Wöltu
Von Ulrike Jonack
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Buchvorschau
Wöltu - Ulrike Jonack
Prolog
Eine Frau eilt durch die Gänge des Raumschiffes. Sie könnte – jetzt befragt – selbst nicht sagen, was sie treibt. Die Weckphase verlief, wie sie es schon viele Male erlebt hat. Wie ein Einsammeln der Wirklichkeit. Die wenigen Kontrolllampen in der Anabiosekammer des Kommandanten hatten nichts Beunruhigendes gemeldet. Und auch der Raumsprung ist nichts Neues für sie.
Und trotzdem stockt ihr Schritt, als sie vor der Tür zur Steuerzentrale steht. Vielleicht ist es Angst. Möglicherweise hatten sie das Zielgebiet nicht erreicht, oder der Energieverbrauch war viel zu hoch gewesen, oder sie waren steuerunfähig geworden, oder …
Die Frau holt tief Luft und tritt energisch über die flache Schwelle. Ihr erster Blick gilt dem Raumprojektor. Das Pünktchen, das die Position des Out-of-Orbit-Ships 16-19 Emanuel anzeigt, hängt, wo es hingehört: in der Nähe von Simon, einem gelben Stern der Sol-Klasse.
Der zweite Blick zu den Anzeigen der Anabiosekammern: neunzehn Bildschirme mit dem ,normal‘ im linken unteren Eck. Nur ihr Schirm ist dunkel.
Der Energievorrat entspricht dem berechneten Wert.
Der Autopilot hat den Bremsvorgang eingeleitet.
Erst jetzt ordnet Katharina Brauer den Beginn der Weckphase für die anderen an. Sie wartet das Aufleuchten der Kontrolllampen ab, die die Ausführung des Befehls anzeigen, und setzt sich in den Sessel vor den großen Bildschirm.
Es bietet sich ihr ein vertrauter Anblick. Zu oft hatten sich die Crewmitglieder während der Vorbereitungen die Aufnahmen der Kundschaftersonde gesehen, als dass jetzt Fremdheit von diesem Bild ausgehen könnte. Und irgendwie ist die Frau darüber enttäuscht. Sie hatte sich von dem Augenblick Größeres versprochen. Immerhin ist sie die Erste, die diesen Sektor mit dem markanten Sternenband sozusagen hautnah erleben kann. Diese Einmaligkeit muss doch irgendwie zu spüren sein! Stattdessen kommen der Frau Simons Bahnparameter, Oberflächentemperaturen, Radien in den Sinn.
Sie wendet sich vom Bildschirm ab. Der Computer gibt auf ihre Anfrage Positions- und Kursdaten an. Seine weiche Tenorstimme verkündet, dass alles planmäßig verläuft und das Raumschiff in vierundzwanzig Stunden und achtunddreißig Minuten auf die äußere Annäherungsbahn einschwenken kann. Unwillkürlich nickt die Frau. Sie kennt die Zahlen.
„Hallo!"
Die Kommandantin blickt auf. William Base, ihr Erster Offizier, hat die Zentrale betreten. Sie nickt ihm zu.
„Gut aufgewacht?", fragt der Mann.
„Wie immer."
William Base baut sich vor dem Hauptbildschirm auf und lässt seine Augen über das Panorama gleiten. „Fantastisch!"
Da die Frau nichts erwidert, dreht er sich zu ihr um. „Ist was passiert?"
Sie lächelt müde. „Nein. Warum?"
„Warum? Du müsstest dich mal sehen! Also: Was ist los?"
„Es ist wirklich nichts. Ich bin nur ein bisschen enttäuscht. Ich hab mir die Ankunft irgendwie … großartiger vorgestellt." Sie reagiert auf sein Aufatmen mit einem Lächeln.
„Katja, du bist hoffnungslos romantisch."
„Wahrscheinlich."
Katharina Brauer blickt zur Tür und dann zu den Bildschirmen der Anabiosekammern. Gerade erlischt der fünfte Schirm. Er gehört zur Kammer der Ärztin, fällt ihr ein. Sie atmet hörbar ein und aus. „Sie müssten längst hier sein."
William Base sieht auf die Uhr seines Armbandes. „Sie können die Kammern gerade erst verlassen haben. Er schaut die Frau an. „Warum bist du so nervös?
„Ich weiß auch nicht. Aber ehe nicht alle gesund und munter in der Zentrale stehen, habe ich keine Ruhe."
Erster Teil
Katharina Brauer saß auf dem Platz des Kommandanten und schaute auf den Hauptmonitor. Simon, der gelbe Stern der Sol-Klasse, dessen System sie vor knapp einer Woche erreicht hatten, funkelte als heller Stern im linken unteren Eck. Im Zentrum des Bildschirms prangte Simon drei.
„Die Sonde ist raus", meldete William Base vom Pilotenpult, das sich links neben Brauers Platz befand.
„Wann kommen die ersten Bilder?"
Von links antwortete Tomasz McMay: „Ab sofort, wenn du willst. Die Messungen laufen."
„Nicht unbedingt. Die Standard-Prozedur reicht mir."
McMay nickte und tippte etwas in das Copilotenpult. Brauer sah ihm dabei zu. Wenn Tomasz so konzentriert arbeitete, wurden seine Augen ein wenig schmaler und der harte Zug um seine Lippen vertiefte sich. Katja mochte diesen Ausdruck, für sie sah es nach Kraft aus. Andere fanden Tom in solchen Momenten noch unzugänglicher, als er ohnehin wirkte. Er bemerkte Katharinas Blick, wandte sich um und lächelte ihr kaum sichtbar zu.
Als wäre das ein Signal, drehte sie sich zum Sensorterminal zu Frank Brown um. „Kommt alles?"
Er nickte.
„Gut." Brauer lehnte sich zurück. Alles lief nach Plan, so, wie sie es liebte.
Hinter ihr kam Bewegung in die bisher stille Zentrale. Chris Yali war die Erste, die sich einfand. Das war eher ungewöhnlich, denn normalerweise war die Schwester der Kommandantin dafür bekannt, immer erst im letzten Moment aufzutauchen. Außer Brauer regte sich niemand darüber auf. Jetzt sah sie ihre Schwester fragend an.
Die schaute nicht weniger fragend zurück. „Ich dachte, es geht jetzt los."
„Ja. Die Sonde ist grad raus, wenn du das meinst."
„Eigentlich nicht. Ich dachte, die Bilder kommen jetzt an."
„In zehn Minuten", antwortete McMay an Brauers Stelle.
„Kann ich warten?", fragte Yali.
„Dir wird nichts anderes übrig bleiben. Die Bilder kommen nicht eher", antwortete Brauer und grinste breit.
Das Auftauchen von Jon Donald und Ricardo Thomas unterbrach die Antwort, zu der Yali angesetzt hatte.
Nach und nach traf die gesamte Besatzung ein. Brauer lächelte. Niemand wollte die ersten Bilder verpassen, falls sich der Planet als Leben tragend erweisen sollte. Obwohl es nicht der erste belebte Planet wäre, den die Menschen fanden, ging von der Aussicht, außerirdisches Leben zu finden, noch immer eine offenbar unwiderstehliche Faszination aus.
„Wir haben jetzt das Bild, sagte Base. „Ich leg es auf den Hauptschirm.
„Tu das!"
Ein Schalter klickte und auf dem Bildschirm wechselte die Außenaufnahme der Emanuel mit der der Sonde. Eine gelbliche Kugel schob sich langsam ins Bild. Simon drei. Die Sonde ging schnell näher, so dass der ein wenig dunstig wirkende, lehmgelbe Farbton des Planeten schon bald nahezu den gesamten Schirm ausfüllte.
„Sonde im Orbit", meldete Base.
Der Horizont von Simon drei verschwand am oberen Bildrand. Trübe Wolkenfetzen hingen über dem goldockerfarbenen Grund. Die Planetenoberfläche schien, von hier aus betrachtet, ohne ausgeprägtes Profil, ohne Gliederung zu sein. Selbst an der Tag-Nacht-Grenze, die die Sonde eben passierte, waren kaum Schatten von Erhebungen zu sehen.
„Erste Umrundung beendet."
Brauer hörte jemanden enttäuscht schniefen. Sie drehte sich nicht danach um. „Bremsen und Bild vergrößern!", befahl sie, noch bevor die Sonde wieder die Tagseite erreichte.
Dann kehrte das Ocker der Oberfläche auf den Schirm zurück. Es löste sich in verschiedene Farbtöne auf. Die Grenzen waren unscharf, oft als solche gar nicht zu erkennen. Ganz allmählich wurde die Fläche bräunlicher, grünlicher, gelber …
„Sieht aus wie ein riesiger Sandkasten", kommentierte Jon Donald.
Brauer lächelte flüchtig. So unrecht hatte er nicht. Die Daten, die Brauer von den Anzeigen ihres Pultes ablesen konnte, charakterisierten Simon drei als einen kleinen erdähnlichen Planeten mit geringer Anziehungskraft. Außer in den wenigen Wolken schien es nirgends Wasser zu geben. Selbst während des Winters, in dem schon in den mittleren Breiten arktische Temperaturen herrschen dürften, konnte es kaum mehr als eine dünne Raureifschicht auf dem lockeren Verwitterungsmaterial geben, das die geschlossene Gesteinshülle von Simon drei bedeckte.
Brauer schaute auf die vier kleinen Bildschirme ihres Pultes, wo die Aufnahmen der Außenbordkameras der Emanuel zu sehen waren. Die Spiralbahn der Sonde war als dünne rote Linie eingezeichnet.
„Wann geht sie in den Funkschatten?", fragte Brauer zum Piloten hin.
„In zwölf Minuten", antwortete Base.
Brauer nickte sich innerlich zu: richtig geschätzt. Sie schaltete das Sondenbild auf einen ihrer Monitore. „Gib mir die Handsteuerung!"
Er betätigte ein paar Tasten. „E1 an Kommandant direkt", meldete er.
„Übernommen."
Brauer lenkte die Sonde tiefer in die Atmosphäre. Auf dem Bildschirm verschleierten immer häufiger dünne Wolken den Blick auf die Planetenoberfläche, die sich scheinbar zu formen begann. Allmählich wurden Höhenzüge sichtbar – Relikte ehemaliger Meteoritenkrater, vom ständig wehenden Wind zu sanften Wellen abgeschliffen.
Brauer warf einen kurzen Blick auf die Daten der Luftanalyse, die Brown ihr unaufgefordert auf einen der Pultschirme projizierte. „William! Such’ mir einen Landeplatz ohne Treibsandgefahr!"
„Sofort! Da ist eine Art Plateau. Nein, unterbrach er sich, „das wird zu knapp.
„Zeig mal!"
Base markierte auf Brauers Bildschirm einen Punkt der Planetenoberfläche nahe der Horizontlinie.
„Wie groß ist das Plateau?", erkundigte sich Brauer.
„Sechzig mal achtzig Meter ungefähr. Base drehte sich zu ihr um. „Aber in vier Minuten verschwindet es auf der Schattenseite.
„Kein Problem!" Sie sah kurz zu McMay. Er erwiderte den Blick und nahm einige Schaltungen auf seinem Pult vor.
Brauer ließ die Sonde durch die Wolken tauchen und wechselte auf Gleitflug. Am Rand des Bildschirms erschien die Kante einer Tragfläche. Kurz darauf kippte das Bild ab und die Sonde raste wie im freien Fall auf die Planetenoberfläche zu.
Jemand hinter Brauer stöhnte leise auf. Sie reagierte nicht darauf.
Die Oberfläche kam beängstigend nah. Jeden Augenblick konnte die Sonde aufschlagen! Im letzten Moment bremste Brauer den Fall, ließ die E1 wenige Meter über dem Boden ausgleiten und brachte sie über dem Plateau zum Stehen. Langsam senkte sich die Sonde. Die Landestützen versanken um Zentimeter im weichen Sand, ehe sie Halt fanden. Federleicht setzte die Sonde auf. Brauer tippte noch den Befehl zur Bodenanalyse ein, dann brach der Kontakt ab. Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch.
„Dreieinhalb Minuten", sagte Base.
Brauer sah zu ihm herüber. Sein Blick machte klar, dass er es nicht anerkennend gemeint hatte.
„Das hätte schief gehen können", meinte auch Jon Donald.
Brauer tat, als ob sie es nicht gehörte hätte. Sie drehte sich zur Besatzung um und sagte: „Das war’s, Leute. Vorerst zumindest. Tut mir leid."
„Naja, sagte Donald in das enttäuschte Schweigen hinein und erhob sich. „Dann kann ich ja in Ruhe mittagessen und muss nicht befürchten, dass ich was verpasse, wenn die Sonde sich während meiner wohlverdienten Pause wieder meldet.
Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und schlenderte aus der Zentrale.
Brauer stand auf und trat zu Brown. Sie spürte, wie sich der Raum hinter ihr allmählich leerte. Sie versuchte, das Gefühl zu ignorieren, und studierte die Anzeigen des Sensorpultes. Sie hätte sich die Daten auch auf ihr Pult holen können, aber das schien ihr auf einmal nicht dasselbe zu sein.
Frank Brown tippte einen Befehl in das Terminal und deutete mit einer winzigen Kopfbewegung auf die erscheinenden Daten.
Brauer hob überrascht die Brauen. „Wieso hat Tang das nicht bemerkt?"
„Es ist seine Rechnung, korrigierte Brown. „Er bat mich nur, sie zu überprüfen.
„Trotzdem. Er hätte es eher sehen müssen. Das ist sein Job."
„Die Konstellation ist sehr ungünstig. Wir haben erst jetzt die Daten exakt genug."
„Ach so. Na gut." Brauer sah den Piloten an. Der nickte andeutungsweise.
Brauer drehte sich um. Sie sah Lothar Wiesner im Hintergrund der Zentrale sitzen und sie beobachten. Er tat das auf diese für ihn so eigene Weise, die sie immer daran erinnerte, dass er mal ihr Lehrer gewesen war. Sie ging zu ihm, setzte sich in den Sessel neben ihm und sah ihn fragend an. „Hab ich was übersehen?"
„Du hättest die Sonde beinahe verloren."
Brauer runzelte die Stirn. „Die …? Ich dachte, du meinst, ich hätte Lebenszeichen oder so übersehen."
„Du? Meine beste Schülerin? Nein."
„Und was ist mit der Sonde?"
„Wem wolltest du was beweisen?"
„Be…? Ich verstehe nicht."
„War das nötig? Dieser knappe Flug?"
„Nötig nicht, aber … Frank hätte das Notfallprogramm parat gehabt, es konnte nichts passieren."
Wiesner antwortete nicht. Er stand auf und ging.
Brauer sah ihm nach. Sie hatte eine vage Ahnung, was ihn störte. Sicher, Risikobereitschaft war früher nie ihre Stärke gewesen, aber seit Schule und Studium war einiges passiert. Und: So hoch war das Risiko doch gar nicht gewesen. Oder doch? Nein, sagte sie sich, nicht mit Frank und Tom an ihrer Seite.
Brown holte Brauer in die Realität der Zentrale zurück. „Gehst du jetzt in die Messe?"
Sie sah auf. „Was? Nein. Nein, ich habe vorhin schon etwas gegessen. Wie sieht’s bei dir aus?"
„Die Checkliste ist noch abzuschließen und der neue Kurs muss programmiert werden."
Base drehte sich um. Brauer ignorierte es. Sie legte ihre Hand auf Browns Arm und sagte: „Ich mach’ das schon. Du bist schon in der zweiten Schicht hier! Ich brauche nachher eine einsatzfähige Crew."
Brown nickte knapp.
Die Kommandantin ging nach vorn und tippte McMay an. „Tom? Das gilt auch für dich."
„In Ordnung!" Er schloss alle Kanäle auf seinem Pult und folgte Brown.
Katja sah ihnen einen Moment lang nach. Das war schon ein ungleiches Paar: