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Allgemeinmedizin und Praxis: Facharztwissen, Facharztprüfung. Anleitung in Diagnostik, Therapie und Betreuung
Allgemeinmedizin und Praxis: Facharztwissen, Facharztprüfung. Anleitung in Diagnostik, Therapie und Betreuung
Allgemeinmedizin und Praxis: Facharztwissen, Facharztprüfung. Anleitung in Diagnostik, Therapie und Betreuung
eBook1.452 Seiten11 Stunden

Allgemeinmedizin und Praxis: Facharztwissen, Facharztprüfung. Anleitung in Diagnostik, Therapie und Betreuung

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Über dieses E-Book

Dieses Buch bietet das ganze Wissen für den komplexen Praxisalltag des Hausarztes mit seinen charakteristischen und uncharakteristischen Fällen. Vom ersten Patienten-Arzt-Kontakt über die Langzeitbetreuung bis zum Notfall, vom Kleinkind bis zum geriatrischen Patienten.

Das anerkannte Vorbereitungsbuch in der Allgemeinmedizin für Medizinstudium, PJ und Facharztprüfung.

Bewährt als Nachschlagewerk.

Die diagnostischen und therapeutischen Strategien

für die 300 regelmäßig häufigen Beratungsprobleme

  • Algorithmus zur Entscheidungsfindung
  • Stufendiagnostik: was? wann? wie weit?
  • Fallstricke und abwendbar gefährliche Verläufe
  • Schnittstelle Hausarzt – Spezialist – Klinik
  • Früherkennung, Vor- und Nachsorge, Check-up, DMPs

 Der unverzichtbare Begleiter für Ausbildung, Weiterbildung, Facharztprüfung

  • Leitliniengerecht nach DEGAM, Nationalen Versorgungsleitlinien und anderen EbM- Guidelines
  • Konform mit Approbations- und Weiterbildungsordnung „Facharzt für Allgemeinmedizin“ und „Facharzt für Allgemeinmedizin und Familienmedizin“
  • Sicherheit für die Facharztprüfung: Prüfungstechnik, Prüfungstipps, Prüfungsfragen

 NEU

  • Neue Beratungsprobleme: Chronische Wunden, Mund- und Gesichtsschmerzen, Meningitis, Dysthymia, seltene Krankheiten
  • Erweiterte Themen: Schmerzen im Rücken- und Oberschenkelbereich, Sehstörungen, Abdominalschmerzen, Distorsio pedis, Herzrhythmusstörungen
  • Neue Kapitel: Bedside skills, kleinchirurgische Eingriffe, Arzneimittel im Alter, Impf- und Medikationsmanagement
  • Beispielloses Internetportal „Mader: Fakten – Fälle – Fotos“ mit noch mehr Zusatzwissen

 „… ein aus der Praxis heraus geschriebenes Werk aus einem Guss. Das Buch isteine Bereicherung. Ich wünsche ihm eine weite Verbreitung.“

Prof. Dr. med. Ferdinand M. Gerlach, MPH   

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum27. Feb. 2018
ISBN9783662543474
Allgemeinmedizin und Praxis: Facharztwissen, Facharztprüfung. Anleitung in Diagnostik, Therapie und Betreuung

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    Buchvorschau

    Allgemeinmedizin und Praxis - Frank H. Mader

    Theorie

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018

    Frank H. Mader und Bernhard RiedlAllgemeinmedizin und Praxishttps://doi.org/10.1007/978-3-662-54347-4_1

    1. Grundlagen der Allgemeinmedizin

    Frank H. Mader¹ und Bernhard Riedl²

    (1)

    Facharzt für Allgemeinmedizin, Nittendorf, Deutschland

    (2)

    Facharzt für Allgemeinmedizin, Wenzenbach, Deutschland

    1.1 Regelmäßigkeit der Fälleverteilung

    1.1.1 Historische Entwicklung

    1.1.2 Überprüfung

    1.1.3 Konsequenzen

    1.2 Zweidimensionale Systematik

    1.3 Entscheidungsfindung

    1.3.1 Klinik und Praxis

    1.3.2 Einflussfaktoren

    1.3.3 Anamnese, Anamnestik, Kontaktfragen, erste Sätze

    1.3.4 Beratungsanlass, Beratungsursache, Beratungsergebnis, Beratungsproblem

    1.3.5 Algorithmus zur Ersteinschätzung

    1.3.6 Programmierte Diagnostik

    1.3.7 Allgemeinmedizinische Notfälle

    1.4 Klassifizierung der diagnostischen Situation

    1.5 Fachsprache, Kasugraphie

    1.6 Abwendbar gefährlicher Verlauf (AGV)

    1.7 Abwartendes Offenlassen (AO)

    1.8 Unausgelesenes Krankengut

    1.9 Zeitfaktor

    1.10 Handeln und Behandeln

    1.11 Gesundheitspolitischer Rahmen

    1.12 Beratungsmedizin

    1.13 Konzept Allgemeinmedizin

    1.14 Der reformierte Unterricht

    Die berufstheoretische Forschung ist die wissenschaftliche Betrachtung von

    Funktion,

    Fach und

    Fällen

    der Allgemeinmedizin zum Zweck von Ordnung und Lehre.

    Die berufswissenschaftliche Forschung in der Allgemeinmedizin befasst sich mit Berufspraxis und Berufstheorie (Mader 1995).

    Die Allgemeinmedizin ist eine eigenständige ärztliche Funktion und Gegenstand einer spezifischen Grundlagenforschung. Ihre Ausübung basiert sehr wesentlich auf dem von den Spezialfächern geschaffenen Wissen über Krankheiten und Syndrome (Definition; Anhang 1).

    Zu unterscheiden vom Fachgebiet Allgemeinmedizin sind der sozialpolitisch definierte Versorgungauftrag Hausarztmedizin (Kap. 15.​2.​1) sowie vor allem die allgemeine Medizin, deren Berufsausübung für jeden Arzt verbindlich in den Gesetzen der Ärztekammern geregelt ist.

    Zu unterscheiden sind

    allgemeine ärztliche Aufgaben/Leistungen,

    allgemeinärztliche Aufgaben/Leistungen.

    Allgemeine ärztliche Leistungen, z.B. Patienteninformation, Sterbebeistand (FAKT), sind in der Regel Aufgaben eines jeden Arztes, unabhängig von seinem Fach. Gegenstand dieses Buches sind die spezifischen allgemeinärztlichen Aufgaben und Leistungen durch den Facharzt für Allgemeinmedizin (Abschn. 14.​2).

    Die Allgemeinmedizin ist dadurch charakterisiert, dass Menschen aller Altersgruppen, beiderlei Geschlechts, jeder Gesundheitsstörung, in jedem Stadium und zu jeder Zeit Patienten des Allgemeinarztes sein können.

    Der Allgemeinarzt übt in der Regel seinen Beruf als niedergelassener Arzt in einer Allgemeinpraxis aus. Die wesentlichen Aufgaben des Allgemeinarztes liegen in der praxisgerechten und problemorientierten Diagnostik und Therapie jeder Art von Erkrankungen, bevorzugt beim unausgelesenen Krankengut, ferner in der Vorsorge und Gesundheitsförderung, in der Früherkennung von Erkrankungen, insbesondere von abwendbar gefährlichen Verläufen (AGV), in der ärztlichen Betreuung chronisch kranker und alter Menschen, in der Erkennung und Behandlung von milieubedingten Schäden, in der Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen sowie in der Integration der medizinischen, sozialen und psychischen Hilfen für die Kranken und in der gezielten Zusammenarbeit mit Ärzten anderer Gebiete, mit Krankenhäusern und Einrichtungen des Gesundheitswesens.

    Die berufstheoretische Basis der Allgemeinmedizin als angewandte Heilkunde beruht nicht auf den Entitäten der klassischen klinischen Lehre von den definierten Krankheiten, sondern auf den Fällen (Abschn. 1.3), also auf den Beratungsergebnissen (BEs) des unausgelesenen Krankengutes und ihrem regelmäßig häufigen Vorkommen in der Allgemeinpraxis.

    Der Medizinstudent, der PJ-Student sowie der Arzt in Weiterbildung sollten sich daher zunächst mit diesen berufstheoretischen Grundlagen vertraut machen, bevor sie in die Praxis der Allgemeinmedizin eingeführt werden bzw. in dieser tätig werden. Darin liegt die wesentliche Aufgabe für die praktische studentische Ausbildung und die ärztliche Weiterbildung.

    1.1 Regelmäßigkeit der Fälleverteilung

    Die Entwicklung zum Fach Allgemeinmedizin begann in den Jahren 1944/45 damit, dass der damalige Marburger praktische Arzt Dr. med. Robert N. Braun anfing, die eigenen allgemeinärztlichen Tätigkeiten und Erfahrungen zu durchdenken und systematisch wissenschaftlich aufzuarbeiten (FAKT).

    1.1.1 Historische Entwicklung

    Braun erkannte als Erster bei dem an die Allgemeinmedizin herangebrachten Krankengut ein inneres Ordnungsprinzip, er sah also bereits 1945 Indizien für die Existenz einer gewissen Regelhaftigkeit der Praxisvorkommnisse.

    Diesen Fällen ging er statistisch zunächst von 1944–1954 in 3 eigenen, grundverschiedenen Allgemeinpraxen nach: in einer gemischten deutschen Stadt- und Landpraxis in Marburg an der Lahn, einer österreichischen Massenpraxis in Wiener Neustadt sowie einer kleinen österreichischen Landpraxis in Brunn an der Wild. Die erfassten Ähnlichkeiten in Bezug auf die Häufigkeiten der Fälle waren geradezu unglaublich (Braun et al. 2004).

    Dieses Phänomen war von R. N. Braun erstmals 1955 publiziert und als »Fälleverteilungsgesetz« bezeichnet (Braun 1955) sowie 2003 neu formuliert worden (Danninger et al. 2003). Diese gesetzmäßig fassbare epidemiologische Besonderheit wurde 2009 von W. Fink zusammen mit M. Konitzer und dem Mathematiker V. Lipatov erneut bestätigt (Fink et al. 2009). Dabei ist »(Natur-)Gesetz« als »regelmäßiges Vorkommen« bzw. »regelmäßiges Verhalten wahrnehmbarer Dinge« bzw. als ein »inneres Ordnungsprinzip« zu verstehen (FAKT).

    Bevölkerungsgruppen von mindestens rund 1.000 Menschen, die unter ähnlichen Bedingungen leben, sind dem Faktor Gesundheitsstörung mit signifikant ähnlichen Ergebnissen unterworfen.

    1.1.2 Überprüfung

    Eine solche Regelmäßigkeit der Fälleverteilung lässt sich auch dann noch nachweisen, wenn z. B. in einer Großstadt wie in Berlin jene Allgemeinpraxen verglichen wurden, von denen die eine einen hohen und die andere einen niedrigen Migrantenanteil aufwies (Göpel in Hamm 1986) (FAKT).

    Mit fällestatistischen Untersuchungen in der Allgemeinpraxis unter Verwendung derselben Fachsprache befassten sich im deutschsprachigen Raum ferner F. Prosénc (1966), A. Sonnleitner (1986) und der Schweizer P. Landolt-Theus (1992). Für den Pariser Großraum haben die französischen Ärzte R. Sourzac und E. Very unter Leitung von O. Rosowsky dieselben Untersuchungen mithilfe derselben Fachsprache innerhalb einer 2-Jahres-Statistik durchgeführt (Sourzac u. Very 1991). W. Fink veröffentlichte eine 10-Jahres-Statistik (1989–1999) aus ihrer österreichischen Allgemeinpraxis (Fink u. Haidinger 2007) (FAKT).

    Danninger registrierte von 1991–1996 insgesamt 17.255 Beratungsergebnisse (Danninger 1997). Nicht erfasst wurden – wie bei den Voruntersuchern – Non-sickness-Kontakte (Abschn. 1.12). Vergleicht man diese fünf 1-Jahres-Statistiken von Danninger mit den Erfassungen von Braun aus den Jahren 1977–1980 und Landolt-Theus von 1983–1988, so ergibt sich eine signifikante Korrelation von r = 0,6. Dies entspricht einer weitgehend identischen Fälleverteilung (Braun u. Haber 1998).

    1.1.3 Konsequenzen

    Etwa 300 Fälle (Symptome, Symptomgruppen, Bilder von Krankheiten und Diagnosen) begegnen dem Allgemeinarzt in einer durchschnittlich großen Praxis regelmäßig häufig, d. h. ein- bis dreimal pro Jahr (Tab. 1.1). Der Arzt kann sich bei einer solchen Häufigkeit noch eine gewisse Erfahrung im Umgang mit dem Problem erwerben. Diese Fälle machen im langjährigen Durchschnitt ca. 95 bis 98 % aller BEs einer Allgemeinpraxis aus (Abb. 1.1).

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    Abb. 1.1

    Verteilung der regelmäßig häufigen Beratungsergebnisse (BEs) nach ihrem Rang 1–300 in fünf 1-Jahres-Statistiken (1983–1988). (Landolt-Theus 1992)

    Tab. 1.1

    Beratungsergebnisse (BEs) aus dem unausgelesenen Krankengut des Schweizers P. Landolt-Theus (Stadtpraxis) der Jahre 1983–1988, aufgeschlüsselt nach durchschnittlichem Häufigkeitsrang und Häufigkeit in Promille im Vergleich zu den Zahlen des Österreichers R. N. Braun (Landpraxis) der Jahre 1977–1980. Die umfangreichen Ergebnisse der eigenen Fälle innerhalb der 10-Jahres-Statistik (1989–1999) der Österreicherin Waltraud Fink sowie der Vergleich mit anderen Statistiken von Danninger sowie Landolt- Theus und den Statistiken von Braun bis zu den Jahren 1954–1959 finden sich bis einschließlich Rang 514 (»Zungenbändchen«) vollständig auf der Internetplattform »Mader-Fakten-Fälle-Fotos®« in Kap. 1.1.2.

    Diese Statistik erfasst nicht die Non-sickness-Kontakte (Abschn. 1.10). Für die Zwecke der Dokumentation zusätzliche Ausweisung der jeweiligen BEs als Symptom (A), Symptomgruppe (B), Bild einer Krankheit (C) oder exakte Diagnose (D) sowie Benennung der regelmäßig häufigen BEs nach ICD-10; Einordnung sämtlicher BEs aus statistischen Gründen in die Fenster 1–12 der zweidimensionalen Systematik (Tab. 1.2). Ab Rang 302 wird bei Landolt-Theus und ab Rang 289 bei Braun die 0,33‰-Marke unterschritten: Der »Durchschnittspraktiker« sieht also nur noch ungefähr einmal jährlich einen solchen Fall auf 3.000 BEs. Die danach folgenden BEs sind »nicht mehr regelmäßig häufig«, sondern eher zufällig in den untersuchten Zeiträumen vorgekommen. Fortführung der Tabelle bis zum Rang 479 (»Zehendeformation«) auf der Internetplattform »Mader-Fakten-Fälle-Fotos®« in Kap. 1.1.3.

    Die häufigsten 100 Vorkommnisse in der Allgemeinpraxis betragen fast 80 %, die häufigsten 200 machen bereits 93 % aller BEs einer Allgemeinpraxis aus (Landolt-Theus 1992).

    Weltweit sind in der Literatur jedoch rund 60.000 mehr oder weniger voneinander abgrenzbare Krankheiten, Syndrome und zahllose Symptome und Symptomgruppen beschrieben. Geschätzte 6.000 bis 8.000 Krankheiten gelten als »selten« (Orphan Diseases, Abschn. 1.13) (FAKT). Während seines Berufslebens sieht der Praktiker immerhin 2.500–3.000 verschiedene Entitäten (Abb. 1.2).

    A978-3-662-54347-4_1_Fig2_HTML.jpg

    Abb. 1.2

    Zusammenschau der Häufigkeiten von verschiedenen Entitäten (Krankheiten, Syndrome, Beratungsergebnisse) in Weltliteratur, ICD-10, 30 Praxisjahren und alljährlich in einer Hausarztpraxis. (Braun 1988b; Mader 1992; mit freundlicher Genehmigung)

    Ein Blick in die verschiedenen Häufigkeitsstatistiken von Autoren aus weit auseinander liegenden Jahren ermöglicht es jedem Hausarzt, rasch und ziemlich genau zu ersehen, welche Fälle in welcher Häufigkeit ihm während seiner Praxistätigkeit in der Regel begegnen (FAKT). Dieselbe Regelmäßigkeit der Fälle gilt auch für Praxen mit einem hohen Anteil von Migranten (Absch. 1.1.2).

    Der Wert dieser Tabellen wird nicht dadurch geschmälert, dass einzelne Benutzer manchmal bestimmte BEs in ihrer Praxis nicht vorweisen können (z. B. vaginaler Fluor, Wunden, Konjunktivitis, Schwangerschaft). Eine solche Ausblendung von Fällen erklärt sich meist durch eine hohe Versorgung mit Spezialisten im betreffenden Einzugsgebiet (Göpel 1984).

    Andere Häufigkeitsreihungen könnten durch klimatische Unterschiede, durch verschiedene regionale Faktoren (z. B. Arbeitsbedingungen der Patientinnen und Patienten) oder durch eigene fachliche Neigungen oder spezielle Kenntnisse erklärt werden, wie im Falle des Allgemeinarztes F. Prosénc, dessen Sonderinteressen dem Auge und dem Bewegungsapparat galten (Prosénc-Phänomen A und B) (Wittmann u. Mader 1985) (FAKT, FOTO).

    Seit den ersten fällestatistischen Untersuchungen von R. N. Braun aus den Jahren 1954–1959 nahmen in den Statistiken der folgenden Jahrzehnte im Wesentlichen der Diabetes mellitus und die Hypertonie an Häufigkeit zu sowie die pyogenen Erkrankungen ab. Als regelmäßig häufiges neues BE wurde bei Danninger in den Statistiken 1991–1996 erstmals die Borreliose mit Rang 271 registriert, die in der 10-Jahres-Statistik von Fink bereits Rang 197 einnimmt (Braun RN et al. 2007) (FAKT).

    Ähnlich verhält es sich mit der Entwicklung der Inzidenz des BE Hörsturz über die letzten Jahrzehnte hinweg: Auffallenderweise wurde in den spezialistischen Lehrbüchern der 1960er und 1970er Jahre der Hörsturz nur am Rande erwähnt. Damit stimmen auch die Statistiken von Braun überein, der in den eigenen Praxen während der Jahre 1944–1984 keinen einzigen Fall bei weit über 120.000 BEs gesehen hatte (Braun 1991, pers. Mitteilung).

    Aufgeschlüsselt nach dem Lebensalter des Patienten (z. B. Kinder bis 14. Lebensjahr, Patienten über 65 Jahre) lassen sich aus solchen Häufigkeitsverteilungen die unterschiedlichen altersbezogenen Beratungsergebnisse ersehen (verschiedene Alterstabellen in FAKT); damit hat der Allgemeinarzt einen weiteren guten Überblick über das altersentsprechende Fällespektrum, mit dem er in seiner Hausarztpraxis grundätzlich rechnen sollte.

    Mit solchen statistisch gesicherten Beobachtungen der Fälleentwicklung über lange Zeiträume lässt sich einerseits die Richtigkeit des von Braun beobachteten inneren Ordnungsprinzips belegen; darüber hinaus leistet die allgemeinmedizinische Berufstheorie einen wesentlichen Beitrag zur Versorgungsforschung, indem sie einen sensiblen Außenfühler der angewandten Heilkunde darstellt.

    Neben den regelmäßig häufigen BEs kommen klarerweise in jeder Praxis auch immer wieder andere, nicht regelmäßig häufige BEs vor. Verglichen mit den regelmäßig häufigen BEs ist ihre Gesamtzahl jedoch klein (2–5 % zu 95–98 %) (FAKT).

    Die Allgemeinmedizin kann ihrem Wesen nach keine Konzentration auf bestimmte Krankheitsgruppen sein, wie das für die Spezialfächer gilt. Sie muss vielmehr nicht nur mit allen Erkrankungen rechnen, sondern auch mit ihnen umgehen können, damit die Patienten rasch und vernünftig versorgt werden können (Braun et al. 2004).

    1.2 Zweidimensionale Systematik

    Der Allgemeinarzt braucht für verschiedene Zwecke (z. B. Statistik, Fortbildungsbedürfnisse) Systeme zur Ordnung seiner Beratungsergebnisse (BEs) und dazu Hauptgruppen in verhältnismäßig kleiner Zahl.

    Bei einem Durcheinander, wie es unabänderlicherweise die Krankheitsbegriffe und die Klassifizierungen darstellen, kann man die einzelnen Elemente weder nach Fächern noch sonst irgendwie voll befriedigend gruppieren (FAKT). Für die Bedürfnisse dieses Buches hat sich die Gliederung der zweidimensionalen Systematik nach R. N. Braun angeboten (Tab. 1.2). An dieser Systematik fallen senkrecht 4 Bereiche (A, B, C, D) und waagerecht 12 Fenster (1–12) auf. Die waagerechten Fenster 1–12 basieren auf der diagnostisch und therapeutisch engen Zusammengehörigkeit der einschlägigen Vorkommnisse (FAKT).

    Tab. 1.2

    Verteilung von rund 8.000 unausgelesenen Praxisfällen auf die 48 Felder einer speziellen Zweidimensionalen fällestatistischen Systematik der Jahre 1977–1980. (Mod. nach Braun 1986)

    Die Gliederung der allgemeinärztlichen Beratungsprobleme in diesem Buch nach 12 Großkapiteln entspricht den 12 Fenstern der zweidimensionalen Systematik (Tab. 1.2).

    Darüber hinaus gibt es weltweit zahlreiche und unterschiedliche Klassifikationssysteme für die verschiedensten medizinischen Bedürfnisse. Für die Bundesrepublik Deutschland ist derzeit die International Classifiation of Diseases (ICD) in der 10. Fassung von 1995 (ICD-10) mit ungefähr 14.500 beschriebenen Entitäten (Abb. 1.2, Seite 5) verbindlich. Dieser klinische Schlüssel ist allerdings weitgehend ungeeignet für die Benennungsbedürfnisse der Allgemeinpraxis.

    Die Allgemeinärzte brauchen praxisgerechte Bezeichnungen weniger für das diagnostisch Scharfe und das Typische, sondern für das diagnostisch eher Unscharfe und Uncharakteristische (Mader 2000).

    In anderen Ländern, in denen die primärärztliche Versorgung eine dominierende Rolle spielt, ist die Kodierung nach dem WONCA-System International Classification of Primary Care in der Version 2 (ICPC-2) obligat. Die Kasugraphie des Allgemeinarztes (Abschn. 1.5) ist weitgehend kompatibel mit der ICD-10 und der ICPC-2 (Fink et al. 2010).

    1.3 Entscheidungsfindung

    Grundsätzlich muss der Allgemeinarzt mit allen nur möglichen Beratungsproblemen rechnen. Das ist die laufende Herausforderung in der täglichen Sprechstunde in Diagnostik, Therapie und Betreuung seiner Patienten (FOTO). Aufgrund der Mehrdimensionalität des Krankseins, der Vielseitigkeit der Ursachen, der systemimmanenten diagnostischen Unsicherheit und vieler anderer Einflussfaktoren wird die Entscheidungsfindung in der Allgemeinmedizin unbewusst oder bewusst zum komplexen Vorgang (Klein 2006; Wübken et al. 2015). Dies gilt nicht nur für die Diagnostik, sondern auch für die Therapie (Abschn. 1.10). Nicht nur deswegen »ist die Entscheidung schwer«, wie es bereits im 5. Satz des Corpus Hippocraticum heißt. Die Ärzte von heute in Klinik und Praxis leiden oft auch an einer Überfülle von Informationen, die den Entscheidungsprozess ebenso negativ beeinflussen können wie früher die zu wenigen Daten (Gross 1985).

    Semantisch ist zu unterscheiden zwischen

    Diagnostik (dem Weg) (FAKT),

    Differenzialdiagnostik (der Abwägung) und

    Diagnose (dem Ziel).

    Diagnostik ist ein prinzipiell unabschließbarer Prozess, bei dem es gerade darauf ankommt, den Punkt zu kennen, an dem man diesen Prozess abbrechen muss (Wieland 2004). Sie ist der Weg von der Beratungsursache (BU) zum Beratungsergebnis (BE). In der allgemeinmedizinischen Fachsprache ist der Begriff Differenzialdiagnose unlogisch (FAKT).

    1.3.1 Klinik und Praxis

    In Deutschland sind der stationäre Bereich (Klinik) und der ambulante Bereich (Praxis) traditionell voneinander weitgehend getrennt. Der Kliniker ist auf Entdeckung und Behandlung von Krankheiten spezialisiert, der Allgemeinarzt setzt dagegen seinen Schwerpunkt auf den Umgang mit den Fällen (Abschn. 1.3.4) (FAKT). Auch aus der Sicht des Patienten bestehen deutliche Unterschiede zwischen stationärer und ambulanter Versorgung (FAKT). In unserem Sozialversicherungssystem gibt es in der Regel keine Möglichkeit der wechselseitigen Patientenbetreuung (Abb. 1.3).

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    Abb. 1.3

    Unterschiede zwischen stationärem und ambulantem Versorgungsbereich in Deutschland (Mader 2016)

    Ebenso unterscheidet sich der niedergelassene Spezialist in Krankengut und Vorgehensweise vom Allgemeinarzt (Tab. 1.3). Der Allgemeinarzt geht individuell, problemorientiert, patientenorientiert sowie kontinuierlich vor, der Spezialist systematisch, krankheitsorientiert und episodisch.

    Tab. 1.3

    Unterschiede zwischen Spezialist und Allgemeinarzt bezüglich Krankengut und Vorgehensweise (Mader 2010)

    Die Besonderheiten der Entscheidungsfindung in der Allgemeinmedizin lassen sich im Unterschied zur klinischen Medizin im Wesentlichen folgendermaßen beschreiben (Mader 2010):

    Nicht immer »alles« machen (können, dürfen, müssen).

    Die exakte Diagnose ist nicht das primäre Ziel der Diagnostik.

    Handeln und Behandeln erfolgen häufig auf der Basis von Subjektivität, Uncharakteristischem, Unsicherheit und Falsifizierung (»Es sieht so aus wie …, aber was ist es wirklich?«).

    1.3.2 Einflussfaktoren

    Die Entscheidungsfindung in der Medizin wird – abgesehen vom Notfall – im Wesentlichen von drei Faktoren (FAKT) beeinflusst:

    Arzt: Person – Fachkenntnisse – Berufserfahrung – erlebte Anamnese

    Patient: Person – Laienkenntnisse – Erfahrung mit sich selbst – Vertrauen zum Arzt

    Äußere Umstände: Verfügbarkeit der Versorgung – Druck des Laienumfeldes – Versichertenstatus

    Nicht minder zahlreiche Faktoren können im Laienbereich auf die Entscheidungsfindung einwirken, beispielsweise

    Leidensdruck (»Aua!«, » … weh«)

    Leidenserfahrung (»schon mal gehabt«)

    Laienwissen (Ratgeber, Internet)

    Laienumfeld (»Du solltest mal … «)

    Angst, Furcht (»Hoffentlich«)

    Verdrängung (»Will es nicht wissen«)

    Die Allgemeinärzte brauchen Entscheidungshilfen und Handlungsleitlinien weniger für das diagnostisch Scharfe und Typische, sondern für das diagnostisch eher Unscharfe und für das Uncharakteristische (Mader 2000b).

    1.3.3 Anamnese, Anamnestik, Kontaktfragen, erste Sätze

    In der Allgemeinmedizin geht es nur ausnahmsweise darum, vom Patienten anfangs verschwiegene Beratungsursachen mit großem zeitlichen Aufwand herauszubekommen. Bei der überwältigenden Zahl der Fälle ist das eingangs »spontan« vorgebrachte Problem auch das wirkliche (Braun 1982). Eine Untersuchung in acht europäischen Allgemeinpraxen ergab, dass sich die Spontanangaben des Patienten bezüglich Hauptbeschwerden und die demonstrierten Krankheitszeichen in über 90 % aller Fälle als diagnostisch nützlich erwiesen (Prosenc et al. 1964).

    Die klassische klinische Anamnese als überaus umfangreiche Vorerhebung für die Krankengeschichte des Patienten (FAKT) ist durchweg an Kliniken und bei Spezialisten Standard. Ihre Ergiebigkeit für die Allgemeinpraxis wird allerdings oft überschätzt (FAKT). Im Praxisalltag sollte korrekterweise der berufstheoretische Begriff Anamnestik verwendet werden, wenn es um die übliche Form der gezielten Befragung in der Allgemeinpraxis geht, die unter dem Druck des Zeitfaktors zur Erfassung relevanter Patientendaten führt (Braun et al. 1995). Selbstverständlich muss dabei auch ein möglicher abwendbar gefährlichen Verlauf (AGV) bedacht werden.

    Die spontanen Äußerungen des Patienten und seine Vermutungen immer ernst nehmen!

    In der Allgemeinpraxis haben sich bei einem neuen Fall bestimmte Kontaktfragen bewährt (FAKT), die sich auch in den Diagnostischen Programmen (Abschn. 1.3.6) finden:

    »Wie fühlen Sie sich? Fühlen Sie sich schwer krank?«

    »Was vermuten Sie denn selbst?«

    »Was befürchten Sie? Wovor haben Sie Angst?«

    »Was haben Sie selbst schon gemacht/dagegen getan?«

    Die Kontaktfrage nach »Befürchtung/Angst« des Patienten kann oftmals einen raschen und überraschenden Einstieg in die Welt des Patienten geben (FAKT).

    Vor allem einem möglicherweise AGV gelten z. B. folgende Kontaktfragen:

    »Haben Sie Fieber?«

    »Haben Sie Gewicht abgenommen?«

    »Wann war die letzte Regel?«

    Der erste Satz des Patienten oder seines Angehörigen/Betreuers (FAKT) gibt dem Arzt eine gute Gelegenheit für Kontaktfragen sowie einen Einstieg in die Anamnestik (FALL).

    So wichtig wie der erste Satz in der Patienten-Arzt-Begegnung kann auch der letzte Satz des Kranken sein (z. B. beim Hinausgehen aus dem Behandlungszimmer).

    1.3.4 Beratungsanlass, Beratungsursache, Beratungsergebnis, Beratungsproblem

    Der Beratungsanlass ist der Umstand, der letztlich den Patienten bewegt, einen Arzt aufzusuchen; dieser kann von vielfältigen Faktoren abhängen (z. B. Leidensdruck, Drängen des Partners, durch Medien vermittelte Ängste).

    Die Beratungsursache (BU) (engl. reason for consultation, reason for encounter; frz. motif de la consultation) dagegen ist quasi das anamnestische Kondensat aus einer Fülle von Angaben, Bemerkungen, Beobachtungen etc., das der Arzt aufgrund der konkreten Patienten-Arzt-Begegnung gewinnt, dokumentiert und zur Grundlage seiner weiteren Diagnostik macht. Weitere fremdsprachliche Bezeichnungen für BU in (FAKT).

    Für gewöhnlich geht es bei der BU um ein einziges Problem. Der Kranke kann sich aber auch 2 oder mehr Fragen für den Arztkontakt »aufgespart« haben. Manchmal fallen dem Patienten gerade »beim Hinausgehen« aus dem Arztzimmer noch irgendwelche Fragen oder Gesundheitsstörungen ein (FALL). Die Problematik der BU ist derzeit ein wissenschaftlich fast unberührtes Gebiet.

    Die eher seltene vorgeschobene Beratungsursache (engl. hidden agenda) ist eine meist unbewusste Präsentation des Patienten von überwiegend verschiedensten körperlichen Beschwerden als Leitsymptom, bei denen auffallend häufig eine psychische oder psychosomatische Affektion vorliegt.

    Das Beratungsergebnis (BE) (engl. result of consultation; frz. résultat de consultation) ist das Resultat des Allgemeinarztes am Ende der einzelnen Konsultation (»Beratung«) mit Bewertung, Benennung und Dokumentation des jeweiligen diagnostischen Prozesses (Abb. 1.4). Das einzelne BE wird auch als Fall bezeichnet.

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    Abb. 1.4

    Der Weg von den Beratungsursachen (BU) mithilfe der Diagnostik zur Bewertung und mithilfe der Klassifizierung zu den Beratungsergebnissen (BEs), die ein Symptom (A), eine Symptomgruppe (B), das Bild einer Krankheit (C) oder eine exakte Diagnose (D) sein können. Als Beratungsproblem wird der diagnostische Prozess zwischen BU und BE bezeichnet

    Die Fälleverteilung ist eine Statistik der BEs, nicht der BUs. Die programmierte Diagnostik (Abschn. 1.10) geht dagegen von der BU aus und führt zum BE.

    Die Summe der Beratungsergebnisse einer Allgemeinpraxis lässt sich nicht auf einzelne Fachgebiete (z. B. Chirurgie, Dermatologie) aufgliedern (FOTO). »Die Krankheiten gehören allen Fächern« (Braun 1982).

    Als Beratungsproblem wird der diagnostische Prozess zwischen BU und BE bezeichnet (Abb. 1.4).

    Von den BEs, also den Fällen, sind statistisch die Inanspruchnahmen (FAKT), also die Kontakte, scharf zu trennen. Tab. 1.1 erfasst die BEs (Fälle) einer Allgemeinpraxis und stellt damit keine Statistik der Inanspruchnahmen dar.

    1.3.5 Algorithmus zur Ersteinschätzung

    Wird der Allgemeinarzt (oder der Medizinstudierende) mit einem neuen Fall konfrontiert, so sollte er versuchen, möglichst immer mit der gleichen Systematik eine Ersteinschätzung vorzunehmen (Tab. 1.4); zusammen mit einigen weiteren Überlegungen (FAKT) lassen sich grob die Dimension des Falles und die einzuleitenden Konsequenzen abschätzen (Mader 1999) (FALL).

    Tab. 1.4

    Allgemeinmedizinischer Algorithmus zur Ersteinschätzung eines neuen Falles (Mader 1999, mod. 2017)

    1.3.6 Programmierte Diagnostik

    Im Qualitätskonzept der Allgemeinmedizin (Abb. 1.10) ist die programmierte allgemeinmedizinische Diagnostik ein wichtiger Baustein. Diese diagnostischen Programme sind ein spezifisches und bewährtes Werkzeug in der Allgemeinmedizin, mit dem der Allgemeinarzt bei seinen Problemfällen primär so effektiv arbeiten kann, dass dabei das Häufige wie das weniger Häufige, das Typische wie das Atypische ebenso wie das abwendbar Gefährliche durch Falsifizierung möglichst umfassend berücksichtigt wird (FAKT). Die 82 Programme¹ (A.3) gehen von vielfältigen, praxisrelevanten Beratungsursachen aus (Tab. 1.6) und dienen der Erfassung, Sicherung und Dokumentation verschiedener Beratungsergebnisse.

    Die Abb. 1.8 Checkliste Nr. 67 »Tabula diagnostica« für die allgemeinmedizinische Diagnostik bei einer Vielzahl von charakteristischen allgemeinen und/oder lokalen Beschwerden und/oder Krankheitszeichen ist das erste wissenschaftlich erarbeitete allgemeinmedizinische Werkzeug (Abb. 1.8, S. 27). Die Vorgeschichte reicht bis ins Jahr 1957 zurück (FAKT).

    Durch das standardisierte und jederzeit reproduzierbare diagnostische Vorgehen mit solchen Checklisten verfügt der Allgemeinarzt nicht nur über Barrieren gegen die verlockenden Praxiserfahrungen, sondern auch gegen das Übersehen, Unterlassen oder Vergessen (FALL).

    1.3.7 Allgemeinmedizinische Notfälle

    Meist dramatische Situationen (z. B. massive Blutung, Polytrauma) stellen für den Allgemeinarzt in seiner Praxisroutine eine absolute Rarität dar; bei ihnen liegt der AGV ganz offensichtlich auf der Hand.

    Eher schon muss der Allgemeinarzt mit jenen äußerst dringlichen Fällen rechnen, bei denen die Notfallsituation und damit der AGV nicht gleich »auf den ersten Blick« ersichtlich sind, bei denen aber dennoch rasches Handeln erforderlich ist (z. B. plötzliche einseitige Sehstörung, Bild einer eingeklemmten Hernie, psychische Kompensation nach Trauerfall, akute Sprechstörung, spritzende Blutung aus Ulcus cruris, Schock bei Hyposensibilisierung). Bei diesen allgemeinmedizinischen Notfällen fühlt sich der Patient auch subjektiv in seiner Gesundheit bedroht, selbst wenn keine Gefahr vorliegt (Abholz u. Pillau 2012). Andererseits kennt auch der Laie manche sich wiederholende Notfälle und geht oftmals routiniert damit um (z. B. Fieberkrampf bei Kleinkind, epileptischer Anfall, akute Unterzuckerung, Insektenstich, »Ohnmacht« nach längerem Stehen).

    Es gibt keine einheitliche Definition dieser Notfälle, entsprechend gibt es auch keine verlässlichen Zahlen. Das Handeln orientiert sich an der Dringlichkeit im Einzelfall.

    Im geringsten Zweifelsfall ist die Verantwortung mit dem Spezialisten zu teilen.

    Der Allgemeinarzt muss trotz des Bewusstseins um die Masse der Banalität dennoch stets auf den seltenen AGV scharf eingestellt bleiben (Braun 1994).

    Jeder allgemeinmedizinische Notfall muss als »Notfall« behandelt werden; was zählt, ist das subjektive Erleben des Patienten, der sich in Not erlebt (Abholz u. Pillau 2014).

    1.4 Klassifizierung der diagnostischen Situation

    Mittels der Klassifizierung wird in der Allgemeinmedizin eine diagnostische Situation in ihrer Unklarheit bzw. Klarheit gegenüber den wissenschaftlichen Krankheitsbegriffen realistisch bezeichnet.

    Am Ende des diagnostischen Prozesses in der Allgemeinpraxis wird das gefundene BE einem der 4 Bereiche A–D zugeordnet (»klassifiziert«) (Abb. 1.5); dabei muss sich der Arzt über folgende Fragen im Klaren sein:

    Wurde der Fall unter einem einzigen Symptom (A) klassifiziert (z. B. Extrasystolie)?

    Standen mehrere Merkmale (Symptomgruppen) (B) gleichrangig im Vordergrund (z. B. uncharakteristisches Fieber mit Halsschmerzen und Husten)?

    Lag das Bild einer Krankheit (C) oder einer Krankheitsgruppe vor (z. B. Bild einer Pertussis)?

    War eine exakte Krankheitserkennung = Diagnose (D) möglich (z. B. Verbrennung II. Grades)?

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    Abb. 1.5

    Die 4 Bereiche der Klassifizierung von allgemein-medizinischen Beratungsergebnissen (A, B, C bzw. D) und ihr Anteil am langjährigen Durchschnitt des Krankengutes in der Allgemeinpraxis

    Der deutsche Begriff Symptom (FAKT) wird im Angloamerikanischen unterschieden in »symptom« (Klage, subjektive Krankheitszeichen, z. B. Schmerz) und »sign« (Befund, objektives Zeichen, z. B. Bauchdeckenspannung). Bei rd. einem Viertel aller BEs an der ersten ärztlichen Linie steht ein einziges Krankheitszeichen (Leitsymptom) im Vordergrund (Braun 1986) (FAKT).

    Die Diagnose ist die überzeugende Zuordnung eines Falles zu einem definierten Krankheitsbegriff (FAKT).

    Bereits 1961 konnte die berufstheoretische Forschung den Nachweis erbringen (Braun 1961), dass sich in einer Allgemeinpraxis – auch unter der üblichen Zusammenarbeit mit Spezialisten – nur in 1 von 10 Fällen, also in rund 10 %, eine exakte Diagnose im Sinne einer überzeugenden Zuordnung zu einem wissenschaftlichen Krankheitsbegriff stellen lässt.

    Die Klassifizierungsbereiche einer exakten Diagnose (D) und einer diagnosenahen Zuordnung (C) machen etwa die Hälfte aller Fälle aus.

    Dem Klassifizierungsbereich Diagnose (D) kommt in der Allgemeinpraxis nicht die Bedeutung einer überragenden Krankheitserkennung zu. Für den Allgemeinarzt sind nämlich alle Klassifizierungsbereiche (A, B, C, D) gleichwertig.

    Einen einheitlichen Krankheitsbegriff kann es bei der Verschiedenheit der medizinischen Denkstile und der großen Unterschiedlichkeit über »Krankheit« in verschiedenen Gruppen unserer Bevölkerung nicht geben. Das ist ebensowenig erstaunlich, wie eine einfache Definition dessen, was wir als »Gesundheit« (FAKT) bezeichnen, nicht möglich ist (Anschütz 1987).

    Die Begriffe Krankheit und Erkrankung werden im deutschen Sprachgebrauch häufig ungenau verwendet. Berufstheoretisch ist wie folgt zu unterscheiden:

    Erkrankung: Gesundheitsstörung (z. B. uncharakteristisches Fieber, Durchfall), für die es keine überzeugende oder naheliegende Beziehung zu einer definierten Krankheit gibt. Die Klassifizierung erfolgt als Symptom A bzw. Symptomgruppe B.

    Krankheit: Definierte Einheit (Entität) von typischen (»klassischen«) Zeichen mit Beschreibung (»Etikettierung«) in den klinisch-spezialistischen Lehrbüchern (z. B. Bild eines Erysipels, Psoriasis, Morbus Paget). Die Klassifizierung erfolgt als Bild einer Krankheit (C) oder als Diagnose (D).

    Abzugrenzen vom definierten Symptomenkomplex der Krankheiten sind die zahlreichen, meist kurzdauernden oder sogar flüchtigen Befindlichkeitsstörungen (FAKT). Sie sind nicht Gegenstand fällestatistischer Untersuchungen.

    Die Denkmodelle der Ärzte müssen den ganzen Bereich gesund bis krank erfassen (FALL): Sie müssen jemanden auch für gesund, bedingt gesund, partiell krank erklären und unbehandelt lassen können (Hartmann 1984).

    In manchen Arzt-Patientengespräch empfiehlt sich die eingestreute Frage: »Wie fühlen Sie sich: eher gesund oder eher krank?«

    Bei den sog. klassischen Krankheitstypen handelt es sich um besonders gut verstehbare, erklärbare und diagnostizierbare Gesundheitsstörungen.

    Das vermeintlich Typische und Charakteristische verbirgt sich oft genug als untypisch und uncharakteristisch (FAKT): »Die Krankheiten lesen keine Lehrbücher« (Braun 1986).

    Obwohl der Allgemeinarzt in Deutschland zur Verschlüsselung seiner BEs nach der ICD-Klassifikation gesetzlich verpflichtet ist, sollte er sich bei jedem diagnostischen und therapeutischen Prozess im Klaren sein, wie er das gefundene BE einem der 4 Bereiche (A, B, C, D) zuordnen kann. Dies hat nicht nur Konsequenzen für das eigene weitere Vorgehen im jeweiligen Beratungsfall (z. B. Überweisung, Einweisung, erneute Einbestellung, abwartendes Offenlassen), sondern es erleichtert auch die zahlreichen Auskünfte, zu denen der Arzt heute in zunehmendem Maße verpflichtet ist. Dies wird in der folgenden Kasuistik illustriert.

    Symptom (A)

    Ein 7-jähriger Junge kommt mit seiner Mutter in die Abendsprechstunde und klagt über »Halsschmerzen«. Die Mutter ergänzt: »Das hat er, seit er mittags von der Schule heimgekommen ist. Aber Fieber hat er keines.« Der Arzt schaut in den Hals und findet außer einem nur wenig geröteten Rachen keine weiteren Auffälligkeiten. Regionale Lymphknoten lassen sich nicht tasten. Die Auskultation der Thoraxorgane ergibt ebenfalls nichts Auffälliges. Kein Hautausschlag.

    In diesem Fall ist das Leitsymptom »Halsschmerz« sowohl die BU wie auch das BE am Ende der Diagnostik (Abb. 1.4). Der Arzt klassifiziert das Symptom

    »Halsschmerz(A)«,

    da außer diesem keine anderen Symptome angegeben bzw. festgestellt wurden.

    Symptomgruppe (B)

    Würde jedoch der Arzt im vorgenannten Fall belegte Tonsillen und vermehrte Rachenrötung finden und hätte die Mutter über »Temperaturerhöhung von 38,5°« (im After gemessen) berichtet und hätte sie ferner auf »auffallende Müdigkeit und Kopfschmerzen« hingewiesen, so würde der Arzt die Symptomgruppe

    »uncharakteristisches Fieber (B)«

    klassifizieren. Es kann hier sowohl ein viraler als auch ein bakterieller Infekt vorliegen.

    Bild einer Krankheit (C)

    Wird in unserem Fall bei demselben kleinen Patienten vom Arzt zusätzlich noch ein skarlatiniformes Exanthem, z. B. an den Achselfalten und in den Leistenbeugen, entdeckt und berichtet die Mutter darüber hinaus von »Übelkeit« bei ihrem Kind und von ihrer Beobachtung, dass »einige Kinder in der Klasse Scharlach« hätten, so wird der Arzt jetzt klassifizieren:

    »Bild von Scharlach(C)«.

    Bewusst hat der Arzt in diesem Fall auf eine weiterführende und letzten Endes beweisende Diagnostik (z. B. Erregernachweis) verzichtet. Die Registrierung unter »C« drückt also gleichermaßen die Nähe wie die Entfernung des Falles von einer exakten Diagnose aus.

    Der Arzt leitet noch am gleichen Tag die Behandlung mit einem Antibiotikum ein. Hierbei bleibt es unklar, welcher Erreger das Krankheitsbild verursacht hat und ob überhaupt ein Antibiotikum notwendig gewesen wäre.

    Damit ist die antibiotische Therapie in gewisser Weise spekulativ. Es ist beispielsweise möglich, dass ein Antibiotikum eingesetzt wurde, das entweder auf resistente Keime stößt oder nicht indiziert (Virusinfektion) war. Eine Kontrolle des Patienten in 1, 2 oder spätestens 3 Tagen – in geteilter Verantwortung mit dem Patienten, in diesem Fall mit der Mutter – ist unerlässlich. Der Arzt hat also aus seiner Erfahrung heraus gezielt, in strengem wissenschaftlichen Sinn jedoch ungezielt behandelt, d. h. eine »Therapie ohne Diagnose« vorgenommen. Eine solche Behandlungsweise ist jedoch charakteristisch für die meisten BEs in der Allgemeinpraxis. Die vorhandene Unsicherheit muss also durch vermehrte Kontrollen minimiert werden.

    Diagnose (D)

    Entschließt sich nun der Arzt in unserem Fall zu einem Rachen-/Tonsillenabstrich und zeigen sich in der Kultur massenhaft β-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A, so lässt sich jetzt das gesamte Krankheitsbild exakt als

    »Scharlach (D)«

    klassifizieren. Dieselbe Klassifizierung gilt selbstverständlich bei einem positiven Befund mithilfe eines Schnelltests (wohlweislich unter Berücksichtigung von dessen Sensitivität und Spezifität).

    In der Allgemeinmedizin geht es nicht nur um Krankheiten, sondern auch um das Kranksein oder das Sich-Krank-Fühlen.

    1.5 Fachsprache, Kasugraphie

    An der unterschiedlichen Handhabung des Grippe- und des Erkältungsbegriffes (Abschn. 2.​1.​1) im internationalen Schrifttum kommt zum Ausdruck, wie individuell die Allgemeinärzte das in solchen Fällen vorhandene nomenklatorische Vakuum durch persönlich entwickelte Begriffe ausfüllen müssen.

    Das geschieht unbewusst und – in verwirrender Weise – unter sehr unterschiedlicher Benutzung vorgegebener klinischer Krankheitsbezeichnungen. Diese enthalten folglich von Allgemeinarzt zu Allgemeinarzt wechselnde und von den klinischen Begriffen mehr oder weniger weit entfernte Bedeutungen.

    So wie die Regelmäßigkeit der Fälleverteilung eine wesentliche Basis für den Praxisalltag eines jeden Faches darstellt, so gehört auch die entsprechende Fachsprache dazu (Braun 1958). Eine spezifisch allgemeinmedizinische Sprache, die auch wissenschaftlichen Kriterien genügen kann, fehlt jedoch noch weitgehend. Gerade bei den häufigsten BEs bestehen erhebliche Unterschiede in den individuellen Benennungen (Braun 1957).

    An den klassischen klinischen Krankheiten, wie sie in den Lehrbüchern beschrieben worden sind, orientieren sich die Benennungen des Klinikers,

    die Nosographie.

    Dagegen haben die Benennungen des Praktikers für die rd. 300 regelmäßig häufigen Fälle, wie sie sich im Alltag präsentieren,

    die Kasugraphie

    zum Gegenstand (FAKT).

    Die Kasugraphie hat den Zweck, aus Gründen der Vergleichbarkeit gleichartige Fälle in systematischer Weise nach den Angaben des Patienten und aufgrund des Untersuchungsbefundes zusammenzufassen und einem entsprechenden Klassifizierungsbereich (A, B, C, D) zuzuordnen. Dabei werden auch konkurrierende BEs und die wichtigsten AGVs berücksichtigt (Tab. 1.5) (FAKT).

    Tab. 1.5

    Beispiel für das Beratungsergebnis (BE) »Mattigkeit/Müdigkeit allgemein« im Rahmen der Kasugraphie (Fink et al. 2010)

    1.6 Abwendbar gefährlicher Verlauf (AGV)

    An der ersten ärztlichen Linie geht es letztlich um die meist gefährlichen Ausnahmen und nicht um die so häufig vermuteten Banalitäten (»Niedrigprävalenzbereich« FAKT).

    Ob es sich tatsächlich um eine Banalität oder Bagatelle gehandelt hatte, weiß man erst im Nachhinein (Braun 1994).

    Als sog. abwendbar gefährlicher Verlauf (AGV) (engl. potentially dangerous condition) (FAKT) wird in der Allgemeinmedizin ein gesundheitsgefährdender, möglicherweise lebensbedrohlicher Verlauf einer Erkrankung bezeichnet, der bei sachgemäßem Eingreifen des Arztes abwendbar ist (W. Fink et al. 2010).

    Das Wort abwendbar betont eine bestimmte Facette der Früherfassung, das Wort Verlauf zielt in die Zukunft; es lenkt die Aufmerksamkeit auf bedrohliche Gesundheitsstörungen, die ganz so beginnen können wie eine Bagatelle.

    Diese Aufgabe macht einen entscheidenden Teil der Existenzberechtigung der Allgemeinärzte aus (Braun 1988).

    Abwendbar heißt also auch behandelbar, im Gegensatz zu nicht abwendbar, also nicht mehr behandelbar oder unheilbar. Vor diesem Hintergrund ist auch der Rechtsbegriff der Fahrlässigkeit (FAKT, FALL) zu sehen.

    Karzinome stellen in klassischer Weise die AGVs schlechthin dar. Trotz ihrer Seltenheit überschreiten die Malignome jedoch als Gruppe zusammengenommen die 1:3.000 Grenze sehr deutlich. Im langjährigen Durchschnitt gibt es etwa 10 neu entdeckte Karzinome auf 3.000 BEs.

    Karzinome sind, auch als entfernte Möglichkeit, so lange zu berücksichtigen, bis eindeutig feststeht, dass im gegebenen Fall keine bösartige Erkrankung dahinter steckt.

    Die Kasugraphie erfasst die häufigsten bzw. wichtigsten AGVs der rund 300 regelmäßigen Beratungsergebnisse (FAKT). Bei 144 BEs gibt es aufgrund von Literaturrecherchen insges. 295 mögliche oder zu bedenkende AGVs (Tab. 1.6) (FAKT). In der Fällestatistik spielt die regelmäßige Häufigkeit von »abwendbar gefährlichen Verläufen« nur eine geringe Rolle.

    Tab. 1.6

    Die häufigsten von den ca. 145 zu bedenkenden bzw. auszuschließenden abwendbar gefährlichen Verläufen (AGV) innerhalb der 300 regelmäßig häufigen allgemeinärztlichen Beratungsergebnisse (BEs), verdichtet nach Krankheitsgruppen (Mader 2010) (FAKT).

    Tab. 1.7

    Zusammenstellung der 82 Diagnostischen Programme (»Checklisten«) nach den von ihnen berücksichtigten Themen und deren Häufigkeit (Braun u. Mader 2005).

    Der Arzt muss immer an AGVs denken (FAKT), ganz besonders an atypische Verläufe (FALL). Ein gutes Beispiel dafür ist das klassische Bild eines »akuten Magenkatarrhs«, hinter dessen ganz typischer Symptomatik sich z. B. eine völlig atypisch verlaufende Wurmfortsatzentzündung verbergen kann (FAKT). Die Einbeziehung von AGVs in den Berufsalltag prägt das Denken und Handeln des Allgemeinarztes.

    Besondere Aufmerksamkeit sollte der Arzt walten lassen, wenn ihm eher untypische oder eher uncharakteristische Symptome einzeln oder in Kombination begegnen: So sollte bei der Trias

    untypisches Alter,

    untypische Lokalisation,

    untypische Morphologie

    beispielsweise eine Borreliose oder eine Human-immunodeficiency-virus-(HIV-)Infektion bedacht werden.

    Unabwendbar gefährliche Verläufe sind jene bedrückenden Ereignisse, die trotz regulärem ärztlichen Handeln erst später entdeckt werden oder sich einstellen (z. B. Pankreaskopfkarzinom oder akuter Herzinfarkt trotz vorausgegangenem Gesundheits-Check-up oder Demenz bei laufenden hausärztlichen Kontakten) (FAKT, Fall).

    Die Problematik des AGV hat sich heute deutlich weg vom dramatisch-akuten Ereignis zu den oft nicht weniger eindrucksvollen, schleichenden und nicht minder gravierenden Spätschäden verlagert.

    Die Dringlichkeit der Intervention (FAKT) (Abb. 1.6) beim AGV hängt vom Einzelfall ab. So wird der Arzt beispielsweise bei einem »pigmentierten Nävus« länger abwartend offen bleiben als bei einem »plötzlichen Flankenschmerz links«.

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    Abb. 1.6

    Dringlichkeit der Intervention am Beispiel »pigmentierter Nävus« (B) und »plötzlicher Flankenschmerz« (A) im Zusammenhang von abwendbar gefährlichem Verlauf (AGV) und abwartendem Offenlassen (AO). (Mod. nach Mader 2005)

    Das Handeln des Allgemeinarztes im Rahmen seiner Entscheidungsfindung (Abschn. 1.3) läuft im Wesentlichen bewusst oder unbewusst vor dem Hintergrund des Zusammenhangs zwischen Dringlichkeit (abwendbar gefährlicher Verlauf) und Zuwarten (abwartendes Offenlassen) ab. Über den Zeitpunkt und die Zusammenhänge »Wann intervenieren?« und »Wie lange zuwarten?« wurde bisher noch nicht geforscht.

    Fahrlässigkeit im juristischen Sinn besteht, wenn »der Arzt im Notfalldienst bei unklarer Diagnose (nicht) stets die vital bedrohlichste Erkrankung annimmt« (FALL).

    Red flags sind alarmierende Alarmsymptome bei einer bestimmten BU (z. B. schlechter Allgemeinzustand oder untypische Schmerzausstrahlung). Der AGV hat dagegen eine oder mehrere zu bedenkende oder auszuschließende Entität(en) bei einem bestimmten BE im Fokus.

    1.7 Abwartendes Offenlassen (AO)

    Der Begriff »abwartendes Offenlassen (AO)« deklariert die diagnostische Situation am Beratungsende, wenn keine überzeugende Zuordnung des Falles zu einem wissenschaftlichen Krankheitsbegriff möglich war. Das diagnostische Problem ist mehr oder weniger offen, d. h. die überzeugende Zuordnung zu einem definierten Krankheitsbegriff war nicht möglich.

    Nicht die »Diagnose« wird abwartend offen gelassen, sondern der Fall. Die meisten Fälle (Bereiche A, B und C) in der Allgemeinpraxis werden demnach abwartend offen geführt.

    Die meisten Praxisfälle in der Allgemeinmedizin werden abwartend offen geführt. Der Arzt darf nicht durch eine unzulässige »Diagnose« die wahre diagnostische Lage verschleiern. Über den Zeitraum des AO (FAKT) wurde noch nicht geforscht.

    Ein wesentliches Kriterium des AO ist nicht das untätige Treibenlassen des Falles (FOTO), sondern das aufmerksame Beobachten (engl. watchful waiting) (FAKT) des weiteren Krankheitsverlaufs. Nichts abwendbar Gefährliches darf übersehen werden.

    Die bewusste Anwendung des Begriffes schützt den Arzt davor, in der diagnostischen Aufmerksamkeit nachzulassen. Selbstverständlich ist dazu auch die volle Mitarbeit des Patienten notwendig (FAKT). AO in geteilter Verantwortung erfordert auch die entsprechende Dokumentation (FAKT).

    Das abwartende Offenlassen ist also charakterisiert durch

    die tatsachengerechte (offene) Klassifizierung,

    das Unterlassenkönnen (keine verschleiernde Therapie),

    die fortlaufende Beobachtung eines Falles in frei schwebender Aufmerksamkeit und

    unter fortlaufendem Bedenken möglicher AGVs sowie

    in geteilter Verantwortung mit dem Patienten (Abschn. 15.​1.​4),

    der aufgeklärt wurde und willens und in der Lage ist, mitzuarbeiten.

    Die Begriffe abwartendes Offenlassen und abwendbar gefährlicher Verlauf kommen aus der Praxisforschung. Beide Bezeichnungen stammen von R. N. Braun bereits aus den 1950-er Jahren. Die sprachlichen Neuschöpfungen haben inzwischen breiten Eingang in die angewandte Medizin gefunden. Dies kann auch als Beleg dafür gesehen werden, wie sehr berufstheoretische Begriffe in der Allgemeinmedizin notwendig sind, wenn es darum geht, spezifische Sachverhalte adäquat zu bezeichnen.

    1.8 Unausgelesenes Krankengut

    Die Allgemeinmedizin hat den ganzen Menschen zum Ziel, und zwar in langzeitgerichteter, kontinuierlicher Betreuung, in Einzelfällen in lebenslanger Führung.

    Der Allgemeinarzt wird bekanntlich in der Praxis durch eine Mischung verschiedenster Probleme beansprucht, die er als »Allrounder« – im Gegensatz zu den Spezialisten (FAKT) – auch fraglos am besten bewältigen kann. Diese Mischung verkörpert – statistisch gesprochen – das »unausgelesene Krankengut« (auch unausgelesene Patientenklientel), d. h. Menschen aller Altersgruppen, beiderlei Geschlechts, mit Beratungsproblemen aller Art, zu jeder Zeit und in jedem Stadium (FALL).

    Natürlich umfasst das unausgelesene Krankengut (FAKT) nicht alle Gesundheitsstörungen, da es selbst stark selektiert ist: Die Menschen gehen bekanntlich wegen leichter Halsschmerzen, geringer Unpässlichkeit oder etwas Kopfweh nicht gleich zum Arzt.

    Die meisten dieser überwiegend banalen Erkrankungen laufen im Laienbereich ab, nur etwa ein Viertel sämtlicher Gesundheitsstörungen bekommen die Ärzte zu Gesicht, ein kleiner Teil wird ins Krankenhaus oder zum Spezialisten überwiesen und nur ein winziger Teil kommt in die Universitätsklinik (Abb. 1.7) – und an diesem hoch selektierten Krankengut werden die Studenten ausgebildet.

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    Abb. 1.7

    Geschätzte Krankheitshäufigkeit/Monat in der Bevölkerung und die Rolle von Ärzten, Krankenhäusern sowie Universitätskliniken in der medizinischen Versorgung von Erwachsenen ≥ 16 Jahre. (Nach White et al. 1961; überprüft Green et al. 2001 und 2016)

    Diese Beschreibung von Horder und Horder 1954 wurde 1961 von White et al. für die USA und GB untersucht und 40 Jahre später mit bemerkenswert ähnlichen Ergebnissen bestätigt (Green et al. 2001).

    1.9 Zeitfaktor

    Die Allgemeinärzte sind gezwungen, ihre Beratungen ganz überwiegend in kurzer Zeit durchzuführen. Selbst unter idealen Bedingungen stehen für die meisten allgemeinärztlichen Patienten zur »nackten« Diagnostik und Therapie durchschnittlich insgesamt höchstens 9 min/Konsultation zur Verfügung (Müller 1989) (FAKT), in Einzelfällen sind es jedoch durchaus längere Gesprächszeiten.

    Die Allgemeinpraxis wird also vom Zeitfaktor sehr wesentlich geprägt. Man darf den Zeitdruck (FALL) aber nicht als Plage ansehen, sondern muss ihn als Herausforderung betrachten, will man die angewandte Medizin begreifen (Braun 1970).

    Im Übrigen zeigte die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten, dass trotz damals zunehmender Ärztezahlen die für den einzelnen Patienten in der Allgemeinpraxis verfügbare Zeit nicht zugenommen hatte. Um nur einen Grund dafür zu nennen: Die Versicherten werden immer mehr dazu motiviert, schon bei minimalen Gesundheitsstörungen, ja auch dann, wenn sie sich gesund fühlen, ihren Hausarzt zu beanspruchen (FAKT, FOTO). Häufig wird jedoch übersehen, dass diese kurzen Beratungen oftmals eingebettet sind in eine jahrelange stabile und vertrauensvolle Arzt-Patienten-Bindung (Langzeitbetreuung) (FAKT).

    1.10 Handeln und Behandeln

    Eine der wesentlichen Voraussetzungen ärztlichen Handelns ist es, das Handlungsziel zu erkennen (Anschütz 1987); dies betrifft Handlungen wie

    retten (z. B. Notfälle wie Herzstillstand, Unfallfolgen),

    heilen (z. B. gesundheitliche Beeinträchtigungen),

    erhalten (z. B. Funktionsfähigkeit bei Einschränkungen),

    lindern (z. B. Tumorschmerzen).

    Im ganzheitlichen allgemeinmedizinischen Therapiekonzept an der ersten ärztlichen Linie (FAKT) geht es im Wesentlichen um

    das professionelle Versorgen (z. B. akut Erkrankte und chronisch Kranke),

    das teamorientierte Betreuen (z. B. geriatrische Patienten, Pflegebedürftige),

    das empathische Begleiten (z. B. Familienangehörige, Sterbende),

    den angemessenen Umgang (z. B. mit Ängsten, Befürchtungen, Befindlichkeitsstörungen der Ratsuchenden).

    Wenn der Schriftsteller und Arzt Peter Bamm 1956 schwärmt: »Die Diagnose ist der feinste geistige Genuss, den die Medizin zu bieten hat«, so befindet er sich in der traditionellen Denkweise, welche die letzten 150 Jahre den Arztberuf wesentlich geprägt hat: »An der Basis jeden ärztlichen Handelns steht die Diagnose, welche in jedem Krankheitsfall nicht nur als Richtlinie für die Therapie, sondern auch für die Beurteilung der Prognose unerlässlich ist«, schreibt der Zürcher Internist Robert Hegglin 1963 in seiner »Differenzialdiagnose Innerer Krankheiten« ganz noch unter dem Diktum des Klinikers Franz Volhard (1872–1950): »Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gesetzt.« Selbst der Medizintheoretiker Richard Koch (1882–1949) hatte die Frage, warum er sich in seiner wegweisenden Monographie »Die ärztliche Diagnose« (1917) nicht mit der Therapie befasst hätte, dahingehend beantwortet : Es sei unnötig, die Therapie ergebe sich aus der Diagnostik.

    Für die rund 90 %

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