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Jenseits der Dichotomie: Elemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs
Jenseits der Dichotomie: Elemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs
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eBook327 Seiten4 Stunden

Jenseits der Dichotomie: Elemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs

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Über dieses E-Book

Dichotomien erleichtern das Denken. Sie geben Orientierung, sind Grundlage von rationalen Entscheidungen, geben Anleitung zur Systematisierung und nicht selten zur Bewertung. An ihre Grenzen gerät eine binäre Logik, wenn sich Phänomene nicht innerhalb einer zweiwertigen Ordnung bestimmen lassen. Die Überführung starrer, dualistischer (Denk-)Formen in eine erweiterte Verhältnisbestimmung bildet den Anspruch sozialwissenschaftlicher Ansätze, die an Hegel und Adorno anschließen. Ein bestimmter Widerspruchstyp gilt ihnen als produktive Kategorie. Der Sammelband stellt Elemente einer dialektischen Theorie zur Diskussion.

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer VS
Erscheinungsdatum1. Okt. 2013
ISBN9783658022709
Jenseits der Dichotomie: Elemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs

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    Buchvorschau

    Jenseits der Dichotomie - Stefan Müller

    Stefan Müller (Hrsg.)Frankfurter Beiträge zur Soziologie und SozialpsychologieJenseits der DichotomieElemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs10.1007/978-3-658-02270-9_1

    © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

    Herausforderungen einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs

    Stefan Müller

    Zusammenfassung

    Widersprüche stören. Je nach Perspektive müssen sie eliminiert oder aufgehoben, analysiert oder dekonstruiert, kenntlich gemacht oder zurückgedrängt werden.

    „[Die] Kantischen Antinomien bleiben immer ein wichtiger Teil der kritischen Philosophie; sie sind es vornehmlich, die den Sturz der vorhergehenden Metaphysik bewirkten und als ein Hauptübergang in die neuere Philosophie angesehen werden können" (Hegel 1969 ff.: 216).

    Widersprüche stören. Je nach Perspektive müssen sie eliminiert oder aufgehoben, analysiert oder dekonstruiert, kenntlich gemacht oder zurückgedrängt werden. Nicht nur in sozialwissenschaftlicher Hinsicht sind formalisierte Verfahren erstrebenswert, denn sie können darüber Auskunft geben, ob es sich um A oder Nicht-A, um richtig oder falsch handelt. Gleichzeitig gibt es nach wie vor Ansätze, die einer sozialwissenschaftlichen Logik zutrauen, in und mit Widersprüchen zu denken. Ist das ein Widerspruch?

    Offensichtlich gibt es unterschiedliche Konzeptionen vom Widerspruch. Zum einen finden sich Verhältnisbestimmungen, die eine binäre dichotome Struktur aufweisen. Das ist außerordentlich praktisch, da sie Entscheidungen ermöglichen. Dichotomien zwingen zu klaren, eindeutigen Aussagen und zu überprüfbaren und nachvollziehbaren Beweisführungen. Dichotome Ordnungen können sich allerdings auch als problematisch erweisen. Gesellschaftliche In- und Exklusionsmechanismen beruhen ebenfalls auf Dichotomien: Staatsbürger/innen und Nicht-Staatsbürger/innen können (höchst folgenreich) unterschieden werden, und dem Ressentiment fällt die zweiwertige Unterscheidung zwischen gut und böse allzu leicht. Dichotomien bilden demnach die Grundstruktur sowohl orientierenden als auch repressiven Denkens und Handelns.

    Die Frage nach einem Umgang mit Dichotomien beschäftigt seit jeher auch die Sozialwissenschaften. Allzu eng und begrenzt scheinen die Möglichkeiten binärer Zuschreibungen und Voraussetzungen zu sein. Vor allem erweist sich der sozialwissenschaftliche Gegenstandsbereich, die Gesellschaft, das Soziale, gegenüber einer binären Logik als sperrig.

    Eine Möglichkeit, Widerspruchskonfigurationen jenseits binärer Bestimmungen zu diskutieren, findet sich im Projekt der Dialektik. Erforderlich ist dafür eine Widerspruchskonzeption, die nicht ohne weiteres unmittelbar hergestellt oder proklamiert werden kann. Denn wenn einander entgegenstehende Momente schlicht gewaltförmig zusammengepresst werden, mündet dies entweder im ‚rechthaberischen Realismus‘ (Steinert 1998) oder im Verstoß gegen das aristotelische Widerspruchsverbot und damit in irrationalen, intersubjektiv nicht mehr nachvollziehbaren Argumentationsmustern.

    Ein dialektisches Verfahren ist daher mit dem Anspruch auf einen rationalen Umgang mit widersprüchlichen Konstellationen verbunden. Zudem wird ihm zugesprochen, eine Analyse und Kritik gesellschaftlicher (nicht nur dichotomer) Macht- und Herrschaftsverhältnisse geben zu können. Daran ist das Verfahren der Dialektik allerdings weder geschichtlich noch logisch gebunden. Im Gegenteil: Im Namen der Dialektik können Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowohl errichtet als auch aufrechterhalten werden. Ein Verfahren jenseits von Dichotomien ist keineswegs vor Ressentiments oder vor der Legitimation von Macht- und Herrschaftsverhältnissen geschützt – schon gar nicht ‚die Dialektik‘.

    Gleichwohl ist bis heute einem dialektischen Verfahren zuzutrauen, sozial induzierte Herrschaftsverhältnisse in all ihren Widersprüchlichkeiten offenzulegen. Notwendig dafür sind einige Voraussetzungen, die vor allem um die Frage nach rationalen Widerspruchs- und Gegensatzrelationen konzentriert sind – jenseits bloßer Dichotomien und Binaritäten. Eine weitere Verkomplizierung ergibt sich durch den Bezug auf das Verfahren ‚der Dialektik‘. Es ist nicht unmittelbar auszumachen, was die existierenden heterogenen dialektischen Theorien miteinander verbindet, so dass zunächst festgestellt werden muss, dass unter der Bezeichnung Dialektik höchst Ungleichnamiges zusammengefasst wird.

    Im vorliegenden Sammelband werden daher ausgewählte Aspekte dialektischer Verfahren in den Mittelpunkt gerückt, die den Bereich jenseits von Dichotomien in rationaler Hinsicht genauer zu diskutieren erlauben. Alle Beiträge zeigen Dimensionen auf, in denen eine dichotome Logik nicht in jeder Hinsicht und erschöpfend sozialwissenschaftliche Möglichkeiten umgreift. In den vorliegenden Beiträgen werden unterschiedliche Begründungsmöglichkeiten um den Status und die Diskussion rationaler Widerspruchskonzepte vertieft diskutiert. Eine genauere Analyse des (bis heute nicht restlos geklärten) logischen Status von Antinomien verspricht einen elementaren Baustein zur rationalen Aufhebung von Dichotomien – obwohl zweifelsohne nicht jede Dichotomie in eine Antinomie überführt werden kann oder muss.

    Die Offenlegung und Überwindung zweiwertiger dichotomer Denk- und Argumentationsfiguren ist dabei weder an die idealistische Philosophie Hegels noch an das hegelmarxistische Konzept Adornos gebunden. Allerdings werden Elemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs auch nicht von den Hinweisen beider absehen können. Nach dem eher beschworenen als tatsächlich vollzogenen Ende der Bewusstseinsphilosophie tritt eine reflexive SubjektObjekt-Dialektik immer noch an, um sich eines bloßen ‚entweder-oder‘, eines zweiwertigen Kalküls zu entledigen, ohne dabei in den Bereich der Irrationalität abgleiten zu müssen. Ihre Herkunft aus der Bewusstseinsphilosophie muss eine reflexive sozialwissenschaftliche Dialektik nicht verleugnen. Vielmehr ist sie von der Anforderung geprägt, eine rationale Theorie jenseits binärer Logik ausweisen zu können, die gesellschaftliche Konstitutions- und Konstruktionsleistungen in sich aufnehmen kann.

    Die vorliegenden Beiträge diskutieren basale Elemente, um rationale Widerspruchskonzeptionen in den Sozialwissenschaften zu fundieren. Bedeutsam ist die Analyse der Widerspruchskonfigurationen einer Antinomie. Eine Antinomie ist dadurch charakterisiert, dass beide Seiten einer Verhältnisbestimmung gleich gut beweisbar sind, obwohl und weil sie sich widersprechen. Eine der vermutlich bekanntesten Antinomien ist die Lügnerantinomie, die in der einfachen Aussage ‚Dieser Satz ist gelogen‘ verborgen liegt. Wenn dieser Satz gelogen ist, ist er wahr, und gleichzeitig erhebt der Satz Anspruch auf Wahrheit und ist demnach gelogen. Wird nur eine Seite der beiden sich widersprechenden und ausschließenden Antwortmöglichkeiten zugelassen, dann wird die Gesamtkonstellation der Antinomie zerstört und sie bleibt einer dichotomen Struktur verhaftet. Wird dagegen angestrebt, die Antinomie auf allen aufzufindenden Ebenen in den Blick zu bekommen, stellt sich eine ganze Reihe von Folgeproblemen ein (vgl. Müller 2011: 33 ff.). Inwiefern es sich bei Antinomien überhaupt um Widerspruchskonfigurationen handelt und nicht um einen eigenen Typus von Problemkonstellationen, ist zudem eine offene Frage.

    Mit den Bedingungen der Konstitution und Konstruktion von Antinomien setzen sich Thomas Kesselring und Jürgen Ritsert in ihren Beiträgen auseinander. Eine Typologie von unterschiedlichen Widerspruchsfiguren wird sichtbar, die zudem Form und Inhalt der jeweils zugrundeliegenden Problematiken jenseits dichotomer Verhältnisbestimmungen verdeutlicht. Zwar stehen die beiden Beiträge in gewisser Hinsicht konträr zueinander, da Kesselring den dialektischen Widerspruch in die Nähe eines performativen Widerspruchs rückt, während Ritsert gerade einen dialektischen (antinomischen) Widerspruch vom performativen Widerspruch abhebt. Dennoch wird die weitaus gewichtigere Gemeinsamkeit der syntaktischen und semantischen Aufschlüsselungen deutlich: Beide orientieren sich streng an einer rationalen Interpretation sozialwissenschaftlich relevanter Widerspruchsfiguren. Dadurch wird die Problematik solcher Bestrebungen verdeutlicht, die kurzerhand jenseits des formallogischen Widerspruchs unmittelbar den Hegelschen, dialektischen oder antinomischen Widerspruch als Entgegensetzung behaupten. Eine Diskussion, die ‚dem Widerspruch‘ in den Sozialwissenschaften eine wesentliche Bedeutung zuschreibt, ohne Differenzierungen unterschiedlicher Widerspruchsfiguren in den Blick zu nehmen, wird dem Standpunkt ‚der ersten Stellung des Gedankens zur Objektivität‘ (Hegel), der unvermittelten Unmittelbarkeit nicht entkommen können. Die Bedeutung von formallogischen, dialektischen, performativen Widersprüchen und antinomischen Konstellationen wird in den Beiträgen von Ritsert und Kesselring genauer diskutiert. Deutlich wird, dass eine Diskussion um die Größe und Reichweite verschiedener Widerspruchskonfigurationen unterhalb einer syntaktischen und semantischen Analyse des in Anspruch genommenen Widerspruchsbegriffs die sozialwissenschaftlichen Möglichkeiten unausgeschöpft lässt. In diesem Sinne sind die zentralen Anforderungen für eine soziologische Logik des Widerspruchs im Anschluss an Hegel in den Beiträgen von Ritsert und Kesselring zusammengetragen.

    Ausdifferenzierte Wissenschaftsdisziplinen, Interdisziplinarität oder gar ein Problembewusstsein für Klimawandel gab es zum Zeitpunkt der Niederschrift von Hegels Naturphilosophie in den 1820er Jahren nicht. Von daher mag es gewagt erscheinen, ausgerechnet auf der Grundlage von Hegels naturphilosophischen Ausführungen eine aktuelle, interdisziplinäre Erforschung des Klimawandels skizzieren zu wollen. Ebenso kühn wirkt es zunächst, den genuin dialektischen Gehalt der Hegelschen Naturphilosophie zu explizieren, zumal es an Interpreten nicht mangelt, die die wissenschaftliche oder die philosophische Fruchtbarkeit der Naturphilosophie Hegels nachdrücklich bezweifeln. Jedoch kann Hegel mit dichotomen Verhältnisbestimmungen auch in der Naturphilosophie rein gar nichts anfangen. Der Beitrag von Fritz Reusswig rückt die Dialektik des menschlichen Naturverhältnisses in den Mittelpunkt, wie sie einer spezifischen Interpretation der Hegelschen Naturphilosophie entnommen werden kann. Im Rückgriff auf die Arbeiten der Pittsburgh Hegelians (Robert Brandom und John McDowell) sowie auf Pirmin Stekeler-Weithofer werden der Sinn und die möglichen Funktionen der Hegelschen Naturphilosophie herausgestellt. Reusswig zeigt auf, wie sich darin gesellschaftliche Naturverhältnisse darstellen, welche Rolle den Naturwissenschaften und in expliziter Absetzung davon der Naturphilosophie zukommt. Auch das Thema Klima wird bei Hegel sichtbar und gegen einen Klimadeterminismus abgegrenzt. Skizziert wird eine kritisch verstandene Interdisziplinarität, um einen Transformationsprozess im Selbst- und Fremdverständnis von (Klima-) Wissenschaft zu befördern. Zum Abschluss argumentiert Reusswig, dass selbst Interdisziplinarität kein vollständiges Substitut dafür darstellt, was Hegel zufolge im Zeichen des Triumphs der Wissenschaft mehr denn je nötig ist: ein philosophischer, dialektischer Zugang zur Natur.

    Jürgen Ritsert widmet sich in seinem zweiten Beitrag einer weiteren zentralen Diskussion sozialwissenschaftlicher Hegelinterpretationen heute. Der Begriff des Begriffs bei Hegel wird im Blick auf seine zugrundeliegenden Hauptdimensionen aufgeschlüsselt. Ritsert stellt einen Zugang zur Verfügung, der die Selbstbezüglichkeit als Grundrelation des Hegelschen Verfahrens nicht im Sinne eines identitätslogischen Zirkelschlusses begreift, sondern als produktive erweiterte Verhältnisbestimmung aufzeigt. Die daran anschließende enge Verknüpfung der sozialwissenschaftlichen Gehalte Hegels mit einer an Freiheit orientierten Subjekttheorie rundet den Beitrag ab.

    Die Begründung der negativen Dialektik Adornos ist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Soziologie Ende der 1950er Jahre mit einem Konkurrenzunternehmen konfrontiert. Ralf Dahrendorf entwirft eine analytisch geprägte Gesellschaftstheorie, die auf dem Rollenbegriff als Elementarkategorie aufbaut. Aus dieser Kategorie sollen soziologische Erklärungen im bottom-up-Verfahren aufgebaut und gesellschaftliche Gehalte abgeleitet werden. Dieter Mans rückt die Problematik in den Mittelpunkt, die mit jedem Versuch einhergeht, eine Elementarkategorie der Gesellschaft zu identifizieren. Sein Vergleich der Positionen von Adorno und Dahrendorf verharrt nicht in der Feststellung der allzu offensichtlichen Differenzen. Mans zeichnet anhand der Suche nach einer soziologischen Elementarkategorie nach, wie eine (scheinbar) nicht mehr weiter deduzierbare Kategorie mit einem reduktionistischen sozialwissenschaftlichen Denken verknüpft ist. Verdeutlich wird, dass der Rückgriff auf Elementarkategorien nicht konsistent durchgehalten werden kann. Eine analytische Soziologie benötigt zusätzliche Annahmen, die stets sozial vermittelt und kaum angemessen als Erst- bzw. Letztbegründungen denkbar sind. Für ein dialektisches Verfahren ergibt sich daraus der Hinweis, dass eine sozialwissenschaftlich relevante Dialektik ebenfalls auf Randbedingungen verwiesen ist, um ein entsprechendes Verfahren überhaupt in Anspruch nehmen zu können.

    Janne Mende diskutiert den Doppelcharakter antinomischer Widerspruchskonstellationen am Beispiel des Verfahrens der Kritik. Adornos Konzeption von Kritik beharrt konstitutiv auf dem Widerspruch zwischen ‚Zusehen‘ und ‚Zutat‘ (Hegel), zwischen ‚immanenter Kritik‘ und ‚Dreingabe‘ (Adorno). Einerseits bedarf es eines Standpunktes von außen, um die vorfindlichen Gegebenheiten und Begriffe zu kritisieren und zu transzendieren. Andererseits gibt es kein Ungesellschaftliches, kein Außen, auf das unmittelbar Bezug genommen werden könnte. Diese scheinbar dichotome Konstellation bildet eine zentrale Schwierigkeit für die Frage nach einem möglichen Maßstab für Kritik. Sowohl für eine sozialwissenschaftlich angemessene Konzeption von Kritik als auch für den Bezug auf Wahrheit gilt, dass weder die Subjekt-Seite noch die Objekt-Seite zu hypostasieren ist. Ein reflexiver Wahrheitsbegriff verleugnet seinen gesellschaftlichen und historischen Anteil ebenso wenig wie den subjektiven und normativen. Bei aller Präponderanz des Objekts, des Vorrangs der Gesellschaft, bildet das Subjekt den unhintergehbaren Bezugspunkt für etwas, das ‚weniger‘ herrschaftlich präformierten Verhältnissen ausgesetzt ist. Eine Widerspruchskonzeption, die die intrinsische Verbundenheit bei aller zu konstatierender Trennung von Individuum und Gesellschaft im Blick behält, spielt dabei das Individuum (als Maßstab und Möglichkeit von Kritik) nicht gegen den Vorrang des Objekts aus, sondern zeigt auf, wie beide Seiten des jeweils anderen bedürfen. Vor diesem Hintergrund diskutiert Mende den doppelten Kritikbegriff und stellt seine intrinsische Verbundenheit mit normativen Dimensionen heraus. Diese Untersuchung eröffnet das Feld, in dem sich eine Versöhnung in emanzipatorischer Absicht abzeichnet – auf der argumentativen Grundlage einer rationalen dialektischen Widerspruchskonfiguration.

    Im Beitrag Halbierte oder negative Dialektik. Vermittlung als Schlüsselkategorie werden unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten der Kritischen Theorie Adornos nachgezeichnet. Es wird diskutiert, wie der Rekurs auf nur einen Teilmoment negativ dialektischer Argumentationsfiguren die Rezeption der sozialwissenschaftlichen Annahmen Adornos konturiert und verschiebt – sie mithin halbiert. Grundlegend für das negativ dialektische Verfahren ist eine Konzeption von Vermittlung, die auf eine antinomische Widerspruchskonfiguration verwiesen ist. Sowohl die antinomische Widerspruchskonfiguration als auch die jeweils zugrundeliegende Konzeption von Vermittlung sind in den Ausführungen Adornos untrennbar verbunden mit einer normativen Ebene, die erlaubt, repressive Momente einzubeziehen und offenzulegen, um sie im Weiteren einer Veränderung zuführen zu können. Erst dadurch wird die Kritische Theorie zu einer Kritischen Theorie, die auch (der Verhinderung von) Emanzipationspotentialen nachspürt. Dieser Gehalt wird in einer halbierten Dialektik und ihrem Rückgriff auf unvermittelte Einzelmomente jedoch kaum sichtbar. Daran zeigt sich, inwiefern eine Argumentationsweise jenseits binärer Dichotomien auf eine dialektische Konzeption von Vermittlung verwiesen ist. Neben einer additiven Vermittlung oder einer Figur, die auf Schnittmengen in der Vermittlung zweier Momente abzielt, gewinnt in sozialwissenschaftlicher Hinsicht vor allem die Figur der ‚Vermittlung der Gegensätze in sich‘ besondere Bedeutung. Innere und äußere Vermittlungsund Gegensatzbeziehungen sind hier ebenso aufzufinden wie im Falle der Kritischen Theorie Adornos der normative Anspruch, Denk- und Handlungsmöglichkeiten subjektiv, intersubjektiv und objektiv hervorzubringen und zu unterstützen.

    Die Entstehung der hier versammelten Beiträge reicht teilweise weit zurück. Sie eint, dass sie zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Ergebnissen zu einer Einheit von Elementen einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs beigetragen haben. Ich danke allen Autor/innen herzlich für die Bereitschaft, ihre Beiträge zur Diskussion zu stellen. Janne Mende gilt mein besonderer Dank.

    Literatur

    Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1969 ff.): Wissenschaft der Logik I, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt am Main

    Müller, Stefan (2011): Logik, Widerspruch und Vermittlung. Aspekte der Dialektik in den Sozialwissenschaften, Wiesbaden

    Steinert, Heinz (1998): Genau hinsehen, geduldig nachdenken und sich nicht dumm machen lassen, in: Ders. (Hg.): Zur Kritik der empirischen Sozialforschung. Ein Methodengrundkurs, Frankfurt am Main, S. 67–79

    Stefan Müller (Hrsg.)Frankfurter Beiträge zur Soziologie und SozialpsychologieJenseits der DichotomieElemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs10.1007/978-3-658-02270-9_2

    © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

    Formallogischer Widerspruch, dialektischer Widerspruch, Antinomie. Reflexionen über den Widerspruch

    Thomas Kesselring

    Zusammenfassung

    Hinter einem Widerspruch verbergen sich ganz unterschiedliche linguistische Gebilde. Im Alltag bezeichnen wir die Widerrede als Widerspruch.

    Für Dieter Wandschneider

    Hinter einem Widerspruch verbergen sich ganz unterschiedliche linguistische Gebilde. Im Alltag bezeichnen wir die Widerrede als Widerspruch. Seinem Gesprächspartner widersprechen heißt, einer Behauptung von ihm eine Gegenbehauptung gegenüberzustellen, die mit jener unverträglich ist. In der Logik nennt man nicht eine Aussage, die einer anderen entgegenläuft, einen Widerspruch, sondern die gleichzeitige Behauptung beider Aussagen: A und nicht-A.

    1 Der formallogische Widerspruch

    Die meisten Sätze, mit denen wir etwas behaupten („Es ist so und so), sind entweder wahr oder falsch. Ihr Wahrheitswert hängt von der empirischen Beschaffenheit unserer Wirklichkeit ab. Nicht so bei widersprüchlichen Sätzen: Solche Sätze sind unabhängig von der Beschaffenheit der Wirklichkeit falsch – sie sind notwendigerweise falsch. Ein logischer Widerspruch ergibt sich, wenn eine Behauptung A mit ihrer Negation (nicht-A) durch die Konjunktion und verbunden wird. Ein triviales Beispiel wäre: „An Neujahr 2000 herrschte Vollmond, und an Neujahr 2000 herrschte nicht Vollmond. Ob ein Satzgebilde einen Widerspruch darstellt oder nicht, zeigt sich daran, ob es sich auf die Formel A und nicht-A bringen lässt.

    Wer sich in einen aussagenlogischen Widerspruch verwickelt, teilt nichts mit, denn aus einem Widerspruch lässt sich alles Beliebige schlussfolgern, und auch eine Theorie, die einen aussagenlogischen Widerspruch enthält, taugt nichts – aus dem einfachen Grund, weil man aus ihr schließen kann, was immer man will.¹

    Widersprüchliche Aussagen bzw. Theorien enthalten keine Information, ihre Bedeutung ist in maximaler Weise unbestimmt. Ein Widerspruch entwertet eine wissenschaftliche Aussage. Daher sind Widersprüche zu vermeiden.

    Es gibt eine weitere Möglichkeit, einen Widerspruch darzustellen: Aristoteles definiert: „Daß ein und dasselbe [Prädikat] ein und demselben [Subjekt] nach derselben Hinsicht gleichzeitig zukommt und nicht zukommt, ist unmöglich" (MP: 1005b, 19 f.).

    Eine Tulpe kann rot und weiß zugleich – nämlich gestreift – sein. Aber dort, wo sie rot ist, ist sie nicht zum gleichen Zeitpunkt weiß und umgekehrt. Das Weiß kann zwar vielleicht rot werden (oder umgekehrt), aber weiß ist nicht gleichzeitig rot. Wer auf eine Rose zeigt und sagt, „Diese Rose ist rot, der unterstellt, dass es irgendwo eine Grenze zwischen der Farbe Rot und den übrigen Farben gibt, und er klassifiziert die Rose, indem er sie einer der beiden Seiten der Grenzlinie zuweist. Wenn er hinzufügt: „Aber die Rose ist zugleich nicht rot, dann ordnet er sie der anderen Seite der Grenze ebenfalls zu. Da der klassischen Logik zufolge ein Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft entweder hat oder nicht hat, teilt uns, wer beides zugleich behauptet, nichts mit. Seine Botschaft vernichtet sich selbst. Aristoteles kommentiert: Wer sich widerspricht, ist wie eine Pflanze, er teilt uns nichts mit.

    Man mag hier einwenden, dass in Wirklichkeit die Unterscheidung zwischen rot und nicht-rot nicht so klar ist wie in der Logik und dass Analoges für alle Unterscheidungen gilt. Die Wirklichkeit ist sozusagen voller Grauzonen. Doch die logische Klarheit wird durch solche Grauzonen in keiner Weise eingeschränkt. Eine Blüte mag zwar Stellen aufweisen, die man weder eindeutig als rot noch eindeutig als nicht rot bezeichnen kann. Wesentlich ist dabei lediglich, dass man diese Stellen wiederum klar von denjenigen abhebt, die entweder eindeutig rot oder eindeutig nicht rot sind (eine andere Farbe haben). Es gibt dann also keine Zone, die zugleich rot und in derselben Hinsicht (also etwa unter derselben Beleuchtung) nicht rot ist.

    Der bisherigen Darstellung eines Widerspruchs fehlt noch ein entscheidender Aspekt. Ein interessantes logisches Merkmal eines Widerspruchs liegt darin, dass die Negation eines widersprüchlichen Satzes immer auf ein wahres Urteil führt. Der Satz: „Es gibt Einhörner und es gibt keine Einhörner ist notwendigerweise falsch, weil widersprüchlich. Der Satz „Es ist nicht der Fall, dass es Einhörner gibt und dass es keine Einhörner gibt ist demgegenüber notwendigerweise wahr – unabhängig davon, wie die empirische Wirklichkeit beschaffen ist. Er ist wahr aus logischen oder bedeutungstheo retischen Gründen.

    Urteile bzw. Sätze, die aus logischen oder bedeutungstheoretischen Gründen wahr sind, werden gewöhnlich als analytische bezeichnet. Immanuel Kant hat ein Urteil analytisch genannt, wenn der Prädikatbegriff im Subjektbegriff enthalten ist. Sein Paradebeispiel: Das Prädikat ‚ausgedehnt‘ ist im Subjektbegriff ‚Körper‘ enthalten. Demnach ist der Satz „Körper sind ausgedehnt analytisch wahr – d. h. er kann unter keinen empirischen Bedingungen falsch sein. Entsprechend ist der Satz „Körper sind nicht ausgedehnt analytisch falsch – was dasselbe heißt wie: er ist widersprüchlich.²

    Notwendig wahr ist demnach ein Satz, dessen Negation auf einen Widerspruch führt. Kant drückt das so aus: „[W]enn das Urteil analytisch ist, es mag nun verneinend oder bejahend sein, so muß dessen Wahrheit jederzeit nach dem Satze des Widerspruchs hinreichend können erkannt werden (KrV: A 151). Ernst Tugendhat formuliert: „Analytisch wahr ist eine Aussage, wenn ihre Negation einen Widerspruch impliziert (Tugendhat/Wolf 1983: 40).

    Für die Beweistheorie ist dieser Zusammenhang von entscheidender Bedeutung: Gibt es für ein Phänomen nur zwei Erklärungshypothesen, wobei die eine in einen Widerspruch führt, so ist die andere notwendigerweise zutreffend. Wenn beispielsweise die Vermutung, die Wurzel aus 2 sei rational, in einen Widerspruch führt, dann ist der Schluss zwingend, dass die Wurzel aus 2 nicht rational ist.

    Der Gegenbegriff zu analytisch heißt synthetisch. Auch dieser Begriff spielt bei Kant eine große Rolle. Kant zufolge sind Urteile bzw. Sätze, die nicht analytisch sind, synthetisch und umgekehrt. Er exemplifiziert die synthetischen Sätze am Beispiel „Körper sind schwer". Zu den synthetischen Urteilen ist zweierlei zu bemerken. Erstens ist Kant zufolge die Bedeutung des Prädikats ‚schwer‘ nicht in derjenigen des Subjektausdrucks ‚Körper‘ enthalten; der ganze Satz enthält insgesamt mehr Information, er hat einen reicheren Bedeutungsgehalt als das bloße Satzsubjekt. Zweitens ist das Faktum, dass Körper in der Nähe der Erdoberfläche eine gewisse Schwere haben, ein empirischer, kein logischer Sachverhalt. Synthetische Sätze sind, so gesehen, also zunächst nichts anderes als empirische Sätze.

    Doch nahm Kant an, synthetisch seien nicht nur die empirischen Sätze, sondern es gebe auch synthetische Sätze, deren Wahrheit unabhängig von aller Erfahrung feststehe. Er bezeichnete sie als synthetische Urteile a priori. Die meisten Vertreter der analytischen Philosophie stehen der empiristischen Philosophie relativ nahe und verwerfen daher die Kantische Annahme. Ein synthetischer Satz – so behaupteten etwa die Logischen Empiristen – sei einfach ein empirischer Satz. Den Begriff ‚synthetisch‘ hielten sie daher für überflüssig.

    A PRIORI ( = aus logischen oder semantischen Gründen) WAHRE BZW. FALSCHE SÄTZE

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    Abbildung 1

    Š

    2 Der dialektische Widerspruch (performativer Widerspruch oder Selbstwiderspruch)

    Obwohl auch die überwiegende Zahl der modernen Wissenschaftstheoretiker die Annahme synthetischer Urteile a priori fallengelassen hat, ist in den letzten Jahrzehnten vereinzelt die Auffassung vertreten worden, ohne die Annahme synthetischer Urteile a priori sei die Geltung der modernen Wissenschaften nicht zu erklären. Das zentrale Argument zugunsten dieser These geht von der Analyse einer bestimmten Art von Widersprüchen aus – Widersprüchen, an denen sich bei näherer Betrachtung eine selbstbezügliche Struktur ( = Selbstreferenz, Reflexivität) feststellen lässt. Betrachten wir ein paar einfache Beispiele solcher Sätze:

    (1)

    Es gibt keine wahren Sätze (bzw.: Es gibt keine Wahrheit).

    (2)

    Kommunikation ist unmöglich.

    (3)

    Der Satz vom verbotenen Widerspruch gilt nicht.

    Diese Sätze enthalten zumindest implizit je einen Widerspruch. Dieser Widerspruch unterscheidet sich aber der Gestalt nach von einem formallogischen Widerspruch. Anders als bei diesem manifestiert sich in den vorliegenden Beispielen der Widerspruch nicht ausschließlich auf der Bedeutungsebene – der propositionalen Ebene oder Ebene des Satzinhalts. Vielmehr steht in jedem der Beispiele (1) bis (3) der Inhalt der Aussage in kontradiktorischem Gegensatz zu bestimmten Aspekten dessen, was diese Aussage überhaupt erst sinnvoll und verstehbar erscheinen lässt: Wer irgendeinen Satz äußert, um etwas mitzuteilen, beansprucht, dass dieser Satz wahr ist, und setzt also voraus, dass es wahre Sätze gibt. Des Weiteren unterstellt er, dass Mitteilung (Kommunikation) möglich ist und dass der Satz vom verbotenen Widerspruch Geltung hat. Diese Voraussetzungen sind Bestandteile des Behauptungsmoments oder des illokutionären Aspekts seiner Äußerung.

    Sehen wir uns Beispiel (3) näher an: Warum gilt der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch?

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