Ein Adventskalender für alle
Von Honora Holler
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Über dieses E-Book
Erst seit drei Monaten leben Primus und Lenchen auf dem alten Gut, auf dem auch die Zwillinge Jale und Birke wohnen. Eigentlich rechnen Primus und Lenchen gar nicht damit, dass sie einen Adventskalender bekommen. Doch tatsächlich haben es die Eltern, der verrückte Onkel, die Tante, Anwohner des Gutes und ehemalige Angestellte geschafft, einen Adventskalender für die vier Kinder auf die Beine zu stellen.
Gemeinsam werden die Rätsel gelöst, Häuser gebastelt, Experimente durchgeführt und Schlüssel gehortet. Leuchtende Augen und ungewöhnliche Überraschungen lassen die Adventszeit wie im Fluge vergehen.
Doch nicht immer verläuft ein Tag wie geplant: Eine Haustür wird nicht geöffnet, eine Autopanne passiert und eine blöde Erkältung verdirbt die Jagd. Trotzdem ist ein Kind am Ende fast bereit auf seine Geschenke zu verzichten, wenn es im nächsten Jahr wieder so einen Adventskalender bekommt.
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Buchvorschau
Ein Adventskalender für alle - Honora Holler
30. November
Der schlaksige Junge stand still da. Der Duft von frischen Plätzchen umstrich seine Nase. Der Wohlgeruch aus gebackenen Keksen, Vanille, Zimt und gerösteten Haselnüssen forderte einen geradezu auf, die Küche zu betreten - wenn man denn durfte. Primus durfte nicht, er hatte Küchenverbot!
Dennoch stand er seit zehn Minuten, im toten Winkel der Küchentür auf dem Flur und wartete wie ein Krokodil auf seine Gelegenheit. Irgendwann würde seine Mutter ihre Backwaren unbeobachtet lassen, sie backte schließlich schon seit zwei Stunden. Plötzlich schrillte das Telefon mit seinem lauten „Rrring" durch das Haus. Erschrocken zuckte Primus zusammen. Jetzt musste er sich schnell entscheiden: Stehen bleiben oder schnell um die Ecke rennen? Mit angehaltenem Atem drückte er sich gegen die Wand des Flurs.
Er konnte das leise Klicken nicht hören, da das „Rrring" immer noch ertönte, aber er fühlte, wie die Wand kurz nachgab. Ein neuer Geheimgang? Er war froh darüber, dass seine Eltern das Erbe seiner Urgroßmutter angenommen hatten, denn dieses alte Haus, war wirklich ein Paradies für neugierige Kinder: Geheimgänge, ungenutzte Zimmer, große Speicherräume.
Ein weiteres „Rrring" ertönte, als mit Schwung die Küchentür aufging und seine Mutter in den Gang stürmte, während sie gleichzeitig versuchte, ihre teigverklebten Hände an einem Handtuch zu säubern. Primus wartete ab, bis er sie nicht mehr sehen konnte, ehe er durch die offene Küchentür spazierte.
Auf dem großen Tisch standen die Mehl- und Zuckertüte. Das Nudelholz lag achtlos am Rand des großen Nudelbretts, die Ausstecher für die Plätzchen steckten noch im Teig. Primus schaute noch mal Richtung Büro. Die ruhige Stimme seine Mutter klang gedämpft über den Gang. Jetzt hieß es schnell sein. Nicht, dass er wieder erwischt wurde. Grinsend und siegesgewiss näherte er sich dem Küchentisch: Roher Plätzchenteig zum Greifen nah oder lieber die fertigen Vanillekipferl?
„Solltest du es wagen, kleiner Plätzchendieb, dann kriegt Lenchen alle deine Adventsplätzchen morgen, unterbrach unerwarteterweise die Stimme seiner Mutter seinen Gedankengang. Erschrocken schaute der Neunjährige auf. „Aber ich will doch nur ein bisschen Teig
, bettelte er und schaute seine Mutter mit großen Hundeaugen an. Bei seiner kleinen Schwester funktionierte der Trick immer, hatte er neidvoll feststellen müssen. „Gestern hatte ich fast keinen Teig mehr zum Backen, Engelchen, erwiderte seine Mutter mit vorwurfsvollem Blick, während sie sich dem Tisch näherte und mit einer schnellen Handbewegung eine Teigkugel teilte. „Hier
, seufzte sie. „Eine für dich und eine für Lenchen", wies sie ihn mit gespielt strenger Miene an. Mit blitzartiger Geschwindigkeit schnappte sich Primus die mildtätigen Gaben und sauste aus der Küche.
Irgendwo in diesem riesigen Haus würde er seine kleine Schwester schon finden. Seine Eltern stöhnten zwar ab und zu über die Größe des geerbten Herrenhauses, doch für ihn und seine kleine Schwester war es der tollste Abenteuerspielplatz, den man sich vorstellen konnte. Seit drei Monaten lebten sie nun hier, und immer noch entdeckten sie unangetastete Zimmer und vergessene Gänge im Haus.
Dezember: 1. Advent
Jemand rüttelte an seiner Bettdecke! Verschlafen öffnete Primus seine Augen. „Steh endlich auf!, forderte ihn seine kleine Schwester auf. „Wir haben den ersten Dezember und noch immer nicht unseren Adventskalender gefunden
, hörte er schlaftrunken, Lenchen quengeln. Wie viel Uhr war es überhaupt? Primus linste auf seinen grünen Monsterwecker: Sechs Uhr. „Mach schon!", grummelte seine Schwester entnervt und zog mit einem Ruck die Bettdecke weg. Kalt, es war so verdammt kalt, schauderte Primus und schaute die zierliche sechsjährige Bettdeckenräuberin, die mit siegesgewissem Grinsen am Bettrand stand, strafend an.
Lenchen hatte ihre langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der ungeduldig hin und her wippte. Sie trug ihre ausgebeulten Cargohosen, ihren Lieblingspullover, der mal Papa gehört hatte und Turnschuhe. In den ausgebeulten Taschen der Hose befand sich mit Sicherheit: eine Taschenlampe, Bindfaden, eine Lupe und drei Schokoladenriegel – Standardausrüstung für ihre Abenteuer.
Er kannte Lenchen, wenn er jetzt nicht sofort aufstand, würde sie ihn weiterquälen, die Wasserpistole hatte sie bereits in ihrer Hand. Da er morgendliches Nassspritzen nicht mochte, kletterte er notgedrungen aus seinem übergroßen Himmelbett. Schnell huschte er in sein Badezimmer und erschien fünf Minuten später gewaschen und angezogen.
„Endlich bist du fertig!, stöhnte Lenchen theatralisch und stemmte ihre Hände in ihre Hüften. Gebieterisch forderte sie: „Die Karte!
Primus sah kurz zur Decke, ehe mit einem Seufzer in der Stimme seine Schwester daran erinnerte, dass auch kleine Diktatoren ein bisschen Höflichkeit nicht schaden würde, ehe er die Truhe unter der Fensterbank öffnete und die gefaltete Karte entnahm. Mit ihren flinken Fingern und einem kleinen Triumphschrei entriss Lenchen ihm diese. „Da versteckst du sie also", nuschelte sie. Ja, da hatte er sie versteckt und das nächste Versteck würde ein anderes sein, grinste Primus in sich hinein.
Gemeinsam setzten sie sich auf den Boden und betrachteten den Plan. Sie hatten bereits in den drei Wohnzimmern, der großen und kleinen Bibliothek, den fünf Schlafzimmern – die unbenutzt waren – und in der Küche sowie im Büro nachgeschaut. Nirgendwo hatten sie auch nur die Spur eines Adventskalenders gefunden.
Ihre Eltern kauften keine fertigen Adventskalender, sondern bastelten jedes Jahr einen, den sie zusammen öffnen durften. Letztes Jahr befanden sich grob ausgesägte Holztiere darin, die sie gemeinsam nachgeschnitzt, gefeilt und angemalt hatten. In einem anderen waren Geschichten gewesen. Primus hatte sie seiner Schwester vorgelesen, während Lenchen die beiliegenden Bilder ausgemalt hatte. „Und, wenn sie dieses Jahr gar keinen gemacht haben?, fragte Lenchen mit bebender Unterlippe. „Du weißt schon, wegen des Umzugs.
Das konnte gut sein, dachte er. War schließlich alles sehr drüber und drunter gegangen, als sie erfahren hatten, dass Urgroßtante Hortensie ihnen ihr Anwesen vermacht hatte.
„Selbst wenn sie es nicht geschafft haben, dann bekommen sie wenigsten unseren Adventskalender, meinte er und lächelte seine Schwester an. „Stimmt!
, strahlte Lenchen zurück. Heimlich hatten sie beide abends Bilder gemalt, Gedichte abgeschrieben und sogar Tonaufnahmen gemacht, welche die Eltern zum richtigen Zeitpunkt in ihrem Email-Postfach finden würden.
Plötzlich knarrte es auf dem Gang. „Mama oder Papa", flüsterte Lenchen mit großen Augen. Primus nickte, ja einer der beiden würde jetzt sicher das Frühstück vorbereiten. Den Kalender gab es - wenn überhaupt - erst heute Nachmittag beim Adventstee. Es war hier Tradition, dass sich alle Mieter und ehemaligen Angestellten an den Adventssonntagen zu einem Tee in einem der Salons trafen. Diese Tradition gab es schon seit mehr als fünfzig Jahren, hatte ihnen ihr Vater erklärt, und daran wollten sie auch nichts ändern.
Primus betrachtete die Karte. „Wir waren noch nicht auf dem östlichen Dachboden, raunte er und deutete nach oben. „Auf dem östlichen Dachboden?
, hauchte Lenchen mit zittriger Stimme. „Da, wo die vielen Spinnen sind? Er konnte förmlich das Entsetzen in ihrer Stimme hören. „Dachboden!
, sagte er bestimmt und nahm Lenchen bei der Hand.
„Wie seht ihr denn aus?, begrüßten ihre Eltern sie erstaunt als sie anderthalb Stunden später in das gemütliche Esszimmer, neben der Küche, traten. Primus und Lenchen schauten an sich herab: Spinnweben und Staubflusen hingen ihnen beiden in den Haaren und an den Hosen, dennoch grinsten sie wie Honigkuchenpferde. Den Adventskalender hatten sie zwar immer noch nicht gefunden, doch der Speicherraum, war an sich schon eine Schatzkiste gewesen. Schnell setzten sich an den gedeckten Tisch. Eier, Speck, warmes frisch gebackenes Baguette, selbst gemachte Marmelade von Frau Wiese und ein kleiner Gugelhupf standen auf dem, mit feinstem Porzellan, gedeckten Tisch. So was hatte es in ihrer alten Wohnung nie gegeben, doch als Mama die Geschirrvorräte von Urgroßtante Hortensie gesichtet hatte, beschloss sie, dass von nun an immer mit gutem Geschirr gespeist wurde. Am Anfang war es für Primus und Lenchen richtig ungewohnt und sie hatten aus jedem Essen ein Spiel gemacht: das „Feine Leute
hieß. Mittlerweile hatten sie sich daran gewöhnt, mit mehreren Tellern und unterschiedlichen Gläsern und Besteck zu essen. Glücklicherweise durfte am sonntäglichen Frühstückstisch jeder Platz nehmen, wie