft des Glaubens behandelt die Rolle der Religion als Erklärer metaphysischer Wahrheit. Eine Analyse der Natur religiöser Wahrheit und »wahren« Glaubens anhand der Lehren der jüngsten Weltreligion weist erstaunliche Parallelen zu den Ergebnissen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie auf. Insbesondere lässt sich die Evolution religiöser Wahrheit als Werden und Vergehen großer Paradigmen in Form aufeinander folgender Offenbarungen verstehen. Dies macht auch die offenkundige Dekadenz und Kraftlosigkeit der traditionellen Religionssysteme plausibel.

    Im Intermezzo werden die Erkenntnisse der Teile III und IV zusammengeführt. Hieraus ergeben sich einige wesentliche Merkmale des Prinzips der Einheit von Wissenschaft und Glauben. Wirken beide Domänen ihrer Natur entsprechend zusammen, werden großartige Synergien frei. Die Folge davon ist ein Weltbild von bisher unerreichter Ganzheitlichkeit und Tiefe.

    Teil V Eckpfeiler einer reifen Weltsicht ist bei weitem am umfangreichsten und bildet den inhaltlichen Schwerpunkt des Buches. Dort werden im Lichte der Einheit von Wissenschaft und Glauben eine Reihe von Themen behandelt, die für unser Verständnis der Welt, unser grundlegendes Lebensgefühl und die sinnstiftende Gestaltung unseres Lebens von besonderer Bedeutung sind. Sowohl die Antworten auf die großen Fragen nach Geist, Gott, Menschen- und Menschheitsbild als auch die Kenntnis zentraler Prinzipien, die heutzutage das individuelle und kollektive Leben der Menschen leiten müssen, sollten in keinem reifen und ganzheitlichen Weltbild fehlen.

    Der Epilog rundet die Darstellung ab, indem er die Bedeutung der skizzierten Weltsicht zu den turbulenten Zeiten, die wir aktuell erleben, in Beziehung setzt.

    Die Nutzung der Kurzfassungen

    Mit rund 650 Seiten (in der gedruckten Fassung ohne Anhang) ist das Buch recht umfangreich geworden. Wie der Aufbau deutlich macht, haben die Teile I bis IV in erster Linie eine hinführende Aufgabe. Vor allem im Hinblick auf die Einführungen zu Ethik, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie hätte daher die Möglichkeit bestanden, die wesentlichen Inhalte lediglich sehr knapp zusammenzufassen oder gar vollständig auf die einschlägige Literatur zu verweisen. Für eine derartig schlanke Darstellung würde auch die Beobachtung sprechen, dass Menschen im Digitalzeitalter immer seltener klassische Sachbücher lesen, geschweige denn sehr umfangreiche Abhandlungen.

    Das Buch dennoch in der aktuellen, umfangreichen Form zu belassen, war eine bewusste Entscheidung. So können sich auch Leser mit geringer philosophischer Vorbildung komfortabel in die grundlegenden Konzepte einlesen, ohne weitere Literatur heranziehen zu müssen. Um andererseits zu vermeiden, die mit diesen Grundlagen bereits vertrauten Leser unnötig zu langweilen, wurde jedes Kapitel am Ende mit einer Kurzfassung versehen, in der die wesentlichen Inhalte knapp zusammengefasst sind. Dies erlaubt es dem Leser auch, sich mit speziellen Themen zu beschäftigen, ohne gleich das gesamte Buch lesen zu müssen. So ist es ohne Verlust des roten Fadens möglich, einzelne Kapitel oder sogar ganze Teile auszulassen, sofern zuvor die entsprechenden Kurzfassungen gelesen werden.

    TEIL I.

    DIE NOTWENDIGKEIT KLARER ORIENTIERUNG

    2 Wirren der Gegenwart

    Die Komplexität der globalen Krise

    Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen. CHINESISCHES SPRICHWORT

    Das Wort Krise setzt sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen – das eine bedeutet Gefahr und das andere Gelegenheit. JOHN F. KENNEDY

    Migration ist eines der Themen, welches aufgrund seiner zunehmenden Brisanz sehr viele Menschen bewegt. So wird auch in Deutschland spätestens seit 2015 äußerst heftig und kontrovers über die Migrationsthematik debattiert. Der öffentliche Diskurs ist auffallend emotionsbehaftet und zeichnet sich unter anderem durch simplifizierte Meinungen, moralische Zuschreibungen, vorurteilsbehaftete Standpunkte und manipulative Meinungsmache aus. Die Debatte zeigt, wie sehr sich diejenigen, die für eine Abschottungsregelung plädieren, darüber empören, mit vermeintlich »fremden« Problemen konfrontiert zu werden, für die sie sich weder verantwortlich noch zuständig fühlen. Sie offenbart aber auch die Ohnmacht jener, die vom Leid und Schicksal der Menschen betroffen, erkennen müssen, dass weit und breit keine ernst zu nehmenden Lösungen in Sicht sind, zu denen sie beitragen könnten. Die gegenwärtigen Maßnahmen scheinen in Anbetracht der gewaltigen Herausforderungen als unzureichendes Flickwerk, als der berüchtigte Tropfen auf dem heißen Stein.

    Flüchtlinge verlassen zumeist nicht ohne triftigen Grund ihre Heimat. Sie flüchten in der Regel vor Bedingungen, die ein menschenwürdiges und sicheres Leben verunmöglichen. Die Ursachen der aktuellen Flüchtlingsströme liegen in unerträglichen und aussichtslosen Lebenswirklichkeiten wie Krieg, Unterdrückung, Ausbeutung, Terror, Armut, Verfolgung, Diskriminierung oder Umweltzerstörung. Diese destruktiven Lebensumstände sind auf vielschichtige und multikausale Fehlentwicklungen zurückzuführen, welche die betreffenden Länder in der Regel nicht allein und autonom abwenden können. Das Thema Migration hält der Menschheit schonungslos den Spiegel vor. Es enthüllt, dass in Bezug auf die Lebensrealitäten eine bedrohliche Schieflage vorliegt, die von extrem komplexer Natur ist. Angesichts dieser fundamentalen Ungleichheiten hilft es nicht weiter, kommunal, auf Länderebene oder nationalstaatlich nach Lösungen zu suchen, so begrüßenswert dies auch sein mag. Selbst eine größere Gemeinschaft wie die Europäische Union wird hier keinen nachhaltigen Ausweg weisen können. Der Kern des Problems ist von globaler Natur und erfordert daher ein vereintes, engagiertes Handeln im übernationalen Kontext, weit über die Anstrengungen einzelner Aufnahme- und Herkunftsländer hinaus.

    — Wendezeit

    Wohin führt die globale Krise?

    Die Flüchtlingsproblematik ist, wenn auch schwerwiegend, leider nur eines von vielen Übeln, welche die Menschheit heute plagen. In Summe führen das Zusammentreffen mannigfacher Probleme und die Verkettung vieler destruktiver Umstände zu einer komplexen Krise globalen Ausmaßes. Diese Erkenntnis ist nicht neu. »Was wir heute an der Neuzeit am unausweichlichsten wahrnehmen, … ist ihre Krise«¹, bemerkte schon der deutsche Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007). Und auch der österreichische Physiker und Systemtheoretiker Fritjof Capra (*1939) wies bereits 1982 in seinem Bestseller Wendezeit auf die Tiefe und Vielgestaltigkeit dieser weltweiten Krise hin: »[Wir] befinden … uns inmitten einer tiefgreifenden, weltweiten Krise. Es handelt sich um eine vielschichtige, multidimensionale Krise, deren Facetten jeden Aspekt unseres Lebens berühren – unsere Gesundheit und Lebensführung, die Qualität unserer Umwelt und unsere gesellschaftlichen Beziehungen, unsere Wirtschaft, Technologie und Politik. Es ist eine Krise von intellektuellen, moralischen und spirituellen Dimensionen, von einem Umfang und einer Eindringlichkeit, wie sie in der aufgezeichneten menschlichen Geschichte ohne Beispiel dasteht. Zum ersten Male sind wir von der sehr realen Gefahr der Auslöschung der menschlichen Rasse und des gesamten Lebens auf diesem Planeten bedroht.«²

    Seitdem diese Zeilen vor fast 40 Jahren niedergeschrieben wurden hat sich die Krise weiter zugespitzt und der mit ihr verbundene Umwälzungsprozess wird Tag für Tag deutlicher. Nach Meinung des österreichischen Wirtschaftswissenschaftlers Fredmund Malik (*1944) ist eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation im Gange, die ihresgleichen in der Geschichte sucht: »Wirtschaft und Gesellschaft so gut wie aller Länder gehen durch eine der fundamentalsten Umwandlungen der Geschichte… Wir sind Zeitzeugen einer umwälzenden Transformation der alten Welt, wie wir sie kannten, in eine neue Welt des noch Unbekannten. Es ist die Entstehung einer grundlegend neuen Ordnung und eines neuen gesellschaftlichen Funktionierens – und eine gesellschaftliche REvolution einer neuen Art. In wenigen Jahren wird fast alles neu und anders sein: was wir tun, wie wir es tun und warum wir es tun – wie wir produzieren, transportieren, finanzieren und konsumieren, wie wir pflegen und heilen, erziehen, lernen, forschen und innovieren, wie wir informieren, kommunizieren und kooperieren, wie wir arbeiten und leben³

    Man fragt sich zu Recht: Wird diese »Welt des noch Unbekannten« menschenwürdig und erstrebenswert sein? Wird sich die gegenwärtige Krise zum Guten wenden oder in einer Katastrophe enden? Aktuell scheint offen, wohin die Reise geht. Eines wird jedoch immer deutlicher: Möchte die Menschheit die unzähligen Missstände und Gefahren abwenden, muss sie dazu die hinter den Symptomen liegenden Ursachen erkennen, ausgerichtet an einer zukunftsfähigen Vision tragfähige Lösungen entwickeln und diese schließlich, einer Herkulesarbeit gleich, Schritt für Schritt beherzt und systematisch umsetzen. In den folgenden Abschnitten werden die Entstehung sowie die Hauptmerkmale der aktuellen Krise skizziert, um ein besseres Verständnis ihrer Ursachen zu gewinnen. Begonnen hat alles mit einer Entwicklung, die an sich sehr positiv ist: dem wissenschaftlichen Fortschritt.

    — Untertan Erde

    Die Explosion von Wissen und Technologie

    Seitdem im Alten Testament Gottes Auftrag an den Menschen, sich die Erde untertan zu machen, formuliert wurde, ist viel geschehen. Der Mensch erforscht mittlerweile nicht nur die unendlichen Weiten des Weltalls, sondern blickt auch bis ins Innerste der Atome. Unaufhaltsam entlockt er der Schöpfung Geheimnisse und nutzt diese geschickt, um die einst von der Natur gesetzten Grenzen stetig auszuweiten. Beinahe täglich werden wir Zeuge neuer Entdeckungen und Möglichkeiten.

    Die Wissensexplosion

    Dabei entwickelte sich unser Wissen über die Zeit hinweg nicht gleichmäßig. Vielmehr wurden die Zyklen, in denen sich das menschliche Wissen jeweils verdoppelte, beständig kürzer. Während es noch etwa 100 Jahre dauerte, bis das Wissen von 1850 auf das Doppelte anstieg, sind wir heute, je nach Definition von Wissen, schon bei Verdopplungszyklen von wenigen Jahren, wenn nicht gar Monaten, angelangt.

    Noch wichtiger als die quantitative Zunahme des Wissens sind die Qualität und Relevanz unserer Erkenntnisse. Die zunehmende Tiefe unseres Verständnisses von der Welt versetzt uns in die Lage, machtvolle Instrumente zu entwickeln. Richtig eingesetzt, können diese technologischen Innovationen unser Leben erleichtern und uns bis dato unvorstellbare Freiheiten und Möglichkeiten verschaffen. Vieles, was für uns heute alltäglich ist, hätte noch vor 150 Jahren als undenkbares Wunder gegolten. Angenommen, wir könnten mittels einer Zeitreise in das Jahr 1850 gelangen - wie könnte man den Menschen dort unsere digitalisierte Welt erklären? Wie ließe sich beispielsweise ein PC, ein Smartphone oder eine Playstation beschreiben? Vermutlich würden wir keine geeignete Beschreibung finden, anhand derer sich ein Mensch des 19. Jahrhunderts eine realistische Vorstellung von unseren technischen Geräten machen, geschweige denn ihre Funktionsweise auch nur ansatzweise begreifen könnte.

    Herausforderungen im Umgang mit machtvoller Technologie

    Nun ist natürlich nicht alles, was heute möglich ist, auch risikolos einsetzbar. Jede neue Möglichkeit hat in aller Regel auch eine Schattenseite, mit der es angemessen umzugehen gilt. So kann beispielsweise unser Wissen um die Eigenschaften der Atome auf sehr unterschiedliche Weise genutzt werden: entweder zur Herstellung von Massenvernichtungsmitteln mit unvorstellbarer Zerstörungskraft oder aber zur Erzeugung von Strom – welch fundamentaler Unterschied! Aber selbst die friedliche Nutzung der Atomkraft zur Energieerzeugung ist, wie wir alle wissen, nicht unproblematisch. So stellt sich bei den heutigen Kernkraftwerken neben der Sicherheitsfrage vor allem die Frage nach der sicheren Lagerung des unvermeidbaren atomaren Abfalls.

    Ein weiteres Beispiel stellt die stetig voranschreitende Digitalisierung dar. Dieses vergleichsweise noch sehr junge Phänomen revolutioniert unsere Arbeitsund Lebenswelten und erlaubt uns völlig neue und großartige Möglichkeiten des Informationsaustausches und der Zusammenarbeit. Was wäre unsere heutige Gesellschaft ohne sie? Allerdings verläuft der Prozess der Digitalisierung gleichermaßen rasant wie unterschwellig. Tatsächlich ist vielen die Tragweite des sich bereits am Horizont abzeichnenden Digitalisierungstsunamis noch gar nicht bewusst. So ist die Gesellschaft beispielsweise nicht darauf vorbereitet, dass in absehbarer Zeit möglicherweise eine gewaltige Anzahl ihrer Bürger im vorherrschenden Wirtschaftssystem keinen Platz mehr haben wird. Es ist dringend zu klären, wie der Prozess der Digitalisierung in Anbetracht seiner vielfältigen Konsequenzen sinnvoll zu gestalten ist. Wer wäre in der Lage, hierzu die notwendigen Rahmenbedingungen vorzugeben?

    Die durch den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt entstandenen neuen Möglichkeiten sind nicht nur untrennbar mit einer Entscheidungs- und Gestaltungsaufgabe verknüpft. Je nachdem, wo die Entscheidungsgewalt liegt, stellt sich zudem die Machtfrage, die ebenfalls eine Lösung erfordert. Wer ist legitimiert zu entscheiden, welche Technik in welcher Form eingesetzt werden darf? Kann es beispielsweise auf Dauer funktionieren, dass der Westen bestimmt, welche Länder über atomare Technologien verfügen dürfen?

    Doch damit nicht genug: Mit dem ungeheuren Fortschritt in Wissenschaft und Technik gehen auch die beiden Mega-Trends der Globalisierung und der Individualisierung einher, welche die Herausforderung, mit den vorhandenen Möglichkeiten vernünftig und zum Wohle aller Menschen umzugehen, weiter erschweren. Um diese beiden Trends soll es in den folgenden Abschnitten gehen.

    — Megatrend Globalisierung

    Globales Dorfleben

    Unter Globalisierung versteht man den Prozess der zunehmend grenzüberschreitenden und weltweiten Verflechtung von Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft, Umwelt, Politik und Kultur. Diese Bereiche sind untereinander durch eine große Anzahl verwobener Prozesse zur Gewinnung und Verteilung von Waren, Energie, Rohstoffen, Kapital, Technologien, Informationen und Dienstleistungen verbunden. Die sich daraus ergebende Vielzahl gegenseitiger Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen zeigt sich auf der Ebene von Individuen, Institutionen, Gesellschaften und Staaten.

    Die Allgegenwart der Globalisierung

    Der deutsche Kabarettist Urban Priol (*1961) verdeutlichte die Allgegenwart der Globalisierung gleichsam unterhaltsam und plastisch am Beispiel des tragischen Unfalltodes von Lady Di: »Diana stammte aus England, ihr Freund aus Ägypten. Beide starben in einem Tunnel in Frankreich in einem Wagen aus Deutschland mit einem Motor aus Holland und einem Fahrer aus Belgien. Der hatte Whiskey aus Schottland im Blut. Paparazzi aus Italien verfolgten sie auf japanischen Motorrädern. Ärzte aus Amerika leisteten Erste Hilfe mit Medikamenten aus Brasilien. Den Untersuchungsbericht schrieb ein Luxemburger auf einem chinesischen PC mit Chips aus Taiwan, Monitor aus Korea und einer Tastatur aus Vietnam. Arbeiter aus Bangladesch hatten den PC in Singapur zusammengesetzt. In der Fabrik eines Inders. Und die Trümmer des Unfallautos entsorgten algerische Müllmänner, um den Wagen bei Auto-Osman aus der Türkei für den Export in den Libanon fertig zu machen.«

    Darüber, wann genau der Prozess der Globalisierung begann, bestehen unterschiedliche Ansichten. Uneingeschränkte Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass er sich speziell in den letzten Jahrzehnten im Zuge des explodierenden technischen Fortschritts ungeheuer beschleunigte. Hierzu trugen unter anderem die modernen Transport- und Kommunikationstechnologien bei. Durch die technische Revolution wurden quasi sämtliche räumlichen und zeitlichen Grenzen aufgehoben. Die neuen Möglichkeiten machten uns mobil und unseren Heimatplaneten klein. Der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan (1911-1980) prägte hierfür bereits 1962 den Begriff »Global Village«. Was dem Fußgänger und Kutschenfahrer von einst noch als unendliche Weite erschien, ist für den mit Smartphone und Laptop ausgestatteten Flugzeugnutzer zu einem globalen Dorf geschrumpft. Dieses Schrumpfen der Maßstäbe und das damit verbundene Zusammenrücken der Menschen zeigt sich heute in allen Lebensbereichen.

    Wirtschaft

    Betrachten wir zunächst den Wirtschaftssektor. Weltweiter Handel ist keine neue Erscheinung und seine Geschichte reicht weit zurück. Genau genommen war wirtschaftliches Handeln von Anfang an eine grenzüberschreitende Angelegenheit, in der politische Barrieren stets künstliche Hindernisse darstellten. Wirtschaftliche Arbeitsteilung folgt wirtschaftlichen, technischen und geografischen Gegebenheiten weitaus mehr als willkürlich gezogenen, politischen Grenzen. So ist es nur logisch, dass der stets nach Expansion und größtmöglichem Wachstum strebende Wirtschaftssektor die neuen technologischen Möglichkeiten sehr schnell zu seinem Vorteil nutzte. Sie verhalfen ihm zu bisher ungeahnten Möglichkeiten des Handels und der Produktion. In dem Maße, wie die Transportmittel schneller, effizienter und sicherer, und gleichzeitig die Transportkosten gesenkt wurden, nahm der internationale Handel signifikant zu und eroberte neue Märkte. Ausgeklügelte Computer- und Logistiksysteme verbanden problemlos weit entfernte Gebiete und eröffneten der Wirtschaft die Möglichkeit, sich global zu organisieren und einzurichten. Im Zuge dieser förderlichen Voraussetzungen war es aus ökonomischer Sicht nur folgerichtig, mittels Liberalisierung und Deregulierung sukzessiv Regelungen und Vorschriften abzuschaffen, die das globale Wirtschaftswachstum bremsten. Heute agiert die Wirtschaft global, stets davon getrieben, die verfügbaren Ressourcen und regionalen Vorteile bestmöglich zu nutzen. Kapital-, Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte sind mittlerweile längst zusammengewachsen. In diesem Zuge haben sich die einst weitgehend selbstständig agierenden Volkswirtschaften zusehends aufgelöst und sind zu einer Weltwirtschaft verschmolzen. Was zu Urzeiten mit persönlichen Tauschgeschäften begann, führte über regionale, überregionale, nationale und kontinentale Märkte schließlich zum globalen Handel.

    Wissenschaft

    Wie die Wirtschaft war auch die Wissenschaft ihrer inneren Logik nach für die Globalisierung prädestiniert. Für den wissenschaftlichen Entdeckergeist ist stets die Welt als Ganzes mit ihren unzähligen Phänomenen Ziel seines Interesses. Mit wachsenden technischen Möglichkeiten dehnte sich auch der Erkundungskreis der Wissenschaftler aus. Schritt für Schritt wurde die ganze Erde, ja das gesamte Universum, zum Ziel wissenschaftlicher Forschung und bewirkte das Entdecken immer neuer Phänomene und Zusammenhänge. Der technische Fortschritt ermöglichte es, sich mit den Forschern anderer Nationen, unabhängig ihrer Herkunft, Religion oder Kultur auszutauschen und der Lösung wissenschaftlicher Rätsel gemeinsam näher zu kommen. Die drastische Zunahme der weltweiten Zusammenarbeit von Forschern und die Entwicklung von internationalen Forschungsprojekten und Studien belegen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in vielen Fällen bereits längst ein globales Unterfangen geworden sind.

    Politik

    Auch die Politik zeigt einen unübersehbaren Globalisierungstrend. Im Vergleich zu Wirtschaft und Wissenschaft gestaltet sich der Übergang von nationalen Ordnungsprinzipien zu global agierenden Organisationen jedoch schleppend. Wenngleich erste ernsthafte Bemühungen hierzu bereits vor hundert Jahren mit der Gründung des Völkerbundes unternommen wurden, erfolgt die politische Diskussion heute immer noch weitgehend aus einer nationalstaatlichen Perspektive. Obgleich der Globus im Grunde längst zu einem einzigen großen Land zusammengeschrumpft ist, empfinden sich nach wie vor selbst moderne Menschen weniger als Weltbürger, denn als die Bürger ihres Heimatlandes. Politisches Denken und Entscheiden ist weitgehend noch nationalstaatlich geprägt. Wie labil und verletzbar übernationale Bündnisse gegenwärtig noch sind, zeigt sich eindrucksvoll am Beispiel der Europäischen Union. Für diesen Zusammenschluss sprechen über die wirtschaftlichen Vorteile hinaus eine Vielzahl weiterer, äußerst einsichtiger Argumente. Und dennoch erleben wir, wie schnell Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung der »Europäischen Idee« dazu führen, dass rückwärtsgerichtete, nationalistische Kräfte Aufwind erhalten und die noch junge Einheit und ihre Errungenschaften ernsthaft gefährden.

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl die Errichtung übernationaler Institutionen, wie zum Beispiel der Vereinten Nationen, als auch zahlreiche internationale Bündnisse und Verträge in ihrer aktuellen Form lediglich als Zwischenschritte auf dem Weg zu einer politisch globalisierten Menschheit betrachtet werden können.

    Religion

    Ähnlich mühsam wie die politische Globalisierung gestaltet sich die der Religion. Da das Denken der meisten Menschen heute noch überwiegend nationalstaatlich und von den vorherrschenden kulturellen Wurzeln geprägt ist, wundert es wenig, dass viele Menschen diejenigen Werte und Glaubensvorstellungen, mit denen sie aufgewachsen sind, als richtig und anderen überlegen erachten. Diese enge und vorurteilsbeladene Haltung bremst ungemein die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses, das eine neue, Grenzen überwindende Identität schaffen könnte.

    Benötigt wird vor allem ein Weltethos, welches als gemeinsame Wertebasis das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen verbindet und deren grundlegende Bedürfnisse und Interessen repräsentiert. Sollen globale Ordnungsprinzipien der Menschheit nachhaltig zu Frieden, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit verhelfen, so kann erst ein geeignetes Weltethos dieses System mit Leben füllen.

    — Globale Risiken und Nebenwirkungen

    Die Menschheit als Weltschicksalsgemeinschaft

    Die Globalisierung ist heute eine unübersehbare Realität. Ausmaß und Struktur der weltweiten Arbeitsteilung sind inzwischen so ausdifferenziert und intensiv geworden, dass zumindest aus wirtschaftlicher Sicht die jeweiligen Staatsgrenzen nahezu an Bedeutung verloren haben. Aber auch der Einzelne pflegt inzwischen einen globalisierten Lebensstil: So studiert der moderne Mensch einige Semester in der Ferne, arbeitet bei Global Playern, investiert sein Vermögen an internationalen Märkten, konsumiert im World Wide Web Produkte aus aller Welt, bereist die entferntesten Gebiete der Erde, genießt die Schätze und Schönheiten fremder Kulturen, pflegt internationale Freundschaften und verfolgt per Mausklick die weltweiten Geschehnisse.

    Den Prozess der Globalisierung umzukehren, wie es einige Skeptiker anraten, wäre weder möglich noch wünschenswert. Dennoch hat die Globalisierung viele Schattenseiten und beschert der Menschheit eine Reihe existenzieller Herausforderungen. Ein Paradebeispiel hierfür ist die gegenwärtige ökologische Krise.

    Die ökologische Krise

    Der globale, vom Profit gesteuerte Feldzug der Wirtschaft sowie das gesteigerte Konsumverhalten der Menschen haben inzwischen überall auf der Erde deutliche Spuren hinterlassen und unübersehbare Reaktionen ausgelöst. Unser Ökosystem leidet erheblich an unserer modernen Lebensweise. Vor der industriellen Revolution waren Eingriff und Einfluss des Menschen auf seine Umwelt vergleichsweise gering und zudem lokal begrenzt. Die betroffenen Teile unseres Ökosystems konnten sich daher in der Regel immer wieder regenerieren. Mit den ungeheuren technischen Möglichkeiten wurden jedoch zusehends gravierendere Verletzungen der natürlichen Prozesse möglich und die Schäden dadurch global spürbar. Heute kann beispielsweise ein Unfall in einem Atomreaktor ganze Regionen auf lange Sicht verheeren.

    Weniger spektakulär, aber nicht weniger schädlich, wirkt sich in Summe der Umgang von inzwischen etwa acht Milliarden Menschen mit den natürlichen Ressourcen der Erde aus. So trägt das immer noch anhaltende Wachstum der Weltbevölkerung zusammen mit dem stetig steigenden Pro-Kopf-Verbrauch maßgeblich zur aktuellen Umweltkrise bei. Solange es sich große Teile der Menschheit erlauben, egoistisch, nachlässig und kurzsichtig zu konsumieren, während andere Teile der Menschheit ums Überleben kämpfen und es sich daher auch nicht leisten können, ausreichende Umweltstandards einzuhalten, werden die endlichen Ressourcen und Reichtümer unserer Erde zwangsläufig ausgebeutet und das Ökosystem nachhaltig geschädigt. Das durch den weltweiten Handel enorm gestiegene Verkehrsaufkommen bringt ebenfalls zahlreiche, unerwünschte Folgen mit sich.

    Die zerstörerischen Auswirkungen dieser Lebensweise spiegeln sich nicht nur in Vermüllung, Verschmutzung, Vergiftung, Verödung, Erosion sowie Wald- und Artensterben wider, sondern schlagen sich auch in zahlreichen Naturkatastrophen nieder. Ihre Häufigkeit und ihr Ausmaß steigen weltweit auffällig an und führen zu weiteren Verheerungen. Sie beschädigen und zerstören nicht nur Ressourcen und Lebensgrundlagen, sondern kosten auch eine Unsumme Geld. Wohin man auch blickt, übersteigt die aktuelle Zerstörung unseres Ökosystems seine Fähigkeit zur Regeneration um ein Vielfaches.

    Die Umweltprobleme und Katastrophen der Neuzeit lassen sich naturgemäß nicht auf Regionen oder Nationen beschränken. Sie kennen weder menschgemachte Grenzen noch machen sie vor ihnen halt. Von einem Land durch Nachlässigkeit, Existenznot oder Profitgier verursacht, treffen die Folgen auch andere, »unschuldige« Länder. Dieser Umstand macht deutlich, dass sich inzwischen kein Land mehr - einer Insel der Glückseligen gleich - vor ökologischen Katastrophen abschotten kann. Ebenso kann sich auch kein Land länger seiner Verantwortung im Hinblick auf das gemeinsame Ökosystem entziehen. Die Tatsache, dass die ganze Menschheit zum Verursacher und Leidtragenden eines unreflektierten, verantwortungslosen und ungeregelten Umgangs mit den Ressourcen des Planeten geworden ist, macht das Problem zu einer komplexen Angelegenheit, die nahezu unlösbar scheint.

    Der übermächtige Einfluss des Menschen auf die Natur entfachte vor einiger Zeit unter den Wissenschaftlern eine Debatte darüber, ob er die Verkündigung einer neuen Epoche rechtfertigt. Seitdem spricht man immer häufiger vom Anthropozän – dem Zeitalter des Menschen.

    Die soziale Krise

    Zur ökologischen Schattenseite der Globalisierung gesellt sich auf nicht minder bedrückende Weise ihre soziale. Wenngleich der materielle Wohlstand der Menschheit durch den technischen Fortschritt und die expandierende Weltwirtschaft in Summe stetig zunimmt, so gibt es auch viele Verlierer. Zu ihnen gehören nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Volksgruppen und Nationen, die nicht einmal annähernd auf Augenhöhe am Globalisierungsprozess teilnehmen konnten. Die Globalisierung verhalf vor allem jenen Staaten und Konzernen zu gewaltigen Vorteilen, die in der Lage waren, die sich ihnen global bietenden Chancen aufgrund ihrer innovativen technologischen Möglichkeiten besser als andere zu ergreifen. Dies waren neben den Industrienationen, die darüber hinaus aufgrund ihrer Machtpositionen den anderen Staaten weitgehend die Spielregeln des Handelns diktieren konnten, vor allem die Schwellenländer, die unter hohen ökologischen und sozialen Folgekosten den Anschluss schafften. Übrig blieben die ärmsten Nationen, die sich nicht in die Weltwirtschaft integrieren konnten und infolgedessen von den anderen Staaten schonungslos als billige Rohstofflieferanten ausgebeutet wurden und immer noch werden.

    Der Unterschied zwischen extremem Reichtum und bitterer Armut ist gravierend. Aktuell ist der Wohlstand auf beklemmende Weise ungleich verteilt und es existiert ein dramatisches Wohlstandsgefälle. Die Armut der ärmsten Nationen drückt sich in menschenunwürdigen und existenziell bedrohlichen Lebensrealitäten aus: Unter- und Mangelernährung, schlechter Gesundheitszustand, geringe Lebenserwartung, hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit, niedriger Bildungsstand, Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Entwurzelung und Ausschluss von Sozialstrukturen.

    Besonders beunruhigend ist, dass sich die Schere zwischen arm und reich nicht etwa schließt, sondern aktuell noch weiter auseinanderdriftet. Die extreme soziale Ungleichheit ist angesichts der großen Profiteure der Globalisierung nicht nur maßlos ungerecht, sondern birgt auch erhebliche Gefahren für politische Stabilität und Frieden. In dem Maße, wie sich in unserer globalen Gesellschaft eine zunehmende Zahl an Menschen aufs Gröbste benachteiligt fühlt, werden Ohnmacht, Wut und Verzweiflung immer weiter anwachsen. Dies fördert Emotionen, die national und international Hass und Gewaltbereitschaft schüren und nach Entladung drängen. Die Kluft zwischen Armen und Reichen zu verringern, ist daher nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit, sondern auch die zentrale Voraussetzung für die friedliche Zukunft jedes einzelnen Menschen, egal, wo er sich auf dem Globus befindet.

    Die Gefahr von Krieg und Terror

    Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist klar, dass es nicht länger möglich ist, sich vor den bestehenden internationalen Asymmetrien zwischen den Staaten und Völkern der Welt zu verschließen. Die Terroranschläge offenbarten nicht nur die Wut der Benachteiligten über die Folgen und Ungerechtigkeiten der Globalisierung. Sie zeigten auch eindrucksvoll, dass sich der Terrorismus inzwischen selbst global organisiert hat und mittlerweile ein ungeheures Aktionspotenzial birgt. Terroristische Gruppen haben längst weltweite Netzwerke aufgebaut, die mit Hilfe des technologischen Fortschritts gleichermaßen effektiv wie effizient arbeiten. Das Unvermögen, terroristische Anschläge zuverlässig verhindern zu können, bewirkt mittlerweile auch im Westen Unsicherheit und Angst.

    Das organisierte Verbrechen operiert mittlerweile ähnlich weltumspannend wie multinationale Konzerne und erobert aufgrund der großen Nachfrage zusehends neue Märkte. Mittels Umwelt- und Wirtschaftskriminalität, Menschen- und Waffenhandel, Drogenschmuggel, Korruption und Bestechung erwirtschaften kriminelle Organisationen inzwischen gigantische Summen. Die Liberalisierung des Handels eröffnet ihnen über Ländergrenzen hinweg zahlreiche Möglichkeiten, und die Deregulierung der Finanzmärkte macht die »Legalisierung« ihrer Profite fast zu einem Kinderspiel. Vom organisierten Verbrechen geht eine ernst zu nehmende Gefahr für das Wirtschaftsleben und die sozialen Systeme aus. Die Verfolgung der Straftaten ist hingegen eine Sisyphusarbeit, die angesichts der fehlenden übernationalen Ordnungsprinzipien und des Mangels an konzertierter Zusammenarbeit in den seltensten Fällen nachhaltig gelingt.

    In einer globalisierten Welt besteht die reale Gefahr, dass dauerhafte soziale Ungleichgewichte in Kombination mit der immer leichteren Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen in einem Ausmaß zu Krieg und Terror führen, welches die Menschheit bisher noch nicht erlebt hat.

    Die Aufzählung der Probleme, welche die Menschheit heute plagen, ließe sich weiter fortführen. Sie verdeutlicht den Ernst der Lage und zeigt, wie weit wir davon entfernt sind, die Globalisierung so zu gestalten, dass die Menschheit als Ganzes davon profitiert. Die großen Menschheitsprobleme sind nicht nur komplex, sondern von globaler Tragweite. Als Mitglieder einer Weltschicksalsgemeinschaft sitzen alle in einem Boot, auch wenn dies noch nicht allen gleichermaßen bewusst ist. Um das Wesen globaler Probleme noch genauer zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit einem Phänomen zu beschäftigen, welches als Allmende-Dilemma bekannt ist.

    — Tragik der Allmende

    Das Fehlen globaler Problemlösungsstrategien

    Man stelle sich einen See vor, der von mehreren Fischern bewirtschaftet wird. Solange nachhaltig gefischt wird, ist die für alle wichtige Reproduktionsfähigkeit des Fischbestands gewährleistet. Die Situation kann sich jedoch schnell ändern, wenn die Zahl der Fischer zunimmt oder die Fangrate gesteigert wird. Sobald beides ein bestimmtes Ausmaß erreicht, droht eine Überfischung des Sees. Um den Fischbestand auf Dauer zu erhalten und langfristig den Lebensunterhalt der Fischer zu sichern, müsste die Fangrate dringend wieder reduziert werden.

    Das Allmende Dilemma

    Wie stellt sich eine solche Situation in der Praxis dar? Wie werden sich die Fischer angesichts dieser ernsten Gefahr tatsächlich verhalten? Obgleich die meisten Fischer durchaus erkennen, dass es höchste Zeit ist, gegenzusteuern, wird ihnen diese Tatsache jedoch mit dem Blick auf ihr Portemonnaie nicht gefallen. Infolgedessen werden vermutlich nur sehr wenige ihre Fangrate zum Erhalt des Fischbestands und zum Wohle der Fischergemeinschaft einschränken. Kaum einer möchte zu den »Dummen« gehören, die freiwillig Abstriche machen, während andere ungeniert weiter profitieren. Die große Mehrheit wird daher versuchen, noch möglichst viel Profit zu erzielen, bevor die Einnahmequelle erschöpft ist. Manch einer wird dabei hoffen, dass die Mahner womöglich doch übertrieben haben und sich die bedrohliche Lage mit etwas Glück in Wohlgefallen auflöst. Und so wird schließlich der Tag kommen, an dem der See leergefischt und allen Fischern die Lebensgrundlage entzogen ist.

    Die eben skizzierte Problematik lässt sich überall beobachten, wo Ressourcen gemeinschaftlich genutzt werden. Sie wird als »Allmende-Dilemma« oder »Tragik der Allmende« bezeichnet. Der Begriff Allmende leitet sich aus der englischsprachigen Entsprechung für Gemeingut (»commons«) ab⁶ und wurde einem breiten Publikum 1968 durch den amerikanischen Mikrobiologen und Ökologen Garrett Hardin (1915-2003) bekannt.⁷ Die Tragik der Allmende besagt, dass jedes frei verfügbare Allgemeingut, welches begrenzt ist, von einer Übernutzung bedroht ist, die in letzter Konsequenz die Nutzer selbst gefährdet.

    Der Planet als globales Gemeinschaftsgut

    Überall dort, wo der Einzelne einen Nutzen hat, die Kosten aber von der Gemeinschaft getragen werden, lauert das Allmende-Dilemma. Das Dilemma verschärft sich mit der Größe und Bedeutung der Ressource sowie dem Umfang und der Anonymität des Nutzerkreises.

    Es ist unschwer zu erkennen, dass viele der globalen Herausforderungen typische Allmende-Probleme sind. Die Ressource, um die es im globalen Zeitalter geht, ist unser gesamter Planet und die Nutzer sind alle Menschen gleichermaßen. Menschen greifen gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst in das Ökosystem Erde ein. Wenngleich die wenigsten Menschen, Firmen, Konzerne oder Staaten absichtlich das Ökosystem durch Übernutzung schädigen oder gar an den Rand der Zerstörung treiben möchten, so wird dennoch für wirtschaftliche Interessen massiv in das Ökosystem eingegriffen. Werden die Eingriffe in Summe zu groß, ist eine nachhaltige Nutzung nicht mehr gewährleistet. Dann gerät selbst ein so großes System wie unser Heimatplanet langsam, aber sicher aus dem Gleichgewicht. Ob CO2- und Schadstoffausstoß, Überfischung und Vermüllen der Ozeane, extensive Landwirtschaft oder Abholzung von Wäldern – immer haben einige wenige einen kurzfristigen Vorteil, während die große Rechnung früher oder später von der gesamten Menschheit zu begleichen ist.

    Da die Erde eine sehr große Ressource darstellt, kann es lange Zeit dauern, bis der Raubbau in den einzelnen Bereichen seine Auswirkungen zeigt. In manchen Fällen werden erst die nachfolgenden Generationen die Leidtragenden sein. Auf Dauer ist es jedoch die gesamte Menschheit, welche die dramatischen Folgen unseres sorglosen Umgangs mit den Ressourcen der Erde zu spüren bekommt.

    Das Fehlen einer Global Governance

    Die Natur des Allmende-Dilemmas macht deutlich, dass es blauäugig wäre, auf die Einsicht und das Verantwortungsgefühl der jeweiligen Großnutzer zu setzen. Es zeigt sich schon jetzt, dass diese vorrangig an die eigenen und nicht etwa an die gemeinschaftlichen Interessen denken. Wie lässt sich unser Ökosystem vor unserer zerstörerischen Zügellosigkeit schützen? Eine Privatisierung der Ressourcen unseres Ökosystems scheidet schon alleine aus ethischen Gründen aus.

    Daher kommt für die nachhaltige Nutzung eines globalen Gemeinschaftsguts im Grunde nur eine vernünftige Verwaltung infrage. Ähnlich, wie sich ein kleiner Nutzerkreis zum Erhalt eines überschaubaren Allgemeinguts über sinnvolle Regeln und Maßnahmen verständigen kann, die langfristig allen zugutekommen, kann sich auch die Menschheit im Hinblick auf ihre globalen Ressourcen auf ein globales Management beziehungsweise eine globale Verwaltung einigen. Aufgrund seiner globalen Tragweite ist die Etablierung eines solchen Verwaltungssystems jedoch eine komplexe Herausforderung. Im Unterschied zu einer Wohngemeinschaft gibt es auf globaler Ebene weder eine Eigentümerversammlung, welche die Regeln festlegt noch einen Hausmeister, der auf deren Einhaltung achtet.

    Die große Frage ist daher, wie ein globales politisches System, eine »Global Governance«, konkret aussehen müsste. Welche sozial-politischen Prozesse wären auf übernationaler Ebene nötig und wie müssten diese mit nationalen Regelungen zusammenspielen? Welche Formen der Meinungsbildung und Entscheidungsprozesse wären zielführend, welche Kontrollen nötig? Die Etablierung einer globalen Gesellschaftsordnung ist schon allein konzeptionell eine anspruchsvolle Aufgabe, will man nicht einem übertriebenen Zentralismus oder gar einer Weltdiktatur Vorschub leisten. So utopisch die Bewerkstelligung dieser Aufgabe scheinen mag, sie wird sich als alternativlose Notwendigkeit einer geplagten und gedrängten Menschheit erweisen. Für die nachhaltige Sicherung der menschlichen Lebensgrundlage ist die Entwicklung zukunftsfähiger Instrumentarien auf globaler Ebene unabdingbar.

    Ähnliche Überlegungen gelten auch für die vom Menschen selbst geschaffenen Systeme, wie zum Beispiel das globale Finanzsystem. Auch dieses ist als gesellschaftliches Allgemeingut zu betrachten. Wir alle sind von diesem System abhängig und spüren direkt oder indirekt, wenn das System zum Vorteil einiger weniger missbraucht wird. Dass nach jeder Finanzkrise immer wieder die gleichen grundlegenden Expertendiskussionen geführt werden, zeigt, dass auch hier noch keine geeigneten Regelungen für die nachhaltige Stabilität des Systems etabliert worden sind.

    Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die großen Menschheitsprobleme allein aufgrund ihres globalen Charakters von komplexer Natur sind. Betrachten wir nach der Globalisierung nun einen weiteren Megatrend mit großen Auswirkungen auf Mensch und Menschheit: das Phänomen der Individualisierung.

    — Megatrend Individualisierung

    Die Einzigartigkeit des Einzelnen

    In früheren Jahrhunderten war der Mensch sehr stark in lokale Gemeinschaften mit etablierten Vorstellungen, Werten und Traditionen eingebettet. So sehr die gesellschaftlichen Vorgaben einerseits Orientierung und Routine verhießen, so sehr schränkten sie andererseits den Menschen in seinen Möglichkeiten ein. In der westlichen Gesellschaft begannen mit der Renaissance erste Bestrebungen, das Recht des Einzelnen auf Freiheit, Autonomie und Einzigartigkeit einzufordern. Der befreiende Prozess von der Fremd- zur Selbstbestimmung wird als Individualisierung bezeichnet. Entscheidend ausbreiten und beschleunigen konnte sich dieser Prozess jedoch erst mit einem gesellschaftlich relevanten Anstieg von Bildung und Wohlstand. Der Wunsch, das Leben selbstbestimmt zu gestalten und nicht länger fremdbestimmt im Würgegriff tradierter Vorstellungen zu verharren, ist heute weitgehend zur Realität geworden. Der moderne Mensch verfügt in der Regel über Mittel und Möglichkeiten, sein Leben im Einklang mit den eigenen, individuellen Bedürfnissen, Wünschen und Werten zu führen. Von dieser großen Freiheit machen die Bürger der Wohlstandsnationen gegenwärtig reichlich Gebrauch.

    Das Streben nach Individualisierung ging mit der Pluralisierung und Differenzierung sämtlicher Lebensbereiche Hand in Hand. Neue Wünsche benötigten schließlich neue Optionen des Konsums, des Handelns und des Gestaltens. Wieder war es die Wirtschaft, welche die Zeichen der Zeit erkannte und eine Vielzahl neuer, personalisierter Produkte und Dienstleistungen schuf, mittels derer sich der Einzelne auf sehr individuelle Weise ausdrücken kann. Der Trend, sich über seinen Lifestyle zu definieren, ist immer noch ungebrochen.

    Die Pluralisierung drückt sich nicht nur in neuen Konsummustern aus. Mit ihr entstehen auch neue Werte, eine neue Alltags- und Freizeitkultur sowie eine veränderte Arbeitswelt, die es nahezu jedem Menschen ermöglichen, einen individuellen Lebensentwurf zu realisieren. Die einstige Normbiografie ist zu einem Auslaufmodell geworden. Heute kann jeder nach seiner Fasson glücklich werden, sofern er dazu die Mittel hat. Damit könnten die Lebensentwürfe und Stile, die heute in der Gesellschaft anzutreffen sind, kaum vielfältiger und bunter sein.

    Das Phänomen der Individualisierung stellt einen universal beobachtbaren Megatrend dar, der grundsätzlich positiv zu bewerten ist. Wenn Menschen aus unnötig einengenden und überholten Traditionen ausbrechen, um ein auf ihre persönlichen Neigungen und Talente abgestimmtes Leben zu führen, so ist dies nur wünschenswert. Von daher ist der Trend nach Individualisierung nicht nur als wohltuende Befreiung zu betrachten, sondern untermauert auch den Wert und die Einzigartigkeit des Einzelnen.

    Wie jede große Entwicklung bringt auch die Individualisierung spezielle Herausforderungen mit sich und verlangt von jedem Einzelnen neue Fähigkeiten im Denken, Fühlen und Handeln. Wird die Individualisierung übertrieben, wirkt sie sowohl auf den Einzelnen wie auch auf die Gesellschaft zerstörerisch.

    — Die Multioptionsgesellschaft

    Der Verlust verlässlicher Bezugspunkte

    Mittlerweile hat die Individualisierung ein gesundes und förderliches Ausmaß längst überschritten. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass wichtige übergeordnete Bezugspunkte verloren gingen, die dem Einzelnen und der Gesellschaft Sinn, Halt und Orientierung vermittelten, sondern auch in einer besorgniserregenden Fragmentierung und Instabilität der Gemeinschaft.

    Die Explosion der Entscheidungszumutungen

    Eine weitgehend auf Individualismus ausgelegte Gesellschaft macht den modernen Alltag mit seiner Vielzahl an Angeboten, Interaktionsmöglichkeiten und Verpflichtungen zu einer herausfordernden Aufgabe. Wir müssen permanent auswählen und Entscheidungen treffen. Die vielen Optionen, die uns einerseits ein hohes Maß an Freiheit und Gestaltungsspielraum bescheren, zwingen uns andererseits zur Qual der Wahl. Der Schweizer Soziologe Peter Gross (*1941) prägte für diese Situation den Begriff »Multioptionsgesellschaft«⁹, deren wesentliches Kennzeichen die Explosion der Entscheidungszumutungen ist. Diese reichen von vergleichsweise belanglosen Fragen des Alltags bis hin zu schwerwiegenden Fragen zur allgemeinen Lebensgestaltung, der beruflichen Karriere, der Partnerwahl oder der Kindererziehung.

    Die große Gestaltungsfreiheit geht damit mit neuen, unliebsamen Zwängen einher. Das Recht auf Selbstbestimmung erhöht den Druck auf den Einzelnen hinsichtlich eines erfolgreich zu gestaltenden Lebensentwurfs weitaus mehr, als ihm oft lieb ist. Nicht wenige sind von der Optionenvielfalt überfordert und sehnen sich eine Welt zurück, in der alles übersichtlich und einfach war.

    Wenn es in einer Gesellschaft kein geteiltes Verständnis zur »richtigen« Lebensweise gibt, liegt die Verantwortung allein in der Hand des Einzelnen. Die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung nötigt den Menschen in viel höherem Maße als früher, über den Sinn seines Lebens nachzudenken und sich grundlegenden philosophischen Fragen zu stellen.

    Orientierungslosigkeit und Sinnverlust

    Ständig die Qual der Wahl zu haben, ist eine unangenehme, aber lösbare Herausforderung. Wirklich kritisch ist jedoch, dass der Individualisierungsprozess heute auch die in einer Gesellschaft geltenden Werte und Normen erfasst hat. Wo früher allgemein akzeptierte und bewährte Werte und Gepflogenheiten einen verlässlichen ethischen Rahmen vorgaben, muss der »homo multioptionis« nun selbst entscheiden, was sinnvoll und richtig ist. Dies bringt zwangsläufig gravierende Auswirkungen mit sich. Eine Gesellschaft, in der die einst gemeinsame Wertebasis einem Pluralismus weicht, verliert ihr gemeinschaftlich geteiltes Lebensverständnis. Ein ausufernder Wertepluralismus, der konstatiert, dass nahezu alles von Wert ist, führt letztendlich dazu, dass sämtliche Werte beliebig werden. Orientierungslosigkeit und Sinnverlust sind dann logische Folgen.

    Fragmentierung und Instabilität der Gesellschaft

    Ein ausufernder Wertepluralismus vervielfältigt und verwässert die in einer Gesellschaft geltenden Normen und führt zu einer Fragmentierung und Destabilisierung des gesellschaftlichen Lebens. So erleben wir heute in großem Stil, wie einst feste Zugehörigkeiten und gesellschaftliche Bande von der Norm zur Option werden. Dadurch wandeln sich in zahlreichen Bereichen gesellschaftliche Verbindlichkeit und Verlässlichkeit in Unverbindlichkeit und Beliebigkeit.

    Es ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit, etablierte Normen von Zeit zu Zeit kritisch auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Wenn jedoch neben überholten Traditionen, sämtliche Traditionen und gesellschaftlich-kulturelle Normen per se aufgeweicht oder ersatzlos abgeschafft werden, verliert eine Gesellschaft ihr stabiles Fundament. Der Kollektivismus von einst hat sich heute vielfach in das andere Extrem verkehrt. Die logische Konsequenz ist eine fragmentierte, zerbrechliche und konfliktanfällige Gesellschaft.

    — Komplexes ist nicht einfach

    Das Wesen komplexer Systeme

    Während die Globalisierung einst autonome und regional konzentrierte Bereiche zu global vernetzten Systemen zusammenwachsen ließ, bewirkte die Individualisierung eine explosionsartige Erhöhung der Anzahl global interagierender Elemente. Das Einhergehen von Globalisierung, Individualisierung und Digitalisierung beschert der Menschheit nicht nur völlig neuartige Herausforderungen, sondern macht unser Leben auch hochkomplex. Bürgerkriege, Migration, Eurokrise, Rechtsruck, Fake News – wer hat hier noch den Überblick, wie das alles miteinander zusammenhängt? Das Verständnis von komplexen Systemen und der erfolgreiche Umgang mit komplexen Sachverhalten ist für den Menschen daher zusehends zu einer Schlüsselfähigkeit geworden.

    Komplex oder kompliziert?

    Komplexität ist ein Phänomen, das nicht mit Kompliziertheit verwechselt werden darf. Ein System ist kompliziert, wenn es aus einer Vielzahl an Komponenten besteht, aber mit dem nötigen Wissen die darin ablaufenden Prozesse verstanden und deren Ergebnisse eindeutig prognostiziert werden können. Die klassische Taschenuhr, die aus einer Vielzahl ineinandergreifender Rädchen und Federn besteht, ist ein typisches Beispiel für einen komplizierten Gegenstand. Ihre Funktionsweise ist durch die Anordnung und Bewegung der einzelnen Bestandteile eindeutig festgelegt und offenbart auf nachvollziehbare Weise die Bewegung der Zeiger.

    Im Unterschied dazu ist ein komplexes Phänomen von völlig anderer Natur. Es ist zumeist so intransparent, dass gar nicht alle Komponenten und Einflussfaktoren bekannt sind. Das Markenzeichen eines komplexen Systems ist, dass sich sein Verhalten selbst dann nicht eindeutig beschreiben lässt, wenn vollständige Informationen über seine Einzelkomponenten und die Art ihres Zusammenwirkens vorliegen. Im Gegensatz zum determinierten Zahnradmechanismus der Taschenuhr, ähnelt ein komplexes System eher einem feinmaschigen Netz von zahlreichen, miteinander über Federn verbundene Kugeln. Werden eine oder mehrere Kugeln angestoßen, so lässt sich aufgrund der gegenseitigen Vernetzung und Rückkoppelungseffekte nicht genau vorhersagen, welche konkreten Schwingungsbewegungen sich für die einzelnen Kugeln ergeben.

    Merkmale komplexer Systeme

    In der Systemtheorie werden komplexe Systeme durch eine Reihe charakterisierender Eigenschaften beschrieben. So hängt die Komplexität eines Systems insbesondere von der Anzahl der beteiligten Elemente, der Anzahl an Verknüpfungen zwischen diesen Elementen sowie der Natur dieser Verknüpfungen ab. Wie schnell der Komplexitätsgrad allein mit der Anzahl der beteiligten Elemente ansteigt, veranschaulicht der deutsche Physiker Hans-Peter Dürr (1929-2014), indem er die Anzahl an Kontaktmöglichkeiten zwischen einer gegebenen Anzahl von Personen betrachtet. So gibt es bei zwei Personen lediglich zwei Möglichkeiten der Beziehung: Kontakt oder kein Kontakt. Bei drei Personen gibt es bereits acht Möglichkeiten: Alle drei haben miteinander Kontakt (eine Möglichkeit), jeweils zwei haben Kontakt (drei Möglichkeiten), jeweils zwei haben keinen Kontakt (drei Möglichkeiten) und keiner hat Kontakt (eine Möglichkeit). Was für die meisten vermutlich überraschend ist: schon bei nur 24 Personen »kommt für die Anzahl verschiedener Beziehungsmöglichkeiten die riesige Zahl 10⁸³ heraus… eine Eins mit 83 Nullen. Nur um ein Gefühl dafür zu bekommen: Dies entspricht der Anzahl der Atome in unserem Universum.«¹⁰ In diesem Beispiel wurde davon ausgegangen, dass es lediglich eine »Art« von Beziehung gibt – Kontakt oder kein Kontakt. Die Beziehungen, die unsere Welt beschreiben, sind hingegen ungleich vielfältiger, weshalb auch die Anzahl der möglichen Konfiguration noch einmal dramatisch ansteigt.

    Die Systeme, mit denen wir Menschen konfrontiert sind, sind gewöhnlich nicht nur komplex, sondern auch sehr strukturiert. Damit ist Komplexität häufig auch ein Maß für die innere Ordnung eines Systems. Genau diese ist es, welche gewöhnlich auch den Wert des Systems ausmacht. So ist beispielsweise unser Ökosystem nicht nur ein Gebilde aus zahllosen interagierenden Teilen, sondern zeichnet sich darüber

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