Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Nervenkompressionssyndrome
Nervenkompressionssyndrome
Nervenkompressionssyndrome
eBook601 Seiten5 Stunden

Nervenkompressionssyndrome

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nervenkompressionssyndrome  - umfassend und praxisorientiert

Die Diagnostik und Behandlung von Nervenkompressionssyndromen ist eine interdisziplinäre Aufgabe, an der Neurologen, Neuroradiologen und Operateure unterschiedlicher Fachrichtungen (Handchirurgen, Neurochirurgen, Orthopäden und Unfallchirurgen, Plastische Chirurgen) mitwirken. Häufige und seltene Formen sind gleichermaßen in diesem Buch beschrieben:

- klinischer Befund, Diagnosestellung, konservative und operative Behandlung,

- ausführliche Darstellung der elektrophysiologischen und bildgebenden diagnostischen sowie der therapeutischen Verfahren,

- Abgrenzung von Sonderformen und fokalen Neuropathien anderer Ursachen.

Operationsfotos und detaillierte Zeichnungen illustrieren die operativen Techniken. In der Neuauflage sind

-        die aktuellen S3- Leitlinien zum Karpaltunnelsyndrom und Kubitaltunnelsyndrom eingearbeitet.

-        Abschnitte zu den Themen Nerventorsionen und Mehrfachdekompressionen bei der diabetischen Neuropathie ergänzt.

Zusätzlich werden instruktive Videos zu den Operationsverfahren auf www.springermedizin.de/vzb-nervenkompressionssyndrome angeboten.

Das Buch, das zum Thema Nervenkompressionssyndrome keine Frage offen lässt!

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum4. Nov. 2014
ISBN9783642552120
Nervenkompressionssyndrome

Ähnlich wie Nervenkompressionssyndrome

Ähnliche E-Books

Medizin für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Nervenkompressionssyndrome

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Nervenkompressionssyndrome - Hans Assmus

    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

    Hans Assmus und Gregor Antoniadis (Hrsg.)Nervenkompressionssyndrome10.1007/978-3-642-55212-0_1

    1. Zur Ätiopathogenese, Definition und Behandlung der Nervenkompressionssyndrome – eine Einleitung

    Hans Assmus¹ 

    (1)

    Abtsweg 13, 69198 Schriesheim, Deutschland

    Literatur

    Typische Nervenkompressionssyndrome kann man als chronische Druckläsionen peripherer Nerven, meist in fibroossären Kanälen, definieren. Es besteht ein Missverhältnis zwischen dem Volumen des Nervs und der anatomischen Struktur, die der Nerv passiert. Dies kann innerhalb fibröser oder osteofibröser Kanäle, beim Durchtritt durch einen Muskel, unter einem einengenden Band oder Faszienrand, sehr selten auch unter einem Blutgefäß der Fall sein (Lundborg 2004). Von diesen Engpasssyndromen sind akute Schäden der Nerven durch äußere Druck- oder Gewalteinwirkung, bei oberflächlichem Nervenverlauf in der Nähe von knöchernen Vorsprüngen oder Dehnungsschäden in der Nähe von Gelenken abzugrenzen. Mischformen kommen vor.

    Eine Nervenkompression kann als akute Schädigung oder chronische Läsion vorkommen. Der Schweregrad der Läsion hängt ab von Ausmaß und Dauer der Kompression. Die funktionelle Störung, die sich in der subjektiven Beeinträchtigung des Patienten zeigt, kann von leichten Parästhesien oder einer geringen motorischen Schwäche bis hin zu einem kompletten sensiblen Ausfall und einer vollständigen motorischen Lähmung variieren. Die akute Schädigung des Nervs, die mit einem Ödem und erhöhtem endoneuralen Flüssigkeitsdruck einhergeht, kann die Basis für strukturelle Veränderungen mit einer Fibrose bilden und somit in eine chronische Läsion übergehen (Lundborg 2004).

    Bei einem lokalen Druckanstieg tritt rasch eine Ischämie ein. So führt ein Druckanstieg auf 20–30 Torr zu einem verzögerten venösen Fluss im Epineurium, ein Druck von 60–80 Torr zu einer kompletten intraneuralen Stase. Außerdem wird der axonale Transport in Abhängigkeit von der Dauer der Druckerhöhung gestört: 20 Torr während 2 Stunden bleiben ohne Effekt, 30 Torr für 2 Stunden oder 20 Torr für 8 Stunden blockieren den Transport an der Kompressionsstelle. Welchen Drücken die Nerven an Engstellen ausgesetzt sind, sollen die folgenden Beispiele zeigen: Beim KTS beträgt der Ruhedruck 32 Torr und kann bei Handgelenksbeugung auf 90–110 Torr ansteigen. Beim Kubitaltunnelsyndrom kommt es zu einem Anstieg bei aktiver Beugung des Ellenbogengelenks auf 200 Torr, beim Supinatortunnelsyndrom bei passiver Pronation auf 46 Torr, bei aktiver Anspannung sogar auf 190 Torr. Eine Anhebung des interstitiellen Drucks des Nervs auf 45 Torr unterhalb des arteriellen Mitteldrucks führt innerhalb von 30 min zum Block der sensiblen und motorischen Nervenleitung. Unphysiologisch hohe Drucke von mehr als 200 Torr führen zu einem endoneuralen Ödem, von 1000 Torr zu strukturellen Veränderungen des Nervs mit Invagination der Ranvier-Knoten, Demyelinisierung und Axonschäden.

    Bei den Kompressionsneuropathien können die einzelnen Faktoren meist nicht isoliert betrachtet werden. Hier spielen sowohl akute biomechanische als auch chronische de- und regenerative Vorgänge eine wechselseitige Rolle und laufen meist gleichzeitig ab. Vereinfacht lässt sich sagen, dass die chronische Kompression oder Irritation eines Nervs zu einer Entzündungsreaktion mit venöser Stase, erhöhter Gefäßdurchlässigkeit, Ödem und Narbenbildung führt (Lundborg 2004). In-vitro-Versuche zeigten, dass die chronische Nervenkompression eine Schwannzell-vermittelte Erkrankung ist. Die Schwannzellen reagieren direkt auf mechanische Einwirkungen mit Herunterregulierung von Myelin-Proteinen und Proliferation. Dies hat eine lokale De- und Remyelinisierung zur Folge. Zusätzlich führt das myelinassoziierte Glykoprotein zu axonalen Sprossungsvorgängen. Dies geschieht in Abwesenheit von morphologischen und elektrophysiologischen Veränderungen der Axone (Pham und Gupta 2009). Eine vereinfachte Darstellung dieser Vorgänge gibt Abb. 1.1 wieder.

    A158026_3_De_1_Fig1_HTML.gif

    Abb. 1.1

    Patho-, histo- und physiologische Mechanismen der chronischen Nervenkompression. (Die Abb. wurde freundlicherweise von Frau Prof. K. Haastert-Talini, Neuroanatomisches Institut der MTH Hannover zur Verfügung gestellt.)

    Das klassische und weitaus häufigste Engpasssyndrom ist das Karpaltunnelsyndrom. Es ist ein typisches Tunnelsyndrom deswegen, weil es sich ausschließlich um eine Kompression in einem fibroossären Kanal handelt und externe Druckläsionen praktisch keine Rolle spielen. Ähnliches gilt für das seltene Tarsaltunnelsyndrom – mit der weiter unten genannten Einschränkung – und die Meralgia paraesthetica. Bei dem Supinatortunnelsyndrom (N. interosseus-posterior-Syndrom) findet man einen ähnlichen Pathomechanismus, nämlich eine Kompression unter einem sehnigen Bogen („arcus tendineus").

    Bei anderen Kompressionssyndromen spielt neben dem eigentlichen Tunnel auch die exponierte Lage des Nervs, die zu externen Druckschäden prädisponiert, eine pathogenetische Rolle. Dies gilt für die Kompressionssyndrome des N. ulnaris am Ellenbogen und am Handgelenk, nämlich das Kubitaltunnelsyndrom und das Loge-de-Guyon-Syndrom bzw. die isolierte Kompression des Ramus profundus N. ulnaris. Beschäftigungsbedingte externe Druckschäden sind im Bereich des Ellenbogengelenks z. B. durch langdauerndes Telefonieren und in der Loge de Guyon nach längeren Radtouren („Radfahrerlähmung") nicht ungewöhnlich. Typisches Beispiel einer Kompression, bei der zusätzliche dynamische Vorgänge eine Rolle spielen, ist das Kubitaltunnelsyndrom (KuTS). Hier führt die Beugung des Ellenbogengelenks durch Verengung des Nervenkanals zu einer Verstärkung des Kompressionseffekts, wobei zusätzliche Traktionen diskutiert werden. Ersteres gilt im eingeschränkten Maße auch für das Karpaltunnelsyndrom.

    Bei der Cheiralgia paraesthetica muss man eine engpassbedingte Kompression von der viel häufigeren Druckläsion des N. radialis superficialis abgrenzen, der exponiert über dem distalen Radius verläuft und hier anfällig gegen Druck durch Armbänder usw. ist. Dies gilt auch für die Peronaeusläsionen im Bereich des Fibulaköpfchens, wo Druckläsionen möglicherweise häufiger sind als eigentliche Kompressionssyndrome. Wie beim KuTS bzw. der Ulnarisdruckläsion an der Hand sind auch hier eindeutige Abgrenzungen der Ursachen nicht möglich, sodass die Hypothese der „acute on chronic compression" eine nahe liegende Erklärung liefert.

    Ein typisches Kompressionssyndrom ist auch die Morton’sche Metatarsalgie. Der therapeutische Ansatz ist hier jedoch völlig verschieden von dem anderer Kompressionssyndrome. Es wird nämlich keine Dekompression (von wenigen Befürwortern dieser Methode abgesehen), sondern eine Exstirpation des pseudoneuromartig veränderten Nervs vorgenommen. In gewisser Weise gilt dies auch für die Meralgia paraesthetica, bei der das therapeutische Vorgehen (Dekompression versus Resektion) umstritten ist. Das seltene Piriformis-Syndrom ist das Beispiel einer Kompression bei einem Durchtritt des Nervs durch einen Muskel.

    Zu den umstrittenen Kompressionssyndromen werden neben dem idiopathischen Tarsaltunnelsyndrom das Pronator-Syndrom, das Radialistunnelsyndrom, das Thoracic-outlet- und das Piriformis-Syndrom gezählt (Campbell und Landau 2008; Huang und Zager 2004; Presciutti und Rodner 2011; Rodner et al. 2013). Sehr umstritten ist das sogenannte „algetische Supinatortunnelsyndrom als Ursache eines therapieresistenten „Tennisellenbogens, bei dem eine Kompression des N. radialis bzw. des N. interosseus posterior unterstellt wurde. Dieses Konzept kann keiner ernsthaften Nachprüfung standhalten. Der Begriff sollte deswegen nicht verwendet werden und erst recht kein Eingriff am N. interosseus posterior erfolgen.

    Der retromalleoläre Tarsaltunnel ist relativ weit. Auch weil hier größere venöse Geflechte vorkommen, sind idiopathische Kompressionen nur schwer vorstellbar. Zu ausgeprägten Kompressionen kann es jedoch bei Auftreten von Ganglien oder anderen Raumforderungen kommen. Möglich sind auch isolierte Kompressionen der distalen Endäste (Nn. plantaris medialis et lateralis) und des Ramus calcaneus. Umstritten sind multiple Kompressionen im Rahmen der diabetischen Polyneuropathie.

    Raumfordernde Prozesse (Lipome, Ganglien u. a.) in der Nähe oder unmittelbar an oder in einem Nerven führen in der Regel nicht zu einem Kompressionssyndrom des Nervs. Der Nerv kann zwar von einer benachbarten Raumforderung verdrängt werden und einen bogigen Verlauf um den Tumor nehmen, oder selbst tumorförmig verdickt sein, ohne dass es hierbei jedoch zu einer Funktionsstörung oder Reizsymptomatik des Nervs kommt. Nur wenn der Nerv fixiert ist und nicht ausweichen kann, weil er z. B. in einem fibroossären Kanal oder innerhalb einer straffen Faszienloge verläuft, kann es zu einer Kompressionsschädigung mit entsprechender klinischer Symptomatik kommen.

    Typisches klinisches Symptom einer Nervenkompression sind Parästhesien, die meist auf das Innervationsgebiet des entsprechenden Nervs beschränkt sind, jedoch – wie häufig beim Karpaltunnelsyndrom – auch darüber hinausgehen können. Bei Kompression eines rein motorischen Nervs fehlen sie natürlich.

    Im Allgemeinen ist die Annahme eines Nervenkompressionssyndroms nur dann gerechtfertigt, wenn eindeutige klinische oder elektrophysiologische Veränderungen des entsprechenden Nervs vorliegen. Morton’sche Metatarsalgie und Meralgia paraesthetica sind insofern auszunehmen, als eine neurophysiologische Untersuchung der beteiligten Nerven schwierig und wenig verlässlich ist. Beide werden vorwiegend klinisch diagnostiziert, wobei die Bildgebung, wie auch bei anderen Kompressionssyndromen, neue Möglichkeiten eröffnet. Dies gilt auch für das nicht unumstrittene Krankheitsbild des TOS, bei dem alle anderweitigen Ursachen ausgeschlossen werden müssen.

    Da die Tendovaginitis stenosans (TVS) als eine häufige Begleiterkrankung des Karpaltunnelsyndroms vorkommt, erscheint eine ausführlichere Darstellung des Krankheitsbilds in diesem Buch gerechtfertigt. Der KTS-Operateur wird nicht selten mit dem Problem des „Schnappfinger" und seiner Vorstadien konfrontiert und sollte mit der operativen Behandlung vertraut sein, die in der Regel als kombinierter Eingriff durchgeführt wird. Andererseits kann eine TVS auch Hinweise auf ein gleichzeitig vorliegendes KTS geben.

    Unter „ atypischen" Kompressionssyndromen verstehen wir Krankheitsbilder, bei denen ähnliche pathogenetische Muster ablaufen, die jedoch meist symptomatisch, d. h. bei anderen Störungen auftreten und keine klassischen Syndrome innerhalb vorformierter anatomischer Engpässe sind. Beispiele hierfür sind langstreckige Kompressions- und ischämische Schäden im Rahmen von Kompartmentsyndromen der Tibialisloge und der Unterarmlogen.

    Fokale Nervenerkrankungen im Rahmen immunologischer Erkrankungen können ein Kompressionssyndrom vortäuschen und sind differenzialdiagnostisch oft schwierig abzugrenzen. Beschäftigungsbedingte fokale Neuropathien insbesondere bei Musikern und Sportlern erfordern eine besondere diagnostische Sorgfalt und können dem häufigen KTS zuzuordnen sein, oder ein sehr spezifisches Schädigungsmuster aufweisen, das nur selten operationsbedürftig ist. Hier ist die Erkennung und Verminderung der Exposition eine für Patient und Therapeut herausfordernde Aufgabe. Eine Zusammenfassung der pathogenetisch unterschiedlichen Krankheitsbilder findet sich in Tab. 1.1.

    Tab. 1.1

    Synopsis der Kompressionssyndrome und fokaler Nervenläsionen

    Noch sind klinischer und elektrophysiologischer Befund Goldstandard für die Diagnose. Große Fortschritte in der Bildgebung, insbesondere bei der relativ einfach durchzuführenden hochauflösenden und den Patienten nicht belastenden Sonografie machen der Neurografie bereits den Rang streitig. Dies gilt zumindest für bestimmte Krankheitsbilder, die sich neurografisch schlecht untersuchen lassen – meist aus anatomischen Gründen. Neurosonografie und das Neuro-MRT erlauben bereits bei einigen Kompressionssyndromen wertvolle zusätzliche Informationen oder den direkten Nachweis der komprimierenden Ursache oder morphologischer Veränderungen des Nervs wie z. B. der bisher vorwiegend intraoperativ diagnostizierten Faszikeltorsion.

    Neurophysiologische Grundkenntnisse sind für eine erfolgreiche Nervchirurgie, wenn sie über das rein Manuelle hinausgeht, unentbehrlich. Während eine Sehne nur statischen und mechanischen Anforderungen genügen muss, sind die Verhältnisse beim Nerven wesentlich komplizierter. Kenntnisse der Funktion des peripheren Nervs und der Degenerations- und Regenerationsprozesse sind für die Indikationsstellung zur Operation unerlässlich; eine Funktionsdiagnostik ist ohne Elektrophysiologie undenkbar. Dies bedeutet nicht, dass der Operateur zwangsläufig die neurografische Untersuchung selbst durchführen muss. Ist er hierzu in der Lage, hat er den unschätzbaren Vorteil, praktisch im Rahmen der klinischen Untersuchung einen orientierenden elektrophysiologischen Status zu erheben bzw. einen zweifelhaften oder unstimmigen Befund überprüfen zu können. Man erlebt hierbei nicht selten erstaunliche Überraschungen, die es geraten sein lassen, eine Operationsindikation nochmals zu überdenken.

    Da die konservative Behandlung einer Nervenkompression mit Ausnahme der Fälle, bei denen die Exposition beseitigt werden kann und eine Spontanheilung zu erwarten ist, nur selten zu einer dauerhaften Heilung führt, ist die operative Behandlung der meisten Nervenkompressionssyndrome, vorneweg des KTS, eine dankbare Aufgabe, die ein gutes Ergebnis garantiert. Dies gilt aber keineswegs für alle Eingriffe an peripheren Nerven. Das geläufige Statement „We have always good results" hinterlässt zu Recht bei kritischen Lesern einen Beigeschmack. Es soll daher noch etwas näher hierauf eingegangen werden. Zunächst ist die korrekte Indikationsstellung unabdingbare Voraussetzung für ein gutes operatives Ergebnis. Gerade bei Schmerzsyndromen, bei denen bildgebende Verfahren häufig noch nicht zur Verfügung stehen, und die in besonderem Grade persönlichkeitsbezogenen und subjektiven Faktoren unterliegen, kommt einer möglichst objektiven Funktionsdiagnostik eine entscheidende Bedeutung zu. Wenn Diagnose- und Indikationsstellung falsch waren, kann auch die beste operative Technik nicht erfolgreich sein – diese banale Erkenntnis gilt gerade und insbesondere für die Nervkompressionssyndrome. Die zweite Voraussetzung ist die korrekte Durchführung des Eingriffs. Dies ist auch bei einem technisch relativ einfachen Eingriff wie der Retinakulumspaltung keineswegs immer der Fall. Wir beobachten zunehmend eigentlich überflüssige Revisionseingriffe, weil unerfahrene Operateure den Eingriff riskanter machen, wenn sie zu kleine Inzisionen oder endoskopische Techniken anwenden, für die sie nicht die erforderliche Routine haben.

    Was ist aber ein gutes Ergebnis? Hier gibt es verschiedene Blickwinkel und keine allgemeingültigen Regeln (Haase 2007). Beim erfolgreich operierten KTS ist das Verschwinden der Schmerzen und Parästhesien innerhalb von 24 Stunden zunächst ein gutes Ergebnis. Vorsicht ist generell geboten, wenn die Patienten unmittelbar nach dem Eingriff angeben, schmerzfrei zu sein und keine Parästhesien oder Taubheitsgefühle mehr zu verspüren. Wo es sich vorwiegend um subjektive Symptome handelt, unterliegen diese psychologischen Mechanismen: Der Patient ist froh, den Eingriff, vor dem er große Angst hatte, gut überstanden zu haben und möchte auch den Operateur nicht enttäuschen. Eine (zunächst) fehlende Besserung ist jedoch keineswegs Ausdruck eines operativen Misserfolgs. Darauf muss der Patient natürlich hingewiesen werden. Im Gegensatz zur osteosynthetischen Versorgung einer Fraktur, die zu einer relativ raschen Belastbarkeit und somit Wiederkehr der Funktion führt, dauern neurogene Regenerationsprozesse wesentlich länger. Hier ist von Patient und Operateur häufig große Geduld gefordert. Eine neurografische Verlaufsbeobachtung erleichtert die Beurteilung des Regenerationsfortschritts. Auch die Sonografie kann hilfreich sein. Ein anfänglicher Behandlungserfolg kann sich (glücklicherweise nur selten) in das Gegenteil verkehren, wenn erneut Beschwerden auftreten, seltener als echtes Rezidiv bzw. Neuerkrankung, oder leider meistens infolge einer inkompletten oder fehlerhaften Dekompression.

    Wenn es sich auch bei der Behandlung der Kompressionssyndrome – dies gilt in erster Linie wiederum für das KTS – um vergleichsweise kleine Eingriffe handelt, muss man sich vor Augen halten, dass Operationen, besonders an Nerven, für den Patienten ein „einschneidendes" und wichtiges Ereignis bedeuten. Für den Neurochirurg (ähnlich natürlich auch für den Handchirurg) gilt daher, dass er mit diesen Eingriffen so behutsam umzugehen hat wie mit der Operation eines intrazerebralen Aneurysma (Haase 2007). Beachtet er dies, kann er mit Phalen (1966, 1970) feststellen, dass die Behandlung des Karpaltunnelsyndroms zu den dankbarsten chirurgischen Aufgaben überhaupt zählt – gleichermaßen für den Patienten wie für den Chirurg.

    Literatur

    Campbell WW, Landau ME (2008) Controversal entrapment neuropathies. Neurosurg Clin N Am 19:597–608PubMedCrossRef

    Haase J (2007) Carpal tunnel syndrome – a comprehensive review. Advances and technical standards. Neurosurgery 32:178–249

    Huang JH, Zager EL (2004) Mini‐open carpal tunnel decompression. Neurosurgery 54:397–400PubMedCrossRef

    Lundborg G (2004) Nerve injury and repair, 2. Aufl. Elsevier, Philadelphia

    Phalen GS (1966) The carpal tunnel syndrome: Seventeen years’ experience in diagnosis and treatment of 654 hands. J Bone Joint Surg 48A:211–228

    Phalen GS (1970) Reflexions on 21 years’ experience with the carpal tunnel syndrome. JAMA 212:1365–1367PubMedCrossRef

    Pham K, Gupta R (2009) Understanding the mechanisms of entrapment neuropathies. Neurosurg Focus 26:1–8CrossRef

    Presciutti S, Rodner CM (2011) Pronator syndrome. J Hand Surg Am 2011 36:907–909CrossRef

    Rodner CM, Tinsley BA, O’Malley MP (2013) Pronator syndrome and anterior interosseous nerve syndrome. J Am Acad Orthop Surg 21:268–275PubMedCrossRef

    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

    Hans Assmus und Gregor Antoniadis (Hrsg.)Nervenkompressionssyndrome10.1007/978-3-642-55212-0_2

    2. Klinische Untersuchung

    Hans Assmus¹ 

    (1)

    Abtsweg 13, 69198 Schriesheim, Deutschland

    2.1 Motorik

    2.2 Sensibilität

    2.3 Trophik

    Literatur

    Der Anamneseerhebung und klinischen Untersuchung kommen nach wie vor – trotz aller fortschrittlichen technischen Untersuchungen – eine zentrale Bedeutung zu (Kline 2008). Dies gilt ganz besonders für präoperative Entscheidungsprozesse und die Indikationsstellung zur Operation. Für den Operateur muss jede Diagnostik nachvollziehbar und überprüfbar sein. Er sollte sich keineswegs blindlings auf die mitgebrachten elektrophysiologischen und bildgebenden Befunde verlassen. Fehlerhaft erhobene oder falsch interpretierte neurophysiologische Daten sind leider nicht ganz selten. Wenn gelieferter Befund und Beschwerdesymptomatik nicht zusammen passen, muss jeder Operateur hellhörig werden und nachfragen. Er muss sich bewusst sein, dass bei jeder Indikationsstellung zur Operation die klinische Symptomatik – hier in erster Linie Beschwerden des Patienten und der erhobene klinische Befund – Vorrang hat. Die Beschwerdeschilderung des Patienten und seine genaue klinische Untersuchung sind ergänzt durch die technischen Untersuchungsergebnisse nach wie vor die Grundlage jeder Diagnose.

    Am Anfang jeder Untersuchung steht die genaue Erhebung der Anamnese. Diese kann bereits wichtige diagnostische Hinweise auf das Vorliegen einer umschriebenen Nervenstörung geben Tab. 2.1. Die anschließende klinische Untersuchung vermag vielleicht schon Anhaltspunkte über die Höhe einer Läsion zu geben. Fehlen z. B. bei N. radialis- und ulnaris-Läsionen sensible Störungen, kann dies auf eine Kompression des motorischen N. interosseus posterior unter der Frohse’schen Arkade oder beim N. ulnaris auf eine Kompression des ebenfalls motorischen Ramus profundus im Bereich der Handwurzel hindeuten. Da viele Kompressionssyndrome im Rahmen oder als Folge bestimmter Betätigungen/Gewohnheiten/Belastungen (beruflich, sportlich, künstlerisch) auftreten, sollte danach gefragt werden. Auslöser sind oft auch bestimmte Haltungen oder unphysiologische Körperstellungen. Begleitstörungen wie z. B. eine Tendovaginitis stenosans können Hinweise auf ein KTS geben und umgekehrt. Bei familiärer Häufung – wiederum beim KTS – sollte immer auch nach weiteren Familienmitgliedern geforscht werden! Typische Konstellationen wie chronische Hämodialyse, Gravidität, Zustand nach Mammakarzinom fordern gerade dazu heraus, auch bei nicht ganz typischen Beschwerden gezielt nach Symptomen eines KTS zu fragen.

    Tab. 2.1

    Typische Symptome der Nervenkompression anhand anamnestischer Daten.

    Die klinische Untersuchung umfasst im Wesentlichen die Beurteilung der Sensibilität und Motorik und allfälliger vegetativ-trophischer Störungen. Die klinische Untersuchung stellt die Weichen für die anschließende elektrophysiologische Diagnostik, deren Ergebnisse immer in den klinischen Befund integriert werden und mit diesem stimmig sein müssen.

    2.1 Motorik

    Atrophien und Paresen entwickeln sich bei Nervkompressionssyndromen in der Regel schleichend und werden von dem Patienten kaum bemerkt. Nur selten ist er in der Lage, den Beginn der Störung einigermaßen genau anzugeben. Häufig werden die Atrophien von Angehörigen oder auch dem Hausarzt zufällig bemerkt. Motorische Störungen fallen naturgemäß bei vorwiegend motorischen Nerven wie den Nn. radialis oder ulnaris stärker ins Gewicht. Die wichtigsten Kennmuskeln der Nerven sollten jeweils einzeln geprüft und ihr Kraftgrad festgelegt werden. Dies ist jedoch im Bereich der Hand vielfach nicht möglich, da es sich meist um komplexe Bewegungsabläufe handelt. So ist bei der Opposition des Daumens nicht nur der M. opponens pollicis beteiligt, sondern darüber hinaus die meisten intrinsischen Muskeln der Hand. Somit kann die Prüfung der aktiven Daumenbeweglichkeit Hinweise auf die Funktion der wichtigsten Armnerven geben. Die Kraftgrade werden (nach dem Medical Research Council (MRC)) in sechs Stadien eingeteilt:

    M0:

    keine Kontraktion

    M1:

    fühlbare Kontraktion

    M2:

    beginnende aktive Bewegung

    M3:

    Bewegung gegen Schwerkraft

    M4:

    Bewegung gegen Widerstand

    M5:

    normale Kraft

    Bei den Nervenkompressionssyndromen hat diese Einschätzung jedoch weniger Bedeutung als bei traumatischen Nervenläsionen und im Rahmen von Begutachtungen. Zur Beurteilung der Gebrauchsfähigkeit der Hand wird das Zusammenwirken mehrerer Muskeln bzw. eine komplexe Funktion mit einem Kraftmesser ( Dynamometer; Abb. 2.1) geprüft, der bestimmte Funktionen, wie hier gezeigt, den Schlüsselgriff (oder Spitzgriff) quantifizieren kann, immer unter der Voraussetzung einer optimalen Mitarbeit des Patienten.

    A158026_3_De_2_Fig1_HTML.jpg

    Abb. 2.1

    Messgerät (Jamar-Dynamometer) für die Kraft des Daumen-Zeigefinger-Griffs

    2.2 Sensibilität

    Gefühlsstörungen, von dem Patienten als „Taubheit oder „Pelzigkeit bezeichnet, sind bei vorwiegend sensiblen Nerven wie dem N. medianus von erheblicher Bedeutung. Sie sind im Frühstadium einer Schädigung bereits aus der Anamnese zu entnehmen, wenn z. B. die Patientin berichtet, dass sie keine Handarbeiten mehr verrichten könne oder, dass das Einfädeln einer Nadel unmöglich sei.

    Die klinische Sensibilitätsprüfung stellt immer besondere Anforderungen an Aufmerksamkeit und Kooperation des Patienten. Um zufällige Angaben auszuschließen, sollte die Prüfung mehrfach wiederholt werden. Zunächst geht es darum, festzustellen, ob überhaupt eine sensible Störung vorliegt; wenn ja, sollte das Gebiet abgegrenzt bzw. einem Innervationsgebiet eines Nerven zugeordnet werden. Die Berührungsempfindung kann am einfachsten durch Bestreichen mit der Fingerkuppe oder einem Wattebausch getestet werden. Bei dieser Reizschwellenuntersuchung ist zu prüfen, ob ein Reiz überhaupt wahrgenommen wird. Mit Schmerzreizen durch eine Nadelspitze lässt sich am schnellsten das autonome Gebiet einer Innervationsstörung abgrenzen, indem man von einem gesunden Hautareal beginnend sich langsam dem Gebiet der gestörten Sensibilität nähert. Bei der Sensibilitätsprüfung ist auch die Angabe einer veränderten Qualität von Bedeutung. Diese kann sich in einer Berührungsüberempfindlichkeit bzw. Hyperpathie, Dysästhesie oder Parästhesie ausdrücken. Die Prüfung der Thermästhesie ist bei Kompressionssyndromen weniger wichtig, ebenso die Prüfung der Tiefensensibilität bzw. des Vibrationsempfindens. Ein gestörtes Vibrationsempfinden ist jedoch bei differenzialdiagnostischen Fragestellungen von Bedeutung, z. B. bei der Abgrenzung einer Polyneuropathie.

    Zur Beurteilung des Grads der Funktionsminderung wird folgende Skala (ebenfalls nach MRC) verwendet:

    S0: keine Sensibilität

    S1: Schmerzempfindung in der autonomen Zone

    S2: geringe Oberflächensensibilität

    S2+: zusätzlich persistierende Überempfindlichkeit

    S3: Berührungsempfindung und Tiefensensibilität ohne Überempfindlichkeit

    S3+: 2-Punktediskrimination

    S4: normale Sensibilität

    Eine gewisse Standardisierung der Sensibilitätsprüfung ist mit technischen Hilfsmitteln wie dem Monofilament- bzw. Semmes-Weinstein-Test und der 2-Punktediskrimination (2PD) möglich. Die statische 2-PD prüft den Abstand der beiden Punkte, die noch als zwei Berührungsreize wahrgenommen werden. Man kann einen Tastzirkel verwenden oder eine aufgebogene Büroklammer, wie von Moberg (1958) angegeben. Da ein zu starker Auflagedruck das Ergebnis verfälscht, wurde von Greulich eine „Diskriminations-Scheibe" (Abb. 2.2) verwendet, die einen gleichmäßigen Auflagedruck erlaubt. Es handelt sich um ein 5 g schweres Rädchen, das sternförmig kleine Stifte in definiertem Abstand aufweist. Die Stifte werden jeweils in Längsrichtung auf die Finger aufgesetzt. Der Normalwert liegt an den Kuppen des Daumens und Zeigefingers bei 2–4 mm und an den übrigen Fingern bei 3–5 mm (Scharizer 1988). Die von Dellon (1981) empfohlene dynamische 2-Punktediskrimination ist im Frühstadium der Reinnervation noch ein empfindlicherer Indikator als die statische. Bei der Untersuchung der dynamischen 2-PD werden die Stifte in Längsrichtung der Finger verschoben. Der Normwert liegt bei 2 mm.

    A158026_3_De_2_Fig2_HTML.jpg

    Abb. 2.2

    Untersuchung der 2-Punktediskrimination mit dem Greulich-Stern. Das Gewicht des Rädchens erlaubt einen definierten Auflagedruck

    Die taktile Fähigkeit der Hand wird auch durch den Münztest nach Seddon (1972) untersucht, wobei der Patient festzustellen hat, ob der Münzrand glatt oder geriffelt ist. Der Auflesetest nach Moberg hat bei Kompressionssyndromen weniger Bedeutung und wird vorwiegend bei gutachtlichen Fragestellungen nach Nervenverletzungen oder Nervenwiederherstellung verwendet. Das Gleiche gilt für den Buchstabenerkennungstest. Weitere Tests wurden ausschließlich für das KTS entwickelt (s. Abschn.​ 7.​2.​3).

    Alle klinischen Tests sind mehr oder weniger subjektiv, da der Untersucher auf die Mitarbeit des Patienten angewiesen ist, und gehen mit Fehlermöglichkeiten und Ungenauigkeiten einher. Um diese auszuschalten, hat man nach objektiven Sensibilitätstests gesucht. Der Ninhydrintest war ein früher viel verwendeter Test, der jedoch nur die Schweißsekretion prüft und nur indirekt etwas über die sensible Funktion aussagt. In schweren Fällen einer Nervschädigung besteht eine gewisse Korrelation zwischen Nervschädigung und verminderter Schweißsekretion; in leichten Fällen einer sensiblen Störung versagt der Test jedoch. Da er außerdem umständlich durchzuführen ist, wurde er praktisch verlassen. Ein weiterer objektiver, jedoch ebenfalls nur indirekter Test ist der Hautfaltentest. Bei einem Bad in kaltem Wasser entwickelt die normal innervierte Haut Runzeln und Falten, nicht jedoch bei gestörter Innervation (Mumenthaler et al. 2003). Erst mit dem SEP sind Ansätze für eine objektive Sensibilitätsprüfung geschaffen (s. Abschn.​ 3.​5). Im Übrigen gilt auch bei der Sensibilitätsprüfung, dass im Rahmen der Diagnostik der Kompressionssyndrome einfache Kriterien wie Schmerz- und Berührungswahrnehmung in der Regel ausreichen.

    2.3 Trophik

    Durch Ausfall vegetativer Fasern im Rahmen von Nervläsionen kommt es auch zu trophischen Veränderungen der Haut, z. B. der Papillarleisten, der Schweißsekretion (Ninhydrintest) oder des Nagelbetts („Afföldi-Zeichen"). Diese können auch bei fortgeschrittenen Fällen von Karpaltunnelsyndrom vorkommen, haben jedoch in der Diagnostik keine besondere Bedeutung, da sie erst bei vollständigem Funktionsausfall des N. medianus positiv werden.

    In vielen Fällen sind allerdings die klinischen Befunde nicht eindeutig zu interpretieren, sodass elektrophysiologische Zusatzuntersuchungen zwingend notwendig werden.

    Literatur

    Dellon AL (1981) Evaluation of sensibility and re‐education of sensibility in the hand. Williams and Williams, Baltimore London

    Kline DG (2008) Clinical and electrical evaluation. In: Kim DH, Midha R, Murovic JA, Spinner RJ (Hrsg) Nerve injuries. Operative results for major nerve injuries, entrapments, and tumors. Saunders Elsevier, Philadelphia

    Moberg E (1958) Objective methods for determining the functional value of sensibility in the hand. J Bone Jt Surg 40‐B:454–476

    Mumenthaler M, Stöhr M, Müller‐Vahl H (2007) Läsionen peripherer Nerven und radikuläre Syndrome, 9. Aufl. Thieme, Stuttgart New York

    Scharizer E (1988) Clinical examination. In: Nigst H, Buck‐Gramcko D, Millesi H, Lister GD (Hrsg) Hand Surgery, Vol 1. Thieme, Stuttgart New York

    Seddon H (1972) Surgical disorders of the peripheral nerves. Churchill Livingstone, Edinburgh London

    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

    Hans Assmus und Gregor Antoniadis (Hrsg.)Nervenkompressionssyndrome10.1007/978-3-642-55212-0_3

    3. Elektrophysiologische Untersuchungen

    Christian Bischoff¹  und Wilhelm Schulte-Mattler²

    (1)

    Neurologische Gemeinschaftspraxis, Burgstraße 7, 80331 München, Deutschland

    (2)

    Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universität Regensburg, Universitätsstraße 84, 93053 Regensburg, Deutschland

    3.1 Prinzip der Neurografie

    3.2 Motorische Neurografie

    3.3 Sensible Neurografie

    3.4 Elektromyografie (EMG)

    3.5 Somatosensibel Evozierte Potenziale (SEP)

    3.6 Magnetstimulation (MEP)

    Literatur

    Elektrophysiologische Untersuchungen ermöglichen bei einer Vielzahl von Nervenkompressionssyndromen – besser als die alleinige klinische Untersuchung – eine Objektivierung der Störung, erleichtern die lokalisatorische Zuordnung (z. B. Kompression des N. ulnaris in der Loge de Guyon oder am Ellbogen), erlauben mitunter auch eine prognostische Einordnung (z. B. Leitungsblock versus axonale Schädigung) und gestatten die Objektivierung von Regenerationsvorgängen (Assmus 1978, Bischoff et al. 2008, Bischoff und Schulte-Mattler 2011). Neben den beiden grundlegenden Verfahren der Untersuchung der Impulsleitung mit der elektrischen Neurografie (ENG) und der Elektromyografie (EMG) kommen gelegentlich auch die Magnetstimulation (MEP) und die Untersuchung der somatosensiblen evozierten Potenziale (SEP) zum Einsatz.

    Erste elektrophysiologische Untersuchungen beim Karpaltunnelsyndrom werden schon 1956 beschrieben (Simpson 1956). Die hohe Empfindlichkeit der neurographischen Verfahren als wichtige Voraussetzung zur Diagnosestellung eines Nervenkompressionssyndroms wurde seither mehrfach bestätigt (Loong u. Seah 1971; AAEM 1999). Die Anwendung dieser Techniken setzt aber neben guten anatomischen Kenntnissen des Untersuchers auch eine Expertise und ein Training unter Anleitung voraus, da anderenfalls die Zahl der falsch positiven wie falsch negativen Befunde und damit die Gefahr der Fehldiagnosen zunimmt (Stöhr 1998). Eine neurophysiologische Untersuchung ohne vorausgehende klinische Befunderhebung und Entwicklung einer Arbeitshypothese ist abzulehnen. Mitunter ist es aufgrund der erhobenen Messwerte notwendig, die Untersuchungsstrategie während der Messungen zu ändern, d. h. auszuweiten, oder das Vorgehen zu modifizieren und auch andere Verfahren einzusetzen.

    Vorsicht ist immer dann geboten, wenn Befunde erhoben werden, die nicht mit den klinischen Befunden oder der Arbeitshypothese übereinstimmen. Diese Werte sind kritisch zu bewerten. Viele nicht zuzuordnende Befunde sind auf mess- bzw. untersuchungstechnische Probleme zurückzuführen. Ursachen können falsche Ableit- oder Stimulationsorte sein, submaximale Stimulation, d. h. Verwendung zu niedriger Stimulationsintensitäten, Abschwächung der Stimulationsintensität durch lokale Schwellungen (Ödem, Hämatom, dicke subkutane Fettschicht), Nervenanastomosen u. ä. Diese Einschränkungen gelten aber auch bei der Beurteilung scheinbar passender Befunde, wobei es bei der Neurografie unerlässlich ist, neben den Messwerten auch die Originalregistrierungen zu betrachten. Nicht jeder pathologische Wert hat auch einen Krankheitswert. So findet man des Öfteren bei der Bestimmung der distal motorischen Latenz des N. medianus einen pathologischen Wert, ohne dass der Patient über Beschwerden klagt. Sind Untersuchungsfehler, wie zu lange Distanz zwischen Stimulations- und Ableitort, zu niedrige Temperatur oder zu niedrige Stimulationsintensität, ausgeschlossen, handelt es sich um latente, d. h. klinisch nicht relevante Kompressionen. Diese gilt es dann zur Kenntnis zu nehmen, ohne therapeutische Konsequenzen daraus zu ziehen.

    Sind trotz eindeutiger anamnestischer Angaben und klinischer Befunde die neurophysiologischen Untersuchungen normal, kommen zwei Überlegungen in Betracht. Zum einen kann die Verdachtsdiagnose falsch gewesen sein, so liegt bei einem vermuten KTS doch eine Kompression der Wurzel C6 vor. Zum anderen kann die Untersuchung falsch durchgeführt worden sein. Bei einem ausgeprägten KTS mit hochgradiger Thenaratrophie wird unter Umständen ein falsch negativer Befund erhoben, indem durch zu hohe Stimulationsintensität gleichzeitig der N. ulnaris stimuliert wird, und unter der Ableitelektrode ein normales Muskelantwortpotenzial der vom N. ulnaris versorgten Thenarmuskeln abgeleitet wird. Dies kann vermieden werden, wenn der Stimulationserfolg während der Untersuchung und nicht das Potenzial auf dem Bildschirm beobachtet wird.

    Ziel der elektrophysiologischen Untersuchungen ist nicht so sehr eine Bestätigung einer einmal gefassten Verdachtsdiagnose, sondern die Unterstützung differenzialdiagnostischer Erwägungen. Daher reicht es in der Regel nicht, einen einzelnen pathologischen Befund zu erheben, z. B. eine verlängerte distale motorische Latenzzeit (DML) des N. medianus. Es sollte vielmehr auch der N. ulnaris untersucht werden, um eine Polyneuropathie oder einen Artefakt durch unzureichende Untersuchungstechnik (hier: Untersuchung zu kalter Extremitäten) nicht zu übersehen.

    Schwierig ist auch die Beurteilung postoperativer Ergebnisse. Auch nach erfolgreicher Therapie können die Messwerte weiterhin pathologisch verändert sein. Dies gilt besonders für die Herabsetzung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG), z. B. im Karpaltunnel, die sich sogar regelmäßig nicht vollständig reversibel zeigt.

    Bei divergenten klinischen und elektrophysiologischen Befunden muss zuerst ein Messfehler ausgeschlossen werden. Bei sorgfältig durchgeführter Untersuchung hat der klinische Befund Vorrang. Die Indikation zu einem operativen Eingriff erfolgt nur aufgrund der Symptomatik und klinischen Befunde, nicht aufgrund von Messwerten.

    3.1 Prinzip der Neurografie

    Zur Untersuchung der Nervenleitung bzw. des EMG ist ein Einkanal-Messplatz ausreichend, während für die SSEP-Untersuchungen ein Mehrkanal-(4-)Messplatz erforderlich ist. Bei allen neurophysiologischen Techniken kommt ein Differenzverstärker zum Einsatz, d. h. die elektrischen Signale der beiden Elektroden werden voneinander subtrahiert (Bischoff et al. 2008). Anteile des Resultats mit Ausschlag nach unten werden als positiv, solche nach oben als negativ bezeichnet.

    Die Stimulation erfolgt sowohl bei der motorischen wie bei der sensiblen Neurografie mittels bipolarer Oberflächenelektroden. Dabei ist es wichtig, dass die Kathode (Minus-Pol) die eigentlich stimulierende Elektrode ist. Sie sollte möglichst genau über dem zu stimulierenden Nerven platziert werden. Für die Lage der Anode (Plus-Pol) gilt, dass eine Position zwischen Reiz- und Ableitort zu vermeiden ist. Die Dauer des Stimulus sollte 0,1–0,2 ms betragen, da längere Reizdauern schmerzhafter sind, und die Gefahr der gleichzeitigen Erregung benachbarter Nerven steigt. Grundvoraussetzung ist eine supramaximale Stimulation, d. h. eine Erregung aller Nervenfasern. Bei zu niedrigen Stimulationsstärken werden unter Umständen nicht die schnellstleitenden Fasern erregt: daraus resultieren falsch eine pathologische DML oder NLG, außerdem kann die Amplitude des Antwortpotenzials nicht verwertet werden, was zur irrtümlichen Annahme eines Leitungsblocks oder einer axonalen Schädigung führen kann. Supramaximal ist eine Stimulation dann, wenn bei steigender Stimulationsintensität die Amplitude des Antwortpotenzials nicht weiter zunimmt.

    Zur Verminderung der Artefakte erfolgen alle Untersuchungen mit einer Erdelektrode, die in der Regel zwischen der Stimulations- und der Ableitelektrode positioniert werden sollte.

    DML und NLG sind abhängig von der Temperatur in Nervennähe. Je niedriger die Temperatur, desto langsamer leiten die Nerven, sodass bei kalten Akren leicht falsch positive Befunde erhoben werden können. In allen Grenzfällen oder bei pathologischen Werten müssen die Untersuchungen nach Aufwärmen auf 32–34 °C wiederholt werden.

    Die höchste Sensitivität haben Vergleichsmessungen, d. h. zur Beurteilung der Funktion des N. medianus am Handgelenk sollten die Messwerte mit denen des N. ulnaris oder sensibel auch des Ramus superficialis n. radialis verglichen werden (AAEM 1999).

    3.2 Motorische Neurografie

    Ein motorischer oder gemischter Nerv wird an mehreren Stellen supramaximal (s. oben) gereizt und die Antworten, die muskulären Summenaktionspotenziale (MSAP), mit Oberflächenelektroden vom entsprechenden Zielmuskel abgeleitet (Abb. 3.1).

    A158026_3_De_3_Fig1_HTML.gif

    Abb. 3.1

    Prinzip der motorischen Neurografie am Beispiel des N. medianus mit Stimulation am Handgelenk und in der Ellenbeuge und Ableitung des MSAP vom M. abductor pollicis brevis (Bischoff et al. 2008)

    Die Ableitung erfolgt – außer bei hochgradig atrophierten Muskeln, von denen mit Oberflächenelektroden kein sicheres MSAP erhalten werden kann – mit Oberflächenelektroden. Dabei muss die Ableitelektrode (Minuseingang des Verstärkers) über dem Muskelbauch platziert werden, möglichst über der Endplattenregion, die sich bei kleinen Muskeln in der Mitte des Muskelbauchs

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1