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Das Schwert des Volkes: Geschichte, Kultur und Methodik des traditionellen, italienischen Messerkampfes
Das Schwert des Volkes: Geschichte, Kultur und Methodik des traditionellen, italienischen Messerkampfes
Das Schwert des Volkes: Geschichte, Kultur und Methodik des traditionellen, italienischen Messerkampfes
eBook734 Seiten5 Stunden

Das Schwert des Volkes: Geschichte, Kultur und Methodik des traditionellen, italienischen Messerkampfes

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Über dieses E-Book

Das Buch "Das Schwert des Volkes" führt den Leser in die Geschichte und Kultur des volkstümlich italienischen Messerkampfes.

Es liefert einen Einblick in die Riten und Jargons sowie in die Techniken und Taktiken der geheimen Schulen des Duells des Volkes, wie sie im 19. Jahrhundert im ganzen Mezzogiorno Italiens vorzufinden waren.

Der Autor studiert diese fechterischen Traditionen der Halbinsel seit nunmehr vielen Jahren und ist einer der renommiertesten Experten auf diesem Gebiet.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Juli 2015
ISBN9783732352333
Das Schwert des Volkes: Geschichte, Kultur und Methodik des traditionellen, italienischen Messerkampfes

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    Buchvorschau

    Das Schwert des Volkes - Roberto Laura

    Einleitung

    >>Bei diesem Vorhaben ist anzumerken, dass im ganzen Süden Italiens, beginnend beim Landleben vor Rom, das Messer nicht als verräterische Waffe, sondern als >Schwert des Volkes< betrachtet wurde.<<

    Corrado Tommasi-Crudeli,

    La Sicilia nel 1871,

    Florenz, 1871

    Dieses Buch dient dazu, dem Leser den Weg der traditionellen italienischen Fechtschulen mit Messer und Stock näher zu bringen und dadurch ein Stück zu deren Erhalt beizutragen. Es erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Aber wie soll man die Geschichte des süditalienischen Messers erzählen? Bis noch vor wenigen Jahren lagen diese alten Künste für Unbeteiligte im Verborgenen. Es ist eine Geschichte der Verschwiegenheit, der omertà. Schwüre und Bünde sowie die Angst vor Vergeltung aber auch der Stolz, einer geheimen und ritterlichen Gesellschaft anzugehören, verhinderten mitunter, dass die Geheimnisse der Klinge – aber auch die des Hirtenstockes – an fremde Ohren drangen.

    Die Furcht, Spuren zu hinterlassen bzw. entlarvt zu werden, oder auch der Analphabetismus, der im Italien des 19. Jahrhunderts in den unteren, ländlichen Schichten wie auch im städtischen Subproletariat Süditaliens präsent war, erzeugte zudem eine Kultur der reinen mündlichen Überlieferung. Und so begann meine Forschung für dieses Buch, vor dem ich gedanklich schon viele Jahre sitze, im Dunkeln. Sie war zuerst vornehmlich von Spekulationen geprägt – von Annahmen also. Im Laufe der Jahre beschäftigte ich mich nicht nur körperlich, vielmehr auch geistig und literarisch mit dieser Subkultur meines Geburtslandes. Ich las zudem viel Sekundärliteratur – Bücher, die mit der Thematik des Messers auf den ersten Blick weniger zu tun haben und sich eher der Geschichte, der Kunst und der Kultur Italiens widmen.

    Um abwägen zu können, wann eine Sache substantiell ist bzw. wann sie es nicht ist, sollte man weitgehend alles verstehen, auf das sie sich bezieht. Und nur durch dieses Verständnis lässt sich Wahrscheinliches von Unwahrscheinlichem unterscheiden. So ging ich allen Spuren und Gerüchten nach. Und dass diese Suche so geheimnisvoll war, machte ihren Reiz erst aus. Es konnte aufgrund der mangelnden schriftlichen Nachweise auch nicht anders sein. Das war der Weg, den es zu bestreiten galt. Ich begab mich auf Reise – auf viele Reisen mittlerweile. Dabei traf ich wahre Meister und auch solche, die sich nur so nannten. Einige von ihnen begleitete ich für eine gewisse Weile. Mit anderen arbeite ich heute noch zusammen.

    All diese Meister – aber auch alle Forscher, die wie ich ihre Zeit der Entdeckung, Aufschlüsselung und Bewahrung dieser Traditionen widmen – sind Pioniere, Bindeglieder der Vergangenheit zur Moderne. Durch diese Forschung eröffnen sich uns heute Welten mit eigener Kultur, Tradition und Geschichte, aber auch mit eigener Wertvorstellung und Rangordnung. Dennoch ist Italien bis heute, trotz aller bisherigen Pionierleistungen und Publikationen zum Thema, in Sachen Kampfkunst eine terra incognita.

    Daher möchte ich dem Leser diese bis dato >>unbekannte Welt<< ein wenig näher bringen. Bei diesem Werk handelt es sich deshalb nicht nur um die bloße Erklärung der Bewegungsmuster wie auch der Prinzipien, Techniken und Taktiken: Soweit mir bekannt und in diesem Kontext notwendig und interessant, erörtere ich auch die möglichen geschichtlichen Entwicklungen und ferner die kulturellen Aspekte der volkstümlichen italienischen Fechtweise. Dieses Buch ist deshalb auch nicht mit allzu vielen Bildern versehen – es stellt eher die Inhalte in den Vordergrund.

    Ohne ein Grundverständnis für die geschichtlichen Zusammenhänge einer Epoche, für deren Kultur und Traditionen und für die Mentalität der jeweiligen Bevölkerung, entwickelt sich eine Waffenkunst zu einem seelenlosen >>Etwas<<. Sie wird zu einem reinen Instrument des Todes und damit zu einer toten Kunst. Auch glaube ich nicht, dass ohne eine Spur kultureller Kenntnis tiefe Leidenschaft innerhalb der Kunst entstehen kann. Die italienischen Waffenkünste sind weit mehr als bloßes Fechten: Sie bestechen durch Ausdrucksstärke und Eleganz, Rhythmus und kulturelle Tiefe. Kultur und Geist können urban oder landwirtschaftlich geprägt sein. Sie sind teilweise religiös inspiriert oder entspringen Legenden und Mythen um Soldatentum beziehungsweise Ritterlichkeit. Auch wurden sie zum Teil von den süditalienischen Verbrechersyndikaten beeinflusst.

    Zudem beinhalten sie wiedererkennbare Muster: Je nach Region ist entweder der tänzerische Charakter ausgereifter, die Haltung stolzer oder auch geerdeter. Aber die gemeinsamen Nenner sind stets sichtbar: Man bewegt sich leichtfüßig entlang eines (gedachten) Kreises und durchschreitet diesen auf Geraden oder Ellipsen. Man kämpft aus Garden (Fechtstellungen) und steht meist profiliert zum Gegner. Der geradlinigen Stich, die Punkt-zu-Punkt-Verbindung, ist das zentrale technische Mittel aller Schulen und Systeme.

    Die Didaktik ist meist recht klar gegliedert. Sie verläuft weitgehend in Bahnen oder setzt sich aus diversen Lektionen bzw. Figuren zu einer Form zusammen. Im Grunde kann die Wertigkeit dieser Entwicklungen des einfachen Volkes durchaus mit den Kunstformen einer Hochkultur verglichen werden, die im Bürgertum oder auch beim Adel beliebt waren, wie zum Beispiel mit dem Ballett. Um das Wesen dieser Künste begreifen zu können, um sich des Wertes wirklich gewahr zu werden, sollte also beides bekannt sein: die geistige Ausrichtung des jeweiligen Kulturkreises und die technisch-taktischen Werkzeuge.

    Meine Intention geht einmal dahin, Fragen aufzuwerfen:

    Fragen nach dem >>Warum<< es vor allem in den Regionen Süditaliens zu der Entwicklung einer Kultur des volkstümlichen Messerfechtens gekommen ist?

    Was genau sind die Bedürfnisse gewesen, die letztendlich zur Entwicklung dieser Schulen führten?

    Inwieweit standen diese Fechtkünste des Volkes mit den kulturellen Gegebenheiten ihrer Zeit im Einklang?

    Inwiefern hatten geistige Klarheit, natürliche Bewegungsmuster, effiziente Kampflogik, Pragmatismus, ein spezifisch europäischer Geist sowie ein neu gewonnenes Verhältnis zur Ästhetik einen Einfluss auf diese Entwicklungen?

    Woher also stammen die Faktoren, die eine Kunstform erst zur Kunstform machen?

    Des Weiteren möchte ich auf mögliche Einflüsse aufmerksam machen, die so vorwiegend in den Regionen auftraten, die heute die Heimat der volkstümlichen Schulen des Messers und des Stockes in Italien bilden. Denn auch wenn Indizien letztendlich keine Beweise sind, berechtigen diese zu vorsichtigen Annahmen, wenn sie als stets wiederkehrende Muster auftauchen. Im Verlauf dieses Buches wird auf die spezifischen, kulturellen Eigenschaften dieser Traditionen eingegangen (natürlich auch kritisch). Besonders der Aspekt der Ritterlichkeit ist es, der den Charakter wie auch den Mythos einiger italienischer Messer- und Stockschulen geprägt hat. Dieser Wesenszug, der vorwiegend viele süditalienische Fechtschulen des Volkes weitgehend von denen anderer Kulturen unterscheidet, unterliegt dem codice d‘onore, dem Ehrenkodex. Auch spielt(e) die oben bereits angesprochene Verschwiegenheit eine große Rolle. Einige dieser Fechtschulen wurden durch Volksschichten mitgeprägt, welche Verschwiegenheit und die Mitgliedschaft zu sogenannten >>Inneren Kreisen<< voraussetzten.

    Andere entstammten Zeiten und Umständen, die vorwiegend die Fähigkeit zur Verteidigung erforderten. Es sind im Geheimen gereifte Künste, geformt durch Erfahrung, Stolz und Blut.

    Glaubt man einigen Meistern heutiger Zeit, lassen sich die italienischen Schulen bzw. Systeme des Waffenkampfes grundsätzlich in zwei Kategorien unterteilen: die Fechtschulen des Saals – scuole da sala, Fechtschulen mit zusätzlicher Duellkonvention – und die reinen Systeme der Verteidigung bzw. Schulen der Straße – sistemi da difesa bzw. scuole da strada. Da es sich bei allen italienischen Traditionen des Fechtens mit Messer und Stock, ob mit Duellkonventionen oder bloße Verteidigung, nicht um akademische Schulen, vielmehr um Schulen des einfachen Volkes handelt, sind viele dahingehenden Überlieferungen mit Vorsicht zu genießen. Eine exakte wissenschaftliche Überprüfung ist aufgrund mangelnder Quellenlage nicht mehr wirklich möglich.

    Mir geht es hierbei nicht um die Beweisbarkeit etwaiger Auseinandersetzungen in Hinterhöfen oder Kneipen oder illegaler Duelle auf verlassenen Bauernhöfen (Anm.: Duelle und bewaffnete Streitigkeiten fanden in weiten Teilen Europas des 19. Jahrhunderts nämlich in nahezu allen Schichten statt, jedoch gab es kein offizielles Duellwesen der unteren Schichten. Speziell vor der Mitte des 19. Jahrhunderts aber auch danach fanden diese in Italien nur im Verborgenen statt. Duelle durften offen vorwiegend ab dem mittleren Bürgertum ausgetragen werden. Leibeigene durften sich gar nicht duellieren). Es geht mir vielmehr um definitive Nachweise für eine tradierte Vorgehensweise hinsichtlich Methodik und Didaktik, also um Belege für die Existenz einer präzisen, technischen Unterweisung.

    Und das ist ein erheblicher Unterschied in Bezug auf eine fundierte Dokumentation. Solche >>Duelle<< oder regellose Messerkämpfe hätten auch leicht zwischen ungeschulten Straßenstechern stattfinden können, ohne dass diese jemals eine technische Unterweisung erhalten haben mussten.

    Um die eigene Schule aufzuwerten bzw. um ihr einen mystischen Hauch zu verleihen, schuf man zudem Legenden um Rittertum und Ehre, die dann von Generation zu Generation ungeprüft übernommen wurden. Die Legenden wurden kulturelles Gut und zum Teil betrachtete man sie als >>geschichtliche Realität<<. Diese Entwicklung ist jedoch nur noch in einigen Fechtschulen mit Duellkonvention vorzufinden. Die meisten italienischen Fechtschulen sind durchaus sachlich und bekennen sich zur mangelnden Quellenlage.

    Vermutungen, wie interessant sie auch sein mögen, sollte man selbstverständlich als solche ausweisen. Aber gleichzeitig darf man sie nicht, sofern kein eindeutiger Beweis vorliegt, der sie widerlegt, von vornherein als unmöglich ausschließen. Exakt auf diese differenzierte Weise werde ich in diesem Buch verfahren.

    Um dem Leser eine deutlichere Vorstellung zu geben, werden einige dieser Schulen und Systeme eingehender beschrieben. Diese Künste erlernte bzw. erlerne ich von verschiedenen Meistern, die heute teilweise als >>Erben<< ihres Familien- bzw. Systemzweiges betrachten werden können. Auch werde ich weitgehend nur über die Schulen und Systeme ausführlich sprechen, die ich kennenlernen durfte. Über Systeme und Traditionen zu sprechen oder auch nur zu spekulieren, die sich meiner persönlichen Kenntnis entziehen, betrachte ich als anmaßend. Es würde zudem von mangelnder intellektueller Integrität zeugen. Dieses Buch enthält dahingehend eine Art Ausnahme, die ich aber als solche eindeutig gekennzeichnet habe. Wobei ich diesbezüglich erwähnen möchte, dass ich lediglich ein Interview mit der einstigen Ikone der südapulischen scherma salentina übersetzt habe, um Gemeinsamkeiten zwischen den apulischen Traditionen besser aufzeigen zu können. Das heißt folglich, dass nicht ich diese Schule beschrieben habe, sondern der letzte große Meister dieser Tradition selbst (siehe Kapitel 6.3.4, Seite 469).

    Das 21. Jahrhundert erlaubt uns zum Glück, diese Kampfsysteme nur noch aus dem Blickwinkel historisch bzw. kultureller Neugierde zu betrachten, nicht mehr aus Notwendigkeit. Die Aspekte des Lernens und des Verstehens stehen heute im Vordergrund. Des Weiteren verbindet uns der freundschaftliche Austausch untereinander und das Analysieren und Ausarbeiten miteinander. Auch ermöglicht diese Forschung dem Neugierigen, sich auf Kulturreise zu begeben, die verschiedenen Winkel Italiens zu bereisen, unterschiedliche Denkweisen zu erfahren wie auch die kulinarischen Leckerbissen der Halbinsel zu kosten. Und durch die einem Mikrokosmos gleichende Komplexität, gewährt diese Kunst zudem – sofern man das möchte – einen sehr interessanten anthropologischen Ansatz.

    Abgesehen vom bastone genovese habe ich weitere mir bekannte Fechttraditionen Norditaliens bewusst weggelassen, da mir die Quellenlage unzureichend und auch zu spekulativ erscheint. Aber vor allem deshalb, da ich meine Kenntnisse hinsichtlich dieser Systeme als nicht ausreichend betrachte, um abschließend urteilen zu können. Die Quellenlage zum bastone genovese lässt meines Erachtens nach ebenfalls zu wünschen übrig.

    Den Grund, weshalb ich diese Tradition trotzdem erwähne, habe ich in Kapitel 1.3.2 entsprechend dargelegt. Und weil einige Meister zu diesem Zeitpunkt selbst ein Buch in Planung haben, werde ich deren Schulen nur soweit erklären, dass ich diesen Werken den Inhalt nicht vorweg nehme (siehe die Kapitel 6 bis 9). Neben der hypothetischen Geschichte und den mir mündlich überlieferten Legenden und Mythen, werde ich die Prinzipien dieser Künste erläutern sowie auch einige technische Eigenheiten benennen.

    Das Buch ist wie folgt gegliedert:

    Das erste Kapitel beschreibt das Traditional Italian Knife Fighting, meine Schule und somit auch meine Sichtweise bezüglich der italienischen Traditionen des Messerkampfes.

    Die Kapitel 2 und 3 geben einen Überblick der möglichen geschichtlichen und kulturellen Entwicklungen samt eventueller (Fremd)Einflüsse, auch die der kriminellen Clans des 19. Jahrhunderts.

    Kapitel 4 gewährt einen Einblick in die Rituale und Jargons (Geheimsprachen) der soeben benannten Clans wie auch einiger Schulen des Messers.

    Kapitel 5 unterscheidet die Fechtschulen des Messers mit Konvention von den Fechtschulen der reinen Selbstverteidigung. Es stellt folglich eine Brücke zwischen dem geschichtlichen und dem eher technischen Teil – wobei eine klare Trennlinie nicht wirklich vorhanden ist und nicht vorhanden sein kann.

    Die Kapitel 6, 7, 8 und 9 stellen regionale Schulen und Systeme des volkstümlichen, italienischen Messerkampfes aus den Regionen Apulien, Sizilien und Ligurien vor.

    Kapitel 10 präsentiert eine Auswahl traditioneller Duellmesser aus dem Latium und aus Süditalien, aber auch ein Modell aus Ligurien sowie zwei Varianten davon aus Korsika, da diese im direkten Kontext zu diesem Buch stehen.

    Den Abschluss bilden ein Literaturverzeichnis und eine Danksagung.

    Dieses Buch habe ich bewusst in der Ich-Form verfasst. Zwar mache ich mich somit angreifbarer, jedoch erhält der Inhalt dadurch eine persönliche Note. Zudem ist es mir wichtig klarzumachen, wie ich die Dinge sehe, sei es geschichtlich, kulturell, philosophisch oder auch fechterisch.

    Ferner bitte ich um Beachtung, dass ich aus stilistischen Gründen und aufgrund sprachlicher Vereinfachung bewusst keine gendergerechte Sprache verwendet habe. Schreibe ich vom >>Schüler<<, >>Praktikanten<<, >>Lehrer<< oder auch vom >>Meister<<, sind damit gleichwertig Damen und Herren gemeint. Es wäre mir eine große Freude, würden sich Frauen vermehrt unseren Künsten widmen. Dies würde auch im Sinne der Tradition stehen, wonach sich im Mezzogiorno des 19. Jahrhunderts ebenfalls Damen zum Duell trafen.

    Auch habe ich mich weitgehend an die italienischen Regeln zur Groß- und Kleinschreibung gehalten: Italienische Wörter sind klein geschrieben, sofern sie nicht am Anfang eines Satzes stehen oder es sich nicht um Namen von Personen oder Orten handelt. Das erleichtert dem Leser die Lektüre, da er dadurch Fachtermini besser von Eigennamen unterscheiden kann. Die Gliederung des Buches habe ich an die wissenschaftliche Vorgehensweise angelehnt, wonach jedes Kapitel zuerst eine Ziffer erhält. Die thematisch dazu gehörenden Unterpunkte werden durch Folgeziffern nach einem Punkt hinter jeder weiteren Ziffer als solche gekennzeichnet.

    Einige Lehrer und Meister wollten nicht benannt werden, einige möchte ich nicht benennen. Ich bitte daher um Verständnis, wenn nur diejenigen Meister namentlich erwähnt werden, mit denen ich freundschaftlich zusammenarbeite bzw. von denen ich nachweislich zertifiziert wurde.

    In diesem Sinne wünsche ich dem Leser eine angenehme und interessante Reise in die verschiedenen Epochen und Winkel Italiens, der geschichtsträchtigen Apenninhalbinsel im Süden Europas.

    Roberto Laura

    Kapitel 1

    Traditional Italian Knife Fighting

    Eine Einführung

    >>Die Götter haben den Sterblichen nicht von Anfang an alles offenbart, sondern erst nach und nach finden diese suchend das Bessere.<<

    Xenophanes aus Kolophon

    6. bis 5. Jahrhundert v. Chr.

    1.1 Einleitung

    Bevor wir uns der Geschichte und Kultur der Messertraditionen Süditaliens widmen, möchte ich in diesem ersten Kapitel verdeutlichen, wie es zu meiner >>persönlichen Auslegung<< der Tradition gekommen ist. Es soll den Weg dahin aber auch die Gedanken dahinter erklären. Der Weg alleine ist jedoch nicht das Ziel. Denn das eigentliche Ziel innerhalb der europäischen Fechttraditionen lag und liegt immer noch schlichtweg darin, zu treffen ohne dabei selbst getroffen zu werden – also nicht zu sterben, wie auch vielleicht in der Entwicklung eines persönlichen Flairs. Deshalb werde ich auch einige Gedanken dazu äußern, worauf man meiner Meinung nach achten sollte, um nicht allzu leicht letale Treffer zu erleiden. Die Umsetzung gelingt natürlich erstens nicht von heute auf morgen, zweitens gelingt sie auch leider nicht immer, drittens wird sich die persönliche Forschung dahingehend auch nie wirklich abschließen lassen.

    Gerade zu Beginn ist es schwierig abzusehen, wie sich etwas oder wie man sich selbst entwickeln wird. So waren gerade meine Anfänge in der Fechtkunst mit dem Messer zwar hochinteressant aber undurchsichtig. Die folgenden Zeilen stellen demnach meinen Werdegang innerhalb der italienischen Traditionen dar, und sie beinhalten einige Rückschlüsse betreffend Technik, Taktik und Ethik des Messerfechtens.

    Ferner geht es mir darum, aufzuzeigen, dass der italienische Weg des volkstümlichen Fechtens mehr ist als die bloße Ansammlung von Techniken und Taktiken. Diese Traditionen haben, über die Verteidigung hinaus, einen >>sportlichen Wert<<. Über diesen hinaus haben sie zudem den Wert einer hoch kulturellen Kunstform mit hohem ästhetischem Anspruch, der sich durchaus mit der Tanzkunst messen lässt. Auch setzen diese Traditionen die Philosophie ihrer Zeit praktisch in die Tat um.

    1.2 Traditional Italian Knife Fighting – der Versuch einer Definition

    Das Traditional Italian Knife Fighting (traditionell italienischer Messerkampf; ferner auch als Akronym TIKF) ist ein Überbegriff, eine Art Truhe, die mehrere kulturelle Schätze enthält. Es ist auch ein Weg zu einer individuellen fechterischen Identität. Da ich Schulen mehrerer Regionen und Lehrer durchlaufen habe, ist es mir nicht möglich, mich auf nur eine Schule namentlich festzulegen. Allen anderen Schulen und Lehrern würde dadurch der verdiente Respekt versagt bleiben. Weiterhin erscheint es mir vorteilhaft, heutzutage einen Namen zu verwenden, der auch international verstanden wird. Der Tradition ist dadurch kein Abbruch getan, da die Prinzipien, Techniken und Taktiken der einzelnen Systeme und Schulen innerhalb des TIKF selbstverständlich ihre überlieferte Didaktik und ihren >>traditionellen<< Namen beibehalten. Ursprünglich hatten die meisten Schulen des Südens sowieso keine Namen. Im 19. Jahrhundert sprach man lediglich von Messer und Stock bzw. von der Schule des Stiches und des Schnittes – scuola di punta e taglio – oder auch generell vom Messerfechten – scherma di coltello.

    Meine Interpretation der Traditionen betrifft nicht nur die technische Umsetzung, vielmehr ist es ein psychologisch etwas verfeinerter und philosophischer, aber auch ein didaktisch und taktisch-analytischer Weg. Ferner erhebe ich nicht den Anspruch, meine Schule sei besser als andere Traditionen oder Systeme. Das Traditional Italian Knife Fighting ist zwar technisch und grundlegend betrachtet eine >>Synthese<< der in diesem Buch beschriebenen Traditionen¹, es handelt sich aber um weit mehr als dies. Es ist die Aufforderung zum konstruktiven Zweifel, zur Analyse mittels Kraft des eigenen Verstandes. Und demzufolge handelt es sich beim TIKF nicht um ein Hybridsystem im klassischen Sinne und nicht um die bloße Auslese der aus meiner Sicht besten Techniken und Taktiken. Vielmehr lehrt das TIKF alle traditionellen Schulen, aus denen es besteht, um sie dann den Ansprüchen des jeweiligen Schülers anzupassen, sie dem Lernenden mit dessen Unterstützung >>auf den Leib zu schneidern<<. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass ein Praktikant, sobald er eines Tages die notwendige fechterische Qualität erreicht bzw. das in sich geschlossene Denksystem einer Tradition geistig und körperlich durchdrungen haben sollte, die Schule seinen Bedürfnissen stets weiter anpassen kann. Er kann sie gegebenenfalls individuell verbessern. Der Schüler soll sich nämlich auf Dauer nicht mit meiner Auswahl begnügen müssen, er soll sich stattdessen frei entwickeln können. Auch soll er ohne Furcht vor Schmerzen trainieren. Schmerzen, erfahren sie die Schüler vor allem zu Beginn, können dazu beitragen, dass die Lernenden nicht mehr frei agieren können, stets die Furcht im Hinterkopf behalten, weiterem Leid ausgesetzt zu werden. Aufgrund dieser Überlegungen habe ich Hendrik Röber von Trinity Combat Gear gebeten, die Padded Duelling Knives, eine gepolsterte Variante der traditionellen Übungsmesser aus Holz zu entwerfen, wie sie im Süden Italiens verwendet werden. Ist einmal die technische Sicherheit vorhanden, kann man getrost auf Holz zurückgreifen. Aber gerade für Aktionen, die zum Waffenarm gerichtet sind und auch viel Übung erfordern, eignen sich diese Trainingshilfen hervorragend. Die hölzernen Trainingsmesser (paranze) nach original sizilienischen Vorbild fertigt Stephan Ernst von Kuen Sporst freundlicherweise für mich an.

    (1) Padded Duelling Knives von Trinity Combat Gear

    Seit meinen ersten Schritten in diese Thematik, seit dem Beginn dieser Leidenschaft und Forschung sind nunmehr viele Jahre vergangen. Ich begegnete vielen Lehrern, sah dadurch verschiedene Ansätze und Interpretationen und hörte unterschiedliche Geschichten. All diese Lehrer, ich benenne im Verlauf dieses Kapitels stellvertretend nur diejenigen, die meine Schule noch immer maßgeblich beeinflussen bzw. mit denen ich zusammenarbeite, wie auch all meine langjährigen Schüler unterstützen mich dabei, diesen fechterischen Weg zu bestreiten. Sie halfen mir, die richtigen aber auch die falschen Schritte zu erkennen und diese besser unterscheiden zu lernen. Vor allem aber, und das ist fast widersinnig, begann meine Reise zu den süditalienischen Schulen des Messers nicht in Süditalien, der traditionellen Heimat dieser Künste, sondern im Norden des Belpaese.

    1.3 Ein Ausflug in die Vergangenheit

    Eigentlich ging ich diesen Pfad vom ersten Tag an nicht wirklich alleine. Wir waren von Beginn an eine kleine Gruppe Freunde. Während ich der Sprache wegen weitgehend die Fahrten übernahm, leisteten mir meine ersten Wegbegleiter analytischen, finanziellen und auch moralischen Beistand – es war nämlich nicht immer leicht. Nach jedem Ausflug trafen wir uns, um das Erlernte zu wiederholen, es technisch zu analysieren und auch schriftlich zu erfassen. Viele dieser Kameraden, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen und auch teilweise mit mir reisten, begleiten mich noch heute.

    1.3.1 Die ersten Schritte

    Die erste Reise führte mich im Jahr 2001 in die Provinz von Ravenna, wo ich von einem der renommiertesten Forscher des Fechtens italienischer Tradition und dem ersten, der diese Künste in Schrift und Film festhielt, Unterricht erhielt. Aus seiner Feder entstammt das Werk >L‘arte italiana del maneggio delle lame corte, dal 1350 al 1943. Storia e tecnica<, >Die italienische Kunst der Handhabung der kurzen Klingen von 1350 bis 1943. Geschichte und Technik<. Dieser erste Lehrer führte mich in die allgemeinen Prinzipien des Messer- und Stockkampfes ein, militärisch wie auch volkstümlich. Er war es auch, der mir im Dezember 2002 mein erstes Lehrerdiplom für den italienischen Messer- und Stockkampf ausstellte.

    Durch seinen Unterricht verlagerte sich meine Sichtweise weg vom Schnitt, hin zum Stich. Des Weiteren lehrte er mich die Notwendigkeit wohl durchdachter Garden (Fechtstellungen). Letztendlich veränderte er meine Sichtweise bezüglich des notwendigen Umfanges und der Strukturierung eines Systems: Er führte mich weg von einer technischen, hin zu einer methodisch und taktischen Ausrichtung. Diese Jahre hatten irgendwie etwas >>Romantisches<<. Wir waren schließlich Pioniere, quasi allein auf einsamer Flur. Oder wie es Hermann Hesse in seinem >Glasperlenspiel< (1943) auszudrücken vermochte:

    >>Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, […]<<

    1.3.2 Genua, Ligurien

    Mein nächster Halt war im Jahr 2006 beim genuesische Stock- und Messerkampf, dem bastone genovese. Diesen habe ich beim letzten verbliebenen Meister dieser Tradition und Autor des Buches >Bastone genovese, coltello e gambetto< erlernt. Ich bin auch Lehrer dieser Fechtkunst. Die Tradition aus Genua lag mir deshalb am Herzen, da ich nicht unweit davon geboren wurde. Es handelt sich demnach auch um eine Tradition aus dem Lande meiner Eltern.

    Mein Mentor in dieser Tradition war folglich der erste wirklich volkstümliche Fechtlehrer, von dem ich unterwiesen wurde. Zwischen meinen ersten Erfahrungen in Ravenna und dieser Tradition aus Genua gab es didaktisch keine nennenswerten Unterschiede. Beide Lehrer gliederten ihren Unterricht ähnlich und mit einer mir bis dahin unbekannten Konsequenz, Logik und Einfachheit.

    1.3.3 Manfredonia, Apulien

    Kurz darauf ergab sich die Möglichkeit, die apulische Fechtschule mit Messer und Stock aus Manfredonia zu erlernen. Diese süditalienische Tradition, die eigentlich keinen spezifischen Namen trägt, von einigen aber als die Schule der Ritter der Demut – cavalieri d‘umiltà –, von anderen als fioretto – Florett – bezeichnet wird, war folglich mein Einstieg in die geheimnisvolle und auch komplexere Methodik und Didaktik der südlichen Traditionen des Messers und des Stockes.

    Bezüglich der Schule aus Manfredonia konnte ich über Jahre mit diversen Lehrern Erfahrungen sammeln und unterschiedliche Auslegungen einsehen. Dadurch eröffnete sich mir ein differenziertes Bild dieser Kultur. Meine ersten Unterweisungen dahingehend, mein Grundgerüst, erhielt ich zunächst durch Kleingruppentraining.

    Danach begab ich mich zu einer der traditionellen Messerfamilien, die in Manfredonia bis heute ansässig sind, wo ich weitere Unterweisung erhielt. Dieser Zweig basiert auf den Lehren des verstorbenen Meisters U Sardun.

    Aber an dieser Stelle möchte ich besonders maestro Salvatore D‘Ascanio erwähnen, der hinsichtlich dieser Tradition technisch den wichtigsten Einfluss auf meine Entwicklung hatte. Er war es, der mir die Feinheiten dieser alten Schule aus Manfredonia letztendlich und gänzlich aufgeschlüsselt hat (siehe Kapitel 6), auch wenn dieser Zweig von den vorherigen technisch, didaktisch und auch terminologisch etwas abweicht. Maestro D‘Ascanio verbesserte meine Dynamik. Er lehrte mich bezüglich dieser Schule Wichtiges von Unwichtigem noch besser zu unterscheiden. Zudem erhielt ich durch ihn eine verfeinerte und lebendigere Form der Didaktik.

    (2) Maestro Salvatore D‘Ascanio

    1.3.4 Sizilien und die A.S.A.M.I.R.

    Maestro Orazio Barbagallo

    Maestro Salvatore Scarcella

    Durch Zufall ergab sich einige Jahre später die Möglichkeit, innerhalb der A.S.A.M.I.R.² die sizilianischen Fechtschulen mit dem Messer und dem Hirtenstock zu erlernen. Zuerst erhielt ich Unterricht für den Hirtenstock der scuola fiorata, der blumigen Schule aus Calatabiano. Diese Schule ließ mich meine Einstellung zu einer >>ordentlichen Deckung<< überdenken. In maestro Orazio Barbagallo, der Gründer der A.S.A.M.I.R. und mein Förderer bezüglich der sizilianischen Kultur, fand ich eine hervorragende Quelle für die alte Tradition der scuola ruotata, die kreisende Schule aus Riposto. Maestro Barbagallo war der erste überhaupt, der mir die Tür zu den Schulen der Insel öffnete. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich an die Wurzel dieser Tradition gelangen konnte. Bis heute ist er mein Lehrer für den traditionellen Hirtenstock der kreisenden Schule, so wie er ihm einst vom Meister der Meister U Scapellinu gelehrt wurde. Weiterhin war Orazio Barbagallo derjenige, der mir den Kontakt zu maestro Salvatore Scarcella ermöglichte, einer Ikone der kreisenden Messerschule aus Riposto (corto ruotato tradizionale; siehe Seite 510). In maestro Scarcella habe ich einen Lehrer gefunden, der einem durch eine einzige Bewegung seines Waffenarmes im rechten Moment vor Augen führen kann, wie und wo man jahrelang falsch lag. Er war es, der mir als erster klargemacht hat, dass in einem einfachen Stich wesentlich mehr steckt, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Auch war er es, der mir das wahre sizilianische Messer offengelegt hat. Aus maestro Scarcella sprechen sechs Jahrzehnte fechterische Erfahrung – und das spürt man deutlich.

    1.3.5 Canosa, Apulien

    Fast parallel dazu begann ich die bäuerliche Tradition der Verteidigung mit Messer und Stock, das System Himmel und Wunder, cielo e meraviglia, aus Canosa in Apulien zu erlernen. Dieses übte ich mit einem der wenigen verbliebenen Meister dieser Kunst (siehe Kapitel 8). Durch dieses System erschloss sich mir auch der Nahkampf mit dem Messer, der in den Fechtschulen mit Duellkonvention gegebenenfalls verloren gegangen ist bzw. an dem man dort wahrscheinlich weniger glaubt(e). Diese spezielle Form des >>Ringkampfes mit dem Messer<<, die teilweise Bezug zum mittelalterlichen Dolchfechten aufweist, zeigt dadurch die technisch nahe Verwandtschaft zu den europäischen Fechtmeistern vergangener Tage. Es waren demnach die systemspezifischen Nahkampfbindungen, welche meine Fähigkeit verbesserten, einen Kampf schnell aus der Defensive in die Offensive umzukehren, ohne dabei stets aus der langen Distanz heraus agieren zu müssen.

    1.4 Die Pfeiler des Gebäudes

    Wie ich im Verlaufe dieses Buches noch erörtern werde, ist die Progression einer jeden Fechtschule mit Duellkonvention nahezu gleich: Zuerst erlernt man die Schule (scuola), die Grundbewegungen in streng festgelegten Lektionen, beziehungsweise Figuren oder auch Stiche genannt (lezioni, figure, puntate). Je nach Tradition haben sich diese Einzellektionen teilweis zu komplexen Formen entwickelt. Danach folgt die >>Schulung<< oder auch >>Unterweisung<< (insegnamento). Hier werden die Grundbewegungen mit einem Partner eingeübt. Zur Unterweisung gehören auch alle Aspekte, die nicht Teil der Grundbewegungen sind. Hierzu zählen nebst den Listen und Kniffen auch diverse Fechtstellungen in Relation zu ihrer taktischen Notwendigkeit. Im TIKF habe ich diese traditionelle Vorgehensweise selbstverständlich übernommen.

    Ferner besteht die Unterweisung meiner Schule aus der >>didaktischen Trinität<< Spiel, Verteidigung und Angriff – trinità didattica: gioco, difesa e attacco. Dies ist jedoch kein traditioneller Name, vielmehr Teil meiner Schule: Zuerst erlernt der Schüler das systemspezifische >>Spiel der Figuren<<, welches aus den Grundbewegungen besteht, die für die Positionswechsel (im Kreis) erforderlich sind. Danach, aus dem >>Spiel der Figuren<< heraus, folgen die spezifischen Verteidigungen mit der Klinge und der leeren Hand. Anschließend führt man den Schüler an die diversen Grundangriffe und Kniffe, die ebenfalls aus dem Kreisgehen erfolgen. Der letzte Schritt besteht darin, die drei Kernpunkte – Spiel, Verteidigung und Angriff – derart zu verbinden, dass das eine in das andere übergeht bzw. eine klare Trennlinie nicht mehr vorhanden ist.

    Eine Verteidigung kann demnach ein Angriff sein sowie auch der Angriff als Verteidigung genutzt werden kann. Eine Kreisfigur lässt sich zu Zwecken der Verteidigung und des Angriffes verwenden. Angriffe und Verteidigung stellen gleichermaßen Figuren des Kreisgehens dar. Diese Vorgehensweise erfordert jedoch einen klaren und geradlinigen Geist, da dieses Ziel nicht etwa durch Akkumulation, vielmehr nur durch Vereinfachung und Pragmatismus erreicht werden kann. Und so folge ich hier einer Richtlinie Nietzsches, die dieser in seinem >Antichrist< wie folgt formulierte:

    >>Formel unseres Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel.<<

    Es folgen alternative Methoden (Messer mit Jacke, Gürtel, Kamm, ein waffenloser Aspekt und auch das Doppelmesser) und auch die malizie, die hinterlistigen Vorgehensweisen, die nicht zum traditionellen Konventionsduell gehören, sondern zum Straßenkampf. Die malizie werden auch in Kombination zu den Listen und Kniffen gelehrt.

    Messer mit Jacke

    Zudem verfügt das TIKF über eine eigene Vorgehensweise im >>Nahkampf<<, es handelt sich eher um eine verkürzte mittlere Distanz, die zwar auf den selbigen technischen Prinzipien aufgebaut ist wie die der Fechtschulen des Saals, jedoch keinen Teil dieser Traditionen darstellt. Die Traditionen mit Duellkonvention verfügen, wie angedeutet, über keinen schulischen Nahkampf. Es handelt sich dabei auch nicht nur um die Konzepte der Tradition Himmel und Wunder (siehe Kapitel 8). Dieses bäuerliche System verfügt über einen eigenen und spezialisierten, sehr engen Nahkampf. Im Grunde ist es aber auch keine eigene systematische Entwicklung, da es sich lediglich um die Befolgung einer einzigen Taktik, eine geistige Ausrichtung handelt.

    Sofern der Schüler nicht möchte, muss er nicht jede Methode, jedes Subsystem innerhalb des Traditional Italian Knife Fighting erlernen. Das Beherrschen einer einzigen Schule ist absolut ausreichend, um mit einem Messer vernünftig umgehen zu können. Diese erlernt man bei entsprechendem Talent und Fleiß auch in einer recht übersichtlichen Zeit. Alles, was über das Erlernen einer einzigen Tradition hinausgeht, kann getrost als Leidenschaft und/oder Forschung bezeichnet werden. Jedoch kann man das TIKF nur als Gesamtkonzept gänzlich erfassen. Und dazu gehört nebst drei Messerschulen, die den Kern des Systems ausmachen, auch die Kenntnis des Hirtenstockes. Der Hirtenstock ist es nämlich, der dem Fechter die körperliche Haltung vermittelt, die benötigt wird und versteckt alle Klingenaktionen beinhaltet, die zum Meistern der Messerschule erforderlich sind.

    1.4.1 Ein freier Geist im Dienste des Fortschritts

    Das Hauptmerkmal des TIKF ist aber der in der Einleitung angesprochene wissenschaftliche Charakter bzw. die wissenschaftliche Herangehensweise. Da ich zum freien Denken erzogen wurde, waren Zweifel, Infragestellung und die Suche nach den Schwächen einer Idee wie auch das Streben nach deren Behebung meine steten Begleiter. Dogmatismus war mir hingegen schon als Kind suspekt. Da ich diese Geisteshaltung bis zum heutigen Tage bewahrt habe, ist es mir unmöglich, Tatsachen, nur weil sie z. B. von einer >>hohen Instanz<< behauptet werden, als gegeben hinzunehmen, ohne diese zuvor im Rahmen meiner Möglichkeiten auf Herz und Nieren überprüft zu haben. Und wenn sich eine Behauptung als unhaltbar bzw. als verbesserungswürdig herausstellt, muss diese aus meiner Sicht entweder verworfen oder verbessert werden. Das ist der Weg der Denker, und zwar seit Anbeginn der menschlichen Entwicklung. Es ist eine Art steter Kampf gegen das Starre und auch gegen die eigene Trägheit. Und man mag dabei selbstverständlich auch mal irren oder gar scheitern, denn nur durch das Prinzip >>Versuch und Irrtum<< nähert man sich schrittweise einer möglichen Lösung.

    Analysiert man die obigen Ausführungen, könnte man zur Ansicht gelangen, dass mein Vorgehen dem einer klassischen Tradierung widerspricht. Das stimmt zum Teil, zum Teil aber auch nicht. Es ist richtig und wichtig, herauszuheben, dass ich all mein Wissen zuerst einmal von den oben erwähnten Traditionen und Lehrern übernommen habe bzw. teilweise immer noch übernehme. Es ist aber falsch, dass ich partout nichts verändern darf, selbst wenn mir mögliche Schwächen auffallen.

    Zur Tradition gehört nämlich gleichermaßen die Traditionskritik. Formen und Lehren dürfen sich nicht gänzlich frei von Sinn und Verstand verselbständigen. Im Geiste des Rationalismus und der Aufklärung und dem daraus hervorgegangenen kritischen Hinterfragen überlieferter Ideen mittels des Vernunftprinzips ist man es sich schuldig, eigenständig zu denken. Den eigenen Geist nicht abzuwerten, ist übrigens eine Frage der Selbstachtung. Das blinde Verfolgen vorgekauter Ideen widerspricht hingegen der Vernunft. Erweisen sich diese Ideen nämlich als falsch, kann das je nach Bereich erhebliche Folgen haben, denn:

    >>Niemand irrt nur für sich allein, sondern ist auch Grund und Urheber fremden

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