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Schwesterherz: Elijah Leblanc - Erster Fall
Schwesterherz: Elijah Leblanc - Erster Fall
Schwesterherz: Elijah Leblanc - Erster Fall
eBook614 Seiten7 Stunden

Schwesterherz: Elijah Leblanc - Erster Fall

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Über dieses E-Book

Jeder Cop hat den einen ungelösten Fall,
der ihn nicht ruhen lässt.

Für Elijah Leblanc trägt dieser Fall den Namen eines jungen Mädchens: Amelie Bennett.
Amelie ist vierzehn, als sie aus Trier verschwindet. Von ihr bleibt nur eine dunkle Blutlache in einem Park.
Zwei lange Jahre zehrt der Fall an Elijah, als er wie aus dem Nichts eine anonyme Mail erhält. Ein Foto von Amelie. Lebend.
Elijah und seine Kollegin Jo nehmen die Ermittlungen wieder auf, gegen die ausdrückliche Anweisung ihres neuen Chefs.
Dann der Schock: Auch Leonie Bennett verschwindet.
Elijah und Jo wissen, sie können Leonie nur finden, wenn sie auch das Verschwinden ihrer Schwester Amelie aufklären. Die Recherchen bringen sie auf die Spur eines Serienmörders und führen Elijah in zwei Städte, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Trier, die gar nicht so beschauliche Römerstadt an der Mosel und ungeliebter Ort seiner Jugend. Und, zehntausend Kilometer entfernt, die ostchinesische Millionenmetropole Shanghai.
Eine rücksichtslose, kalte Stadt, in der alles möglich ist.
Auch das Undenkbare.
Aber Leonie ist seine zweite Chance. Und Elijah will verdammt sein, wenn er es wieder vermasselt.

Entschlossen, eigenwillig, entspannt – Elijah Leblanc, Spezialist für Serienverbrechen beim Bundeskriminalamt, trifft in seinem ersten Fall auf seine Ex-Freundin Playboy-Emma, einen chinesischen Cop mit einer Vorliebe für verklausulierte Botschaften, eine chinesische Geschäftsfrau mit bestem 'Guanxi' und einem tödlichen Plan sowie einen Serienmörder so gewöhnlich, wie ihn nur die Realität hervorbringt.
'Schwesterherz' ist ein atemraubendes Non-Stop-Abenteuer vollgepackt mit außergewöhnlichen Typen, Witz, Dramatik und absolut authentischen Schauplätzen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Aug. 2018
ISBN9783742723949
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    Buchvorschau

    Schwesterherz - Stephan Lake

    1

    Montag Morgen fünf Uhr im Airporthotel Frankfurt, und Elijah hatte einen Haftbefehl in der Tasche für einen Johann Johansson, achtunddreißig, blond, einsneunzig, hundertzehn Kilos, von der Presse Das Gehirn genannt und stolz darauf.

    „Der ist Schwede, fand aber unsere Frauen schöner und ist geblieben, sagte Elijah zu den vier Vermummten im Aufzug auf dem Weg nach oben. „Hat in der Zeitung meinen Namen gelesen und mir danach ein Dutzend Mails geschrieben, voll mit Rechtschreibfehlern und Grobheiten, was er mit ihnen macht und dann auch mit mir, wenn ich ihm mal begegne.

    „Ich dachte, die nennen ihn Das Gehirn", sagte einer, die Stimme dunkel und dumpf unter der Maske.

    „Was für Grobheiten?", sagte ein anderer.

    „Aber nicht weil er schlau ist, sagte Elijah. „Der hat die Frauen angeschossen, immer in die Beine, damit sie nicht mehr laufen konnten, immer mit derselben Zweiundzwanziger. Dann hat er ihnen mit Hammer und Meißel den Schädel aufgebrochen und das Gehirn herausgelöffelt. Wie ein weichgekochtes Ei aus einem Eierbecher, hat er geschrieben. Würde auch so schmecken, aber ohne Salz.

    „Lebend? Näh, ne?"

    „Lebend war ihm wichtig. Das Gehirn müsste bis zum Schluss Sauerstoff bekommen, das sei entscheidend, wegen des Geschmacks."

    „Ob das wirklich was ausmacht?"

    „Am Geschmack? Ich bezweifle es." Elijah sagte, „Hat immer Sauerstov geschrieben, mit v."

    Die Tür glitt auf. Sie guckten auf das Schild mit Nummern und Pfeilen und gingen nach rechts.

    Aus dem Treppenhaus kamen weitere Vermummte dazu, ein Großer vorneweg. Der Große nickte, und Elijah nickte zurück.

    4030, 4031, 4032.

    Elijah sagte, „Hier."

    „Okay, Leblanc, sagte der Große, „dann machen Sie Platz. Wir rammen die Tür ein.

    „Das würde euch gefallen, was?, sagte Elijah. „Nein, ich dachte, ich besorge mir einen Schlüssel, und hielt die Karte mit dem goldenen Schriftzug hoch. Airporthotel.

    Dann sahen sie ihm zu, wie er seine Beretta überprüfte, das Magazin voll und eine Patrone im Lauf, und wieder zurück ins Holster an der linken Hüfte. Elijah Leblanc in seinen Boots, der den Zugriff immer selbst machte, das SEK nur als Begleitung dabei. Als Rückendeckung. Wollte sie lebend fassen, seine Klienten, wie er sie nannte.

    Jetzt warf Elijah seine Schutzweste über. „Ich denke nicht, dass er sich wehrt, aber man kann nie wissen", und drückte die Karte an den Sensor über dem Griff.

    Das Schloss klickte.

    Die Männer hinter ihm zogen ihre Glocks, schwarz und bedrohlich wie der Rest ihrer Kluft.

    „Der hat neun Frauen getötet, flüsterte der Große. „Wollen Sie da wirklich als Erster rein?

    Elijah sah ihn an, stumm und beinahe ein Lächeln im Gesicht.

    Der Große sagte, „Okay dann."

    „Nicht drängeln hinter mir, und die Zeigefinger immer schön locker halten", sagte Elijah ebenso leise.

    Und schob die Tür auf.

    Er hörte das Atmen eines Menschen. Tief und gleichmäßig und friedlich.

    Aus derselben Richtung sah er Licht.

    Links das Badezimmer, vorgebaut, die Tür einen Spalt offen.

    Elijah drückte gegen die Klinke. Die Tür schwang lautlos auf.

    Niemand darin.

    Geradeaus der eigentliche Raum, von wo Licht und Atmen kamen. Rechts oben der Fernseher an der Wand, ausgeschaltet. Darunter ein Tisch und darauf ein Laptop, ausgeschaltet. Vor dem Tisch ein Paar Lederschuhe. Elijahs Blick blieb daran hängen. Johansson hatte Größe einundfünfzig. Die Schuhe sahen verdammt danach aus.

    Elijah ging weiter, die anderen dicht hinter ihm.

    Links das Bett. Darauf ein Mann in Hemd, Jeans, Socken, die Augen geschlossen. Blonder Vollbart, blonde kurze Haare, rund einsneunzig, rund hundertzehn Kilos. Er sah aus wie Ende dreißig.

    Das richtige Zimmer. Der richtige Kerl.

    Auf dem Nachttisch die eingeschaltete Lampe. Neben der Lampe eine Walther. Kaliber Zweiundzwanzig.

    Elijah nahm die Waffe am Lauf und reichte sie nach hinten. Sah auf dem Boden unter dem Bett eine Sporttasche herauslugen und zupfte sie mit dem Fuß hervor. Drückte mit dem Fuß die Seiten auseinander und sah: Einen Hammer. Mehrere Löffel. Einen Schalldämpfer. Mehrere Eisen in verschiedenen Größen, alle nach vorne flach zulaufend.

    Meißel.

    Ob noch Gehirnmasse daran war, konnte er nicht erkennen.

    Elijah sagte, „Johansson."

    Der Blonde öffnete die Augen, „Fuck nej!", und griff auf den Nachttisch, aber ins Leere, dann schlug Elijah ihm bereits mit Wucht den Handballen gegen die Stirn und eine halbe Sekunde später den anderen Handballen gegen die Schläfe.

    Zwei schnelle, dumpfe Schläge.

    Bamm-bamm.

    Der Blonde fiel zurück aufs Kissen und blieb liegen.

    Elijah atmete aus.

    Draußen warteten sie auf den Aufzug, Johansson in ihrer Mitte, Fußgelenke in Fesseln, die Hände im Rücken in Fesseln. Vier hielten ihn zusätzlich an den Armen.

    Ich denke nicht, dass er sich wehrt, sagte der Große, während er die Maske auszog und sich damit durchs Gesicht wischte. Er nickte. „Jetzt weiß ich, was Sie gemeint haben, Leblanc. Aber was hätten Sie gemacht, wenn der mit der Walther im Anschlag auf dem Bett gelegen hätte? Niemand, der nicht Billy the Kid heißt, zieht so schnell seine Waffe aus dem Holster wie der andere den Finger krumm machen kann.

    „Und sogar dieser Billy, sagte Elijah, „soll gar nicht so schnell gewesen sein.

    Johansson drehte den Kopf und machte zum zweiten Mal den Mund auf. „Also du bist Elijah Leblanc." Die Stimme ein dunkler Bass.

    „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie einen Bart haben", sagte Elijah.

    „Und ich hätte nicht gedacht, dass du mich jemals kriegst. Johansson lachte, nicht mehr als ein kurzes Glucksen in der Brust. „Scheiße, Leblanc, haben wir uns beide geirrt.

    Der Aufzug kam und sie schoben Johansson hinein und warteten.

    „Danke, sagte Elijah, „ich nehme den nächsten.

    2

    Später im Besprechungsraum mit dem Whiteboard und dem Projektor an der Decke skizzierten Elijah und Jo für die anderen drei Teams noch einmal den Fall und die entscheidenden Stationen der vergangenen mehr als acht Monate. Elijah berichtete dann über die Festnahme vom Morgen, klappte sein Notizbuch zu und sagte, Das wars.

    Neben ihm guckte Jo zufrieden und zugleich frustriert und sagte, dass sie das nächste Mal mitkommen würde, Verdammt nochmal. Er sagte, Das werden sie dir nicht erlauben, Jo. Ich weiß, aber dir erlauben sie es ja auch, und, Wir sind Monate hinter einem her, dann finden wir ihn, und irgendwelche Schwarzvermummten, die mit nichts etwas zu tun haben, nehmen ihn fest, und Verdammt frustrierend ist das.

    Ich weiß, sagte Elijah.

    Die anderen stimmten zu, weil es ihnen ja genauso ging.

    Jetzt saß Elijah wieder in seinem Büro, Kaffeebecher links in der Hand, Computermaus rechts, Beine hoch und Boots neben dem Bildschirm und klickte sich durch die neuen Fotos auf ihrer Fahndungsliste. Füllte damit das Vakuum, das er jedes Mal spürte, wenn sie einen Fall abgeschlossen hatten, sein Gehirn, sein Kopf dann immer müde und leer.

    Obwohl, heute würde er das so nicht formulieren.

    Die Liste: Drei Überfälle, davon zwei auf Tankstellen, eine auf einen Supermarkt; dazu gab es unscharfe Schwarzweiß-Aufnahmen. Dann das Phantombild eines jungen Mannes, ein Kind fast noch, gesucht im Zusammenhang mit einem Tötungsdelikt im Drogenmilieu. Und zuletzt eine Sekretärin, fünfundfünfzig, die mit zweihunderttausend Euro ihres Chefs derzeit durch Europa reiste; ihr Fahndungsfoto, fand Elijah, sah aus, als würde sie sich damit bereits um einen neuen Job bewerben. Schwierig, in dem Alter. Aber er würde sie einstellen, sie hatte vermutlich ein paar Geschichten zu erzählen.

    Würde er einem von ihnen draußen begegnen, wie sollte er ihn anhand solcher Bilder und Fotos erkennen? Die Sekretärin, sicher, aber die anderen? Kaum möglich. Elijah wusste das, zwanzig Jahre Erfahrung darin.

    Er klickte die Seite weg, und sein Bericht über den Schweden erschien.

    Zugleich ertönte der Jingle.

    Bling.

    Neue Mail.

    Vor einer Woche hatte das angefangen, und er wusste immer noch nicht, warum der Jingle plötzlich da war. Vor allem nicht, wie er ihn abstellen konnte. Fragen ging nicht, sie würden ihn für einen Dinosaurier halten. Problem war, ignorieren ging auch nicht. Früher überprüfte er seine Mails einmal am Tag, manchmal auch nur einmal pro Woche, denn Dringendes besprach er immer persönlich oder am Telefon. Und nicht wirklich Dringendes hatte bei Elijah eine ziemlich gute Chance, gar nicht besprochen zu werden. Aber jetzt mit diesem Bling? Einmal gehört, musste er nachsehen. Was wohl auch die Absicht dahinter war.

    Elijah setzte sich aufrecht und drückte Alt-Tab und wechselte in die Mailmaske. Erwartete eine Nachricht aus einer der anderen Abteilungen, Glückwünsche zum Gehirn.

    Aber das war es nicht.

    Absender: Eine Yahoo-Adresse mit dem Namen FuckYouLeblanc. An: Elijah Leblanc BKA. Betreff: Guck mal.

    Er scrollte nach unten. Kein Text, nur ein Anhang. Eine Datei im jpg-Format. Ein Foto.

    FuckYouLeblanc, na ja. Nicht sehr einfallsreich.

    Elijah doppelklickte auf das Symbol und trank einen Schluck, während der Computer die Datei auf Schadsoftware scannte, und einen weiteren Schluck und dann noch einen, während sich die Datei öffnete. Sein Kaffee war schwarz und stark und heiß. Auf dem Becher stand FBI.

    Er bekam häufig anonyme Mails und anonyme Anrufe mit oft genug unhöflicheren Ansprachen. Früher auch Faxe, heute aber zunehmend seltener, kein Wunder. Wer damit prahlen will, dass er seinem Opfer die Augäpfel herausgeschnitten und auf Holzstäbchen aufgespießt hat, der will nicht erst einen Brief schreiben, dann den Brief ausdrucken, in ein Faxgerät legen und den Knopf drücken und warten, bis irgendwann eine Verbindung aufgebaut wird, nur um festzustellen, dass der Brief mit der falschen Seite auf dem blöden Fax liegt und ihn dann noch einmal senden zu müssen. Oder? Nein, heute wurde gemailt und gesimst und getwittert und geyoutubed, auch von seinen Klienten aus der Berufsgruppe der Serienmörder und Serienvergewaltiger.

    Waren das Wörter – gesimst, getwittert, geyoutubed? Er dachte nach, kam aber zu keinem Ergebnis und machte sich eine Notiz.

    Elijah wollte gerade einen weiteren Schluck trinken, aber das Foto erschien jetzt auf dem Bildschirm und seine Hand mit dem Becher blieb auf halbem Weg zum Mund stehen.

    Die Nahaufnahme einer jungen Frau, von der Hüfte an aufwärts. Gelber Pullover mit Stehkragen, Reißverschluss bis oben geschlossen, Arme vor der Brust verschränkt. Lange blonde Haare.

    Und ein bekanntes Gesicht.

    Amelie Bennett.

    Elijah stellte den Becher ab.

    Was zum ...?

    Er spielte mit dem Zoom, vergrößerte das Foto und verkleinerte es wieder bis zur optimalen Größe und Schärfe und hatte keinen Zweifel.

    Amelie Bennett.

    Jeesus.

    Auf dem Foto sah sie aus, als wäre sie Anfang zwanzig. Dabei war sie gerade mal vierzehn, als sie vor zwei Jahren verschwand.

    Und seitdem galt sie als tot.

    Amelie war bei Tageslicht fotografiert worden und im Freien, nicht in einem Raum. Das zeigten die Haarsträhnen, die auf eine Art in ihrem Gesicht lagen, wie es nur ein heftiger Wind fertig bringt. Wo draußen, konnte er jedoch nicht einmal ansatzweise vermuten.

    Er rutschte auf seinem Stuhl nach vorne und nahm dann seine Lupe griffbereit neben dem Bildschirm und guckte noch einmal. Rechts und links neben Amelies Oberkörper war gar nichts zu sehen, rechts und links neben ihrem Kopf nur die Andeutungen von Andeutungen von irgendwas. Das Foto konnte in einer Stadt aufgenommen worden sein oder einem Wald oder auf dem Mond.

    Er legte die Lupe zurück und atmete aus.

    Okay, Elijah, nochmal von vorne.

    Die Augen. Amelie blickte direkt in die Kamera. Das Foto war also nicht heimlich aufgenommen worden; es war nicht einmal einer dieser Schnappschüsse, bei denen jemand eilig und ohne nachzudenken auf den Auslöser drückte. Nein, Amelies Fotograf hatte sich Zeit genommen, und Amelie hatte ihm die Zeit gegeben. War stehen geblieben, hatte die Arme verschränkt, gewartet auf das Klicken der Kamera. Aber ohne zu lächeln.

    Ihr Gesichtsausdruck war ... hm, neutral, am ehesten. Kein Lächeln, kein Weinen, keine Wut. Keine Trauer, Freude, Verzweiflung. Höchstens eine Augenbraue schien nach oben gezogen, aber das konnte täuschen. Was das alles zu bedeuten hatte, wusste er nicht.

    Elijah lehnte sich wieder an, seine Stuhllehne quietschte. Er neigte den Kopf nach rechts und links und spürte das vertraute Knacken in seinem Hals und spürte kurz darauf den Druck nachlassen.

    Der nächste Schritt war klar.

    Er kopierte das Foto, sendete es an sein eigenes Mobiltelefon und leitete die Mail samt Anhang an George weiter. George hatte Möglichkeiten.

    Elijah schloss die Augen. Sein Puls schlug hart gegen die Lider.

    Amelie Bennett.

    Wie konnte das sein?

    Und wer hat ihm das Foto geschickt? Und wer hat das Foto gemacht?

    „Kaffee?"

    Elijah öffnete die Augen in derselben Sekunde, in der sein Daumen und Mittelfinger Alt-Tab drückten. Die Mail verschwand vom Bildschirm, der Bericht erschien.

    Er drehte sich um. „Aus deiner Maschine? Nein, danke."

    Jo kam näher. Lässig, geschmeidig, wie sie das konnte mit ihrem yogatrainierten Körper, in ihrer Designerjeans mit Rissen über den Knien, die weiße Bluse drei Knöpfe offen und locker über den Bund hängend. Er mochte Jo. Sie war tüchtig und schlau, er arbeitete gerne mit ihr zusammen. Aber den Kaffee aus ihrer Maschine mochte er nicht.

    Er war zufrieden über seine schnelle Reaktion an der Tastatur, aber verwirrt über seine Motive. Warum hatte er die Mail weggedrückt? Er sollte sie Jo zeigen, das ging sie schließlich genauso an.

    „Ich dachte, wir hätten das hinter uns, sagte Jo, eine blonde Strähne aus ihrem Gesicht wischend. „Mein Kaffee ist nicht schlechter als deiner, schon vergessen? Sie bekam keine Antwort und sagte, „Aber ich sehe, du hast schon."

    Jo spielte auf diesen Test vor ein paar Wochen an, Blindverkostung mit den Kollegen, ihr Kaffee gegen seinen, fast professionell mit frisch gespülten Bechern. Drei Kollegen hatten sich für seinen Kaffee entschieden, die Bohnen frisch gemahlen und mit heißem, aber nicht mehr kochenden Wasser aufgegossen und langsam durch seine French Press gedrückt. Aroma, Aussehen, Geschmack, alles besser. Aber aus unerfindlichen Gründen hatten die anderen drei Jos Kaffee für besser befunden, teures Pulver per Knopfdruck aus kleinen goldenen Kapseln gepresst. Er hatte Betrug gewittert.

    Elijah nickte. „Uh-huh."

    Jo beugte sich über seine Schulter. Das Gebräu in ihrer Hand roch nicht übel und ihm wurde bewusst, dass er seit einer halben Stunde vor der Mail saß und sein Becher ebenso lange leer war.

    „Geyoutubed? Sie nahm seinen Notizblock. „Ist das ein Wort? Gesimst, getwittert, hab ich beides schon gehört. Aber geyoutubed?

    „Wenn getwittert ein Wort ist, dann auch geyoutubed, sagte Elijah. „Oder?

    Jo legte den Block zurück und sagte, „Und an was arbeitest du sonst noch?"

    „Mein Bericht von heute Morgen. Er sagte, „Ich schick ihn dir dann rüber.

    Nach nebenan in ihr Büro, meinte er damit.

    Aber vielleicht verstand Jo seinen Wink nicht oder sie ignorierte ihn, jedenfalls blieb sie stehen und sagte, „Hör mal, ist alles in Ordnung? Du bist so ..."

    Elijah nahm seinen Becher und stand mit einem Ruck auf, die Rollen kratzten über den Boden. „Du bist so ... Was?"

    Jo machte einen Schritt zur Seite. „Munter plötzlich. Und vorher ... ein bisserl patzig."

    „Ich bin nicht patzig, sagte er, „ich hab nur viel zu erledigen. Der Bericht und noch ein paar andere Sachen.

    „Was? Plätzchen backen?"

    „Hat nichts mit dir zu tun, Jo. Wolltest du etwas Bestimmtes oder nur Kaffee?"

    Jo umklammerte ihren Becher jetzt mit allen zehn starken Fingern.

    „Ja, da ist etwas, sagte sie. „Ich habe eine Mail bekommen. Die solltest du dir ansehen.

    3

    Eine Tür weiter in ihrem Büro, Jo drückte auf die Tastatur und ihr Bildschirm sprang an.

    Absender: Polizei Rheinland-Pfalz. An: Johanna König BKA. Betreff: Todesanzeige A.B.

    Text: Sehr geehrte Frau König, unseren Akten nach haben Sie seiner Zeit auch an diesem Fall gearbeitet. Sollten Sie dazu Fragen haben – und ich bin sicher, Sie werden Fragen haben – dann wenden Sie sich bitte direkt an mich. Mit kollegialen Grüßen.

    Unterschrieben mit Jankowsky.

    Unseren Akten nach, sagte Jo. „So ein Arsch.

    Elijah nickte. Richard Jankowsky, der damalige Leiter der Soko Amelie Bennett. Jankowsky würde sich genauso gut an Jo und Elijah erinnern, wie sie sich an ihn erinnerten. Nach zwei Jahren? Und an den Spitznamen, den Elijah ihm gegeben hatte, würde sich Jankowsky auch erinnern.

    „Was will der Blindgänger von dir?", sagte Elijah, aber irgendwie hörte es sich nicht mehr so lustig an wie damals. Und natürlich kannte Elijah die Antwort bereits.

    Todesanzeige A.B.

    Jo sagte, „Jankowsky war damals vielleicht ein Blindgänger, heute aber vermutlich nicht mehr. Kann doch nicht sein, oder? Ein Arsch ist er aber immer noch, manche Dinge ändern sich offenbar nicht. Sie sagte, „Ich zeig dir, was er von mir will.

    Sie öffnete den Anhang.

    „Anzeige aus der örtlichen Zeitung, sagte Jo. „Sie haben Amelie gefunden. Im ersten Augenblick war ich erleichtert. Ich meine, die armen Eltern, vor allem die Frau Bennett, die war immer so nett. Und stark war sie, für ihren Mann mit. Jetzt haben sie endlich Gewissheit und können einen Schlussstrich ziehen und ihre Tochter beerdigen. Ungewissheit ist schlimmer als alles andere, oder? Aber dann habe ich die Daten gesehen. Geburtsdatum ist klar, aber hier, das Todesdatum? Ihr Zeigefinger deutete auf die Stelle. „Der vergangene dritte Februar. Das ist neun Tage her. Das heißt, Amelie war doch nicht tot, wie wir damals gedacht haben, sondern sie hat noch gelebt. Zwei Jahre."

    „A.B., sagte Elijah. „Jankowsky kann aus Scham nicht einmal mehr ihren Namen schreiben.

    Amelie verschwand damals, ohne Spuren zu hinterlassen. Entführt, waren die Eltern überzeugt; aus Trier weggelaufen, weil es mit ihrem Freund auseinander gegangen war und ihre Eltern kein Verständnis für ihren Kummer hatten, glaubten Elijah und Jo. Teenagerprobleme eben, nichts Besonderes. Und, nein, es hat definitiv nichts mit den beiden anderen verschwunden Mädchen zu tun, also beruhigen Sie sich, Amelie wird wieder auftauchen.

    Amelie war nicht wieder aufgetaucht, dafür aber ihr Shirt auf einer Wiese in einem Park, am Rande der Stadt, ein paar Wochen später. In dem Shirt und im Boden darunter so viel Blut, dass es unmöglich war, den Blutverlust zu überleben, hatte die Kriminaltechnikerin gesagt. Unmöglich? Na ja, wie viel Blut das genau ist, kann ich natürlich nicht sagen, Herr Leblanc, das liegt hier schon eine Weile, zunächst muss ich den Boden abtragen, danach werden wirs genauer wissen, aber es sieht nach sehr viel aus. Also doch nicht unmöglich? Sehr unwahrscheinlich, sag ich mal, Genaueres eben erst später, wenn ich jetzt bitte meine Arbeit machen dürfte?

    Dann hatte sie eine Plastikfolie ausgebreitet und angefangen zu graben, und Elijah hatte den Mund gehalten. Schließlich konnte sie ja auch nichts dafür.

    Amelies Leiche wurde nie gefunden. Trotzdem war die vierköpfige Soko um Jankowsky überzeugt, dass Amelie nicht mehr lebte. Da es gute Hinweise für aber keine Beweise gegen diese These gab und weil Elijah nicht zur Mordkommission gehörte und der Fall gar nicht seiner war und er ohnehin so schnell wie möglich wieder aus Trier verschwinden wollte, hatte er nicht widersprochen. Amelie Bennett galt damit als tot. Natürlich nicht offiziell, aber die Soko ließ fortan die Arbeit ruhen.

    Wir sollen uns also beruhigen, Herr Leblanc, hatte ihre Mutter gesagt.

    Jo sah ihn immer noch an.

    Elijah erwähnte nicht, dass nur die Soko an Amelies Tod geglaubt hatte, nicht er und sagte, „Wieso jetzt?"

    „Weil dort der dritte Februar steht? Außerdem habe ich bereits mit Jankowsky telefoniert und er hat mir das bestätigt. Die Gerichtsmedizin ist zu diesem Todeszeitpunkt gekommen. Amelie ist erst vor gut einer Woche gestorben. Sie sagte, „Jankowsky hat das genossen. Wusste ich doch, dass Sie anrufen, Frau König, hat er gesagt. Natürlich in seiner Sprache, Wusst ich doch, dat Se anrufen, Frau Könich. Und: Wat macht denn unser Kauboy so? Sie sagte, „Ich denke, er meinte dich."

    „Das war nicht schlecht, sagte Elijah. „Aber, ich zweifle das Todesdatum nicht an. Was ich meinte, warum wurde Amelie gerade jetzt getötet? Er sah ihren Blick und sagte, „Das meinst du doch, wenn du sagst, Amelie ist gestorben – dass sie getötet wurde?"

    Jo schüttelte den Kopf. „Uh-unh, das meine ich nicht, sagte sie. „Und vor allem meinte Jankowsky das nicht. Als Todesursache hat die Gerichtsmedizin Frankfurt eine Überdosis bestimmt. Heroin.

    „Überdosis?, und als Jo nickte, „Wieso Frankfurt?

    „Weil Amelie in Frankfurt gefunden wurde. Jo atmete ein und aus. „Auf dem Straßenstrich.

    Beide waren still.

    Elijah setzte sich, langsam und schwer. „Unser Frankfurt oder das andere?"

    „Unseres. Amelie haben sie im Bahnhofsviertel gefunden. Sagt Jankowsky."

    Sein Blick wanderte. Als er aus den USA zurückkam, machten sie Elijah zum Stellvertreter von Rolf und gaben ihm sein eigenes Büro, weshalb Jo seitdem ebenfalls in ihrem eigenen Büro saß, allein. Worüber sie sich, glaubte er, nicht sonderlich freute. Jo war der eher soziale Typ.

    Aber sie hatte etwas aus ihrem Zimmer gemacht. Hier war es viel freundlicher als bei ihm. Bilder mit Farbe an den Wänden, Blumentöpfe auf der Fensterbank und auf dem Boden davor, eine Sitzecke mit Tisch in der Ecke, die Polster in dunklem Blau und die Kissen in Gelb. Auf einem Regal weitere Blumentöpfe und ein halbes Dutzend Tassen und Untertassen, falls jemand einen Kaffee wollte. Wer zu Elijah kam, musste seine Tasse und seinen Kaffee selbst mitbringen. So machte Elijah jedem deutlich, welchen Wert er auf Gesellschaft legte.

    An dem grauen Linoleumboden hatte aber auch Jo nichts ändern können. Genauso wenig an Amelies Schicksal.

    Straßenstrich.

    Er sagte, „Hat Jankowsky bereits eine Ahnung, wo Amelie in den vergangenen zwei Jahren war? In Frankfurt die ganze Zeit?"

    „Davon geht er aus."

    „Davon geht er aus?"

    „Er hätte die Ermittlungen wieder aufgenommen, und im Moment ginge er davon aus, dass sich Amelie ausschließlich in Frankfurt aufgehalten hat. Jo sagte, „Seiner Meinung nach ist Amelie weggelaufen, genau wie die beiden anderen Mädchen damals. Nur, dass die anderen nach Mainz und Hamburg sind und schnell aufgegriffen wurden, während Amelie in Frankfurt landete.

    Elijah schwieg dazu.

    „Ich weiß, das hast du damals schon gedacht. Jo sagte, „Die Beerdigung ist morgen. Einer von uns sollte hinfahren.

    „Da steht, Familie und Freunde. Da steht nichts davon, wenn die Versager vom BKA dazukommen möchten, sind sie ebenfalls herzlich eingeladen."

    „Wir haben nicht versagt, Elijah. Es gab keine Leiche. Es gab keinen Tatort. Wir haben ja noch nicht einmal ermittelt. Jankowsky hätte uns gar nicht anfordern dürfen, hat es aber trotzdem getan. Unser Fehler war, wir haben uns von ihm bequatschen lassen und sind runter nach Trier gefahren. Weil er Angst hatte."

    Angst vor einem Serientäter, hatte Jankowsky am Telefon gesagt, Können Sie sich das nicht doch einmal ansehen, Herr Leblanc? Und dann, als sie in Trier waren: „Ich han Angst, dat uns so ein Serientyp alle Mädcha wegklaut." Elijah hätte ihm dafür beinahe eine reingehauen.

    Jo sagte, „Und du hast früh erkannt, dass kein Serientäter am Werk war, dass die beiden anderen Mädchen nicht entführt wurden sondern weggelaufen sind. Und bei Amelie schien das auch so gewesen zu sein. Sie sagte, „Hör zu, ich kann verstehen, wenn du nicht zur Beerdigung-

    „Ich fahre", sagte Elijah.

    „Du hasst Trier."

    „Ich fahre hin."

    „Und dann lebt auch noch dein Vater dort."

    „Erzeuger."

    „Ehrlich, Elijah, es ist kein Problem, ich kann-"

    „Jo, ich fahre!"

    „Gut, dann. Sie sagte, „Das war kein Fall für uns, Elijah. Nie gewesen. Das hätte Jankowsky selbst lösen müssen. Es gibt hier keine Serie. Gab es nie.

    „Wir waren vor Ort", sagte Elijah.

    „Ja, das waren wir. Aber Amelies Tod ist nicht unsere Schuld. Jankowsky hat ermittelt, nicht wir."

    Elijah sagte, „Ich muss dir etwas zeigen, Jo."

    Sie gingen zurück in sein Büro. Elijah öffnete die Datei.

    Jo setzte sich auf seinen Stuhl. Sie guckte auf das Foto, guckte ihn an, guckte wieder auf das Foto.

    „Seit wann hast du das?"

    „Halbe Stunde. Ich habs weggedrückt, als du reingekommen bist."

    „Amelie, sagte Jo, „lebend. Von wann ist das Foto?

    Er zuckte mit der Schulter.

    „Amelie sieht alt aus, findest du nicht?, sagte Jo. „Viel älter als auf den letzten Fotos von ihr. Vor ihrem Verschwinden.

    „Das Foto wurde danach gemacht", sagte Elijah.

    „Ja, definitiv. Jo sagte, „Sie sieht nicht nur älter aus als damals, sondern ... Amelie ist jetzt tot. Sie ist nur sechzehn Jahre alt geworden. Auf dem Foto sieht sie aus wie ... mindestens Anfang zwanzig. Wie eine Zwanzigjährige, die nicht viel Schönes erlebt hat. Jo sagte, „Das passt zum Strich und zur Überdosis, nicht? Wer hat dir das geschickt?"

    „Weiß nicht. Yahoo-Adresse. Fuck You Leblanc."

    Jo guckte zu ihm hoch und sagte, „Anonym?, und als er nickte, „Fuck You Leblanc, warum hast du mir das Foto vorhin nicht schon gezeigt? Aber mit einem Lächeln.

    „Weil ich mich erst ... Elijah lehnte sich neben sie gegen den Schreibtisch und widerstand dem Drang, von Jo weg und aus dem Fenster zu gucken. „Ich wollte mich erst einmal alleine damit auseinandersetzen, vielleicht doch einen Fehler gemacht zu haben, was glaubst du?

    „Okay, sagte Jo, „Ist Okay. Dann drückte sie kurz seinen Arm.

    Sein Mobiltelefon vibrierte und er öffnete die Nachricht. „Von George. Ich habe ihm vorhin das Foto gemailt. Wie es aussieht, hat er bereits was für uns."

    „Du hast das Foto George geschickt? Warum?"

    „Was meinst du, warum?"

    „Amelie ist tot. Überdosis. Das Foto von irgendwann vor ihrem Tod, ohne Bedeutung, die anonyme Mail wahrscheinlich von Jankowsky. Sie sagte, „Lass es gehen, Elijah. Wir können nichts mehr für sie tun.

    „Als ich George das Foto geschickt habe, wusste ich noch nicht, dass Amelie tot ist. Erstens. Und zweitens, ich kann nicht einfach so tun, als hätte ich das Foto nicht bekommen. Oder? Er sagte, „Ich leite die Mail auch weiter an die IT, die sollen mal gucken, ob sie den Absender herausfinden.

    Jo atmete durch. „Gut, dann geh zu George und hör dir an, was er zu sagen hat. Aber danach akzeptieren wir, was mit Amelie geschehen ist und ziehen einen Schlussstrich. Okay?"

    „Kommst du nicht mit?"

    „Zu George? Nein, ich habe einen Termin."

    „George ist wichtiger."

    „Du gehst zu George, sagte Jo und stand auf, „und ich zu meinem Termin. Und danach, Elijah, Schlussstrich. Okay?

    4

    Einmal mehr öffnete Elijah jetzt die Tür zu dem Büro von George, dem Endzwanziger mit schief aufsitzender Baseballkappe an der Arbeitsplatte groß wie eine Rittertafel mitten im sonst leeren Raum. Eine Sonderanfertigung, der Schreibtisch, George hatte bei seiner Einstellung darauf bestanden. Als er das erste Mal hier war, hatte Elijah, gerade fünf Jahre USA hinter sich, Georges Namen englisch ausgesprochen, gedacht, der junge Kerl hinter den vier Bildschirmen wäre von drüben und George wäre sein Vorname – Boston Red Socks auf der Kappe, Yale University auf dem weiten Shirt, da konnte man schon darauf kommen.

    Ge-Or-Ge, hatte der ihn verbessert, genau wie der deutsche Schauspieler, wie der Horst Schimanski von der Kripo Duisburg.

    Elijah kannte weder den Schauspieler noch diesen Schimanski, woher sollte er auch einen Duisburger Kripobeamten kennen, und war bei seiner englischen Aussprache geblieben.

    George hatte nichts dagegen. Im Gegenteil.

    Elijah sah George wie immer bananenkrumm vor den Schirmen sitzend mit, wie immer, dieser Musik aus dem Lautsprecher. Gangsta Rap. Hilfe von George hatte eben seinen Preis.

    George guckte nicht hoch als er sagte, „Komm rein Elijah und mach die Tür zu. Es zieht."

    Sein Begrüßungswitz. In Georges Büro konnte es nicht ziehen; es lag im Keller und war ohne Fenster und hatte nur diese eine Tür. Auch darauf hatte er bestanden.

    Aber anders als sonst war George nicht allein. Drei Bundeskriminale in dunklen Anzügen standen herum, als hätte jemand sie abgestellt und dann vergessen. Den mit den grauen Schläfen kannte er, Franz Gielert, früher Zielfahnder und jetzt ranghoch in der Abteilung IK, Internationale Koordinierung. Kümmerte sich um die Verbindungsbeamten in Asien. Die beiden Jüngeren gehörten wohl zu ihm.

    Elijah zog die Tür zu und sagte, „Was macht ihr denn hier?"

    „Uns wurde gesagt, wir sollten dazu kommen", sagte Gielert, und Elijah sah ihn mit seinen massiven Schultern zucken.

    Gielert schien tatsächlich keine Ahnung zu haben, warum er hier war.

    Elijah dachte einen Moment darüber nach, kam zu keinem Ergebnis und ging zu George. „Du hast geschrieben, ihr habt schon etwas gefunden?"

    „Haben wir. Setz dich. Und ... hier."

    Auf dem Bildschirm drehte sich eine Drei-D-Animation langsam um die eigene Achse.

    Elijah sagte, „Ist das von meinem Foto?"

    George nickte. „Das ist der Hintergrund. Hinter dem Mädchen."

    „Amelie", sagte Elijah.

    „Das Mädchen heißt Amelie?"

    „Hieß, George, hieß."

    „Oh."

    Elijah sagte, „Aber hinter Amelie, und zog einen Stuhl heran und setzte sich, „da gab es keinen Hintergrund. Zumindest habe ich nichts von irgendeinem Hintergrund gesehen. Nichtmal mit Lupe.

    „Ich hab auch nichts gesehen, aber meine Trisha hat. Und ganz im Ernst? Dass sie das hier aus deinem Foto herausholt, und so schnell, das grenzt an ein Wunder. Du darfst mich daher ab sofort Genie nennen. Ein Lächeln erschien und verschwand. „Nenn mich nicht Gott, dabei würde ich mich nicht so gut fühlen, meine Oma kocht einmal die Woche für den Pastor. Aber Genie, das wäre in Ordnung.

    Hinter sich hörten sie Lachen, und Elijah sah George zusammenzucken.

    Trotz Baseballkappe und Gangsta Rap und müden Witzen war George Elijahs erster Ansprechpartner, wenn es um Fotos ging. Und das hatte einen einfachen Grund: George lieferte von allen Bildspezialisten des BKA die besten Ergebnisse und, Bonus, er war in seinen jungen Jahren von seinem Beamtenstatus noch nicht verdorben und arbeitete schnell. Und in Elijahs Geschäft kam es auf Schnelligkeit an. George allerdings hatte nie eine Waffe getragen und nie draußen auf der Straße ermittelt, was sich im Laufe der Zeit zu einem Problem für ihn entwickelte. Er hatte begonnen, sich nicht als vollwertigen Bundeskriminalen zu sehen. Und andere, meist jüngere Kollegen, taten das auch, nannten ihn den Computerhansel und den Geek im Keller. Und darunter litt George wie ein Hund. Der Gangsta Rap mochte darin seinen Ursprung haben.

    „Nicht jedem bei uns scheint klar zu sein, was du hier leistet, George, sagte Elijah laut genug für alle. „Aber ich weiß, dass du ein Genie bist.

    „Danke", sagte George leise.

    George drückte dann auf die Maus und die Animation fror ein. „Also, was haben meine Trisha und ich mit deinem Foto angestellt – zunächst haben wir das Mädchen ... Amelie herausgefiltert. Logisch, wir wollten ja zunächst den Hintergrund. Das Gesicht von Amelie vermesse ich, sobald wir hier fertig sind, aber ich brauche natürlich Vergleichsmaterial. Danach haben wir-"

    „George, bitte, sagte Elijah, „Kurzform, ja?

    „Okay, okay, kurz dann. Schade, aber okay. Also, wir haben die Andeutungen neben Amelies Kopf berechnet und zusammengefügt und schließlich ergänzt. Voilà. George sagte, „Kurz genug?

    „Danke, sagte Elijah. „Das alles befand sich also hinter Amelie? Ich meine, zum Zeitpunkt der Aufnahme?

    „Richtig."

    „Das hier ... ist das eine Straße? Elijah zeigte auf den Schirm. „In Frankfurt vielleicht? Bahnhofsviertel?

    „Bahnhofsviertel? Das ist keine Straße, sagte George, „das ist – siehst du das nicht?

    Elijah beugte sich zum Bildschirm und drehte den Kopf. „Eine ... ein ..."

    „Ein Fluss", sagte George.

    „Ein Fluss? Dieser krumme Streifen ist ein Fluss? Was, der Main?"

    „Nicht der Main. Und nicht irgendein Fluss. Wenn ich mit allem anderen Recht habe, dann ist das der Huangpu."

    „Der was?"

    „Der Huangpu. Wenn ich Recht habe, das heißt, wenn Trisha Recht hat ... na ja, meine Pension würde ich dieses Mal nicht darauf verwetten. Es waren eben sehr wenige lesbare Informationen auf dem Foto. Vielleicht wollte der Fotograf nicht, dass vom Hintergrund etwas zu sehen ist. Aber er hats dann doch vermasselt. George sagte, „Hinter dem Fluss, siehst du das? Die Skyline?

    „Diese Striche sind eine Skyline?"

    „Wahrscheinlich. Und wenn es eine Skyline ist, und der Fluss ist der Huangpu, dann ist auch klar, welche Stadt das ist. Denn diese Skyline ist mittlerweile weltbekannt. Na ja, vielleicht nicht in deiner Welt. George sagte, „T’schuldigung, Elijah, aber ich bin etwas aufgedreht, zu viel Tee und dann das hier ... Guck nochmal genau hin.

    Elijah tat genau das, erkannte aber nicht mehr als zuvor.

    Gielert kam heran und legte seinen Arm auf Elijahs Schulter und guckte ebenfalls.

    George drückte auf die Maus, die Musik wurde leiser, und er sagte, „Du weißt also wirklich nicht, wo das ist?"

    „Okay, George, du hast einen Wissensvorsprung. Du weißt etwas, was ich nicht weiß, herzlichen Glückwunsch dazu. Wo ist das?"

    „Mensch, Elijah, du bist wirklich ne Nummer, sagte Gielert. „Die Skyline kennt doch mittlerweile jeder. Hier, sein Fingernagel klackte gegen den Bildschirm, „der neue Turm, wie gedreht, gedrechselt. Das ist der Shanghai Tower. Herr George, oder? Mehrere Hundert Meter hoch das Ding."

    „Sechshundertzweiunddreißig, sagte George. „Ich hab vorhin nachgeguckt. Meter, meine ich. Wow, oder? Innenausbau ist noch nicht ganz fertig, aber dann wirds die für lange Zeit teuerste Adresse in Shanghai. Hab ich auch gelesen.

    Elijah sagte, „Shanghai? Nicht Frankfurt? Bist du sicher?"

    Und einer der Jüngeren hinter ihm sagte auch, „Shanghai?, und dann, „’Ey, Franz, ist nicht diese Emma nach Shanghai gegangen? Emma, die früher bei uns beim IK war, aber vor meiner Zeit? Diese Heiße ... Rote Lockenmähne? Die sogar mal ein Angebot vom Playboy bekommen hat, aber die hat abgesagt?

    Gielert nickte.

    George sagte, „Sicher bin ich sicher."

    Elijah sagte nichts.

    „’Ey, die hatte doch mit einem Typen von der OFA was am Laufen, aber dann hat sie sich lieber einen unserer Personenschützer geschnappt und ist zu dem nach Shanghai. An die Botschaft. Kramer, oder? Ja, die ist jetzt mit dem Kramer zusammen. Playboy-Emma ... du musst dich doch an die erinnern, Franz."

    Gielert drehte sich um und sagte, „Wir wissen, wen du meinst, Hek. Lass jetzt gut sein, okay?"

    „Also, ich kannte die ja nicht wirklich, aber wie die aussah, ’ey, ich hab jedes Mal ne Beule ... wenn die im Flur an mir vorbei ist in ihren Schuhen und ihrer Bluse und mit ihrer Mähne, da konnte meine Hose gar nicht weit genug sein. Ob die naturrot war? Hek grinste. „Bestimmt. Muss schon ein Idiot sein, dieser OFA-Typ, die Emma ziehen zu lassen. Wüsste ja mal gerne, wie es der jetzt so geht. Hek nickte. „Ja, Playboy-Emma. Baby baby baby."

    Und es war still im Raum.

    5

    Elijah stand auf und ging die drei Schritte zu dem Sprecher hin und sah ihn an.

    „Was?", sagte Hek.

    Die Haare kurz und eher blond als braun, das Gesicht glattrasiert, das Grinsen sehr selbstbewusst.

    Elijah sagte, „Wie heißt du?" Lächelnd.

    „Wie ich ...? Hek, weiter grinsend, drehte den Kopf nach den anderen, blickte aber nur in regungslose Gesichter. Er sah zu Elijah hoch. „Hek. Ich heiße Hek.

    „Nein, sagte Elijah, „niemand heißt Hek. Hek ist höchstens ein Akronym, aber kein Name. Wie heißt du wirklich?

    „Akro ... was?"

    „-nym, sagte Elijah. „Wie BKA zum Beispiel. BKA steht für Bundeskriminal-

    „’Ey Mann, was soll das?" Sein Grinsen jetzt verschwunden.

    „Oder OFA. OFA steht für Operative Fallanaly-"

    „Ja, ich kapiers, okay? Akro ... dings."

    Elijah sagte, „Also, wie heißt du wirklich?"

    „Heiner."

    „Heiner? Elijah überlegte. „Ehrlich? Wo kommt denn dann das K her?

    „Von meinem Nachnamen halt. Was wills-"

    „Und wie heißt du mit Nachnamen?"

    „'Ey Mann, was willst du von mir, huh? Ich heiße Keiner. Zufrieden? Keiner."

    „Keiner? Elijah sagte, „Du heißt also ... Heiner Keiner? Du ziehst mich auf. Und zu Gielert, „Der zieht mich auf."

    Gielert schüttelte fast unmerklich den Kopf.

    „'Ey, warum sagst du, dass ich dich aufzieh, huh? Heiner Keiner. So heiß ich. Und jeder nennt mich Hek. Und ich bin bei der IK wie der Franz hier, aber das wirst du dir schon gedacht haben, was? Und du bist ...? Nicht bei der IK, sonst würd ich dich kennen."

    „Schon wieder ein Akronym", sagte Elijah.

    „Das ist Elijah Leblanc", sagte Gielert jetzt.

    Hek sagte, „Ja, und?"

    „Heiner Keiner also, sagte Elijah. „Ganz ehrlich, wenn ich öfter mit dir zu tun hätte, daran müsste ich mich erst gewöhnen. Er sagte, „Also, Heiner Keiner, hast du einen guten Zahnarzt?"

    „Was? Einen guten was?"

    „Keine schwierige Frage, Heiner Keiner."

    „Heiner. Nur Heiner. Oder Hek halt."

    „Heiner. Elijah kam noch nicht davon los. „Sag mal, warum lässt du dich eigentlich Hek nennen, wenn du Heiner heißt?

    Hek sagte, „Kann ich machen, wie ich will, oder?"

    „Ja, warum eigentlich?, sagte Gielert. „Hast du uns auch noch nicht erzählt. Also los. Interessiert uns. Hek.

    „Was soll das jetzt, das sind alte Geschichten. Aber Elijah guckte ihn an und alle anderen auch, und er kam aus der Sache nicht mehr heraus. Er sagte, „In der Schule haben sie immer Heini ... Ich hab gedacht Hek, die ersten beiden Buchstaben von Heiner und der erste von Keiner halt, und dann ist mir aufgefallen, genau wie Heckler, Heckler und Koch mein ich ... ich hab gedacht, hört sich doch cool an.

    „Heckler und Koch?, sagte Elijah und warf einen Blick auf Gielert, der kaum merklich die Schultern hob. „Und was, wenn deine Eltern dich Siegfried genannt hätten? Dann wärst du heute Sig?

    Gielert sagte, „Komm, Elijah, vergiss es. Unser Heiner hier, der kennt dich nicht. Das war alles nur gedankenloses Geplänkel. Heiner ist so jemand, der hat manchmal nur Blödheit im Kopf und lässt das alles ungefiltert raus. Der ist noch nicht so lange bei uns, das wird sich bald ändern. Und zu Hek, „Garantiert.

    Hek sagte, „Nur Blödheit im Kopf? Was soll das denn heißen?"

    „Das erkläre ich dir nachher. Und jetzt hältst du besser einfach nur den Mund."

    „Ach, jetzt willst du mir auch noch das Reden verbieten, oder was oder wie? Huh? Wo sind wir denn hier, in der Schule? Du bist mein Chef, aber du bist auch mein Partner, und Partner verbieten sich nicht gegenseitig den Mund. Und was will dieser Typ überhaupt von mir? Ich hab nur wiedergegeben, was über Emma erzählt wird, Flurfunk halt, sonst nix. Und zu Elijah, „Das geht dich doch nix an, einen Scheiß geht dich an, was ich sage oder wie ich mich nenne. Und für dich ab jetzt Herr Keiner. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Und er ließ den Blick an Elijah heruntergleiten und sein Grinsen kam zurück, „Mit deinen Stiefeln und deinem Hemd, ganz in schwarz, bist du Cowboy, oder was?"

    „Und bist du farbenblind? Meine Boots sind nicht schwarz und meine Jeans sind dunkelblau."

    Gielert gab Hek einen Blick und sagte zu Elijah, „Genau, die Stiefel, ich wollte dich immer schon mal fragen: Schlangenleder?"

    „Klapperschlange, sagte Elijah, und guckte hinunter auf seine Boots mit der Musterung. In den Bergen südlich von Santa Fe waren sie unterwegs gewesen, einem Vergewaltiger und seinem Opfer auf der Spur, einem kleinen Jungen. „Western Diamondback.

    „Klapperschlange, sagte Hek. „Ja, klar, und wahrscheinlich selberst gefangen, was? ’Ey, du bist-

    Gielert sagte, „Selbst gefangen, Elijah, oder hast du die Stiefel fertig gekauft?"

    „Ich musste sie erschießen, sagte Elijah. „Zwei Meter lang. Mein Partner war ihr zu nahe gekommen, ohne es zu merken. Schade um das Tier, aber was sollte ich machen? Er sagte, „In Santa Fe gibts diesen alten Schuhmacher, der ist ein echter Künstler."

    Hek lachte, „Das ist doch Käse", und sah sich wieder um, aber niemand lachte mit.

    „Musst du mir mal in Ruhe erzählen", sagte Gielert.

    „Das glaubt ihr dem doch wohl nicht, Leute?, sagte Hek. „Klapperschlange, selberst gefangen, Santa Fe ... so’n Käse.

    „Dein Deutschlehrer hat bei dir versagt, das steht mal fest, sagte Elijah. „Und du musst einen guten Zahnarzt haben, Heiner. Soll ich dir sagen, woher ich das weiß? Weil du immer noch redest.

    Hek hob einen Arm, um Elijah, wie es aussah, wegzustoßen, „Du hasse doch nicht alle, du-", weiter kam er aber nicht, da war Gielert bereits vor ihn gesprungen, mit dem Rücken zu ihm und im Gesicht ein breites Lächeln für Elijah.

    „Alles in Ordnung, Elijah, Heiner entschuldigt sich und hält jetzt den Mund, versprochen – Du hältst jetzt die Klappe, Heiner! – versprochen, Elijah, okay?"

    Gielert drehte sich um und packte Hek an der Schulter und schob ihn an die Wand neben der Tür. „Beachte uns einfach nicht mehr, Elijah, wir sind so gut wie nicht mehr hier. Besonders Heiner nicht. Und ich komme nachher mal

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