Drachenkind: Ruan: Aus dem Zeitalter des Chydors, Buch 4
Von Antje Marschinke
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Buchvorschau
Drachenkind - Antje Marschinke
Ein Sturm
Magie,
ob schwarz oder weiß,
nur Eine zahlt keinen Preis.
Der Sturm wütete mit einem Zorn und einer Kraft, wie sie Kaufherr Sandez von Trand noch nie erlebt hatte. Verzweifelt klammerte er sich an die Schiffsreling und starrte hoffnungsvoll in den Wind. Er sandte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel.
Warum musste dieser Sturm ausgerechnet jetzt ausbrechen? Gerade auf dieser Fahrt hatte er seine Familie mitgenommen, um sie zum ersten Mal von der Insel Trand ans große Festland zu bringen.
Wie sehr hatten die beiden ihn gedrängt sie mitzunehmen. Und wie sehr hatten sie sich gefreut, als er endlich zugestimmt hatte.
Bei allen Göttern, es wäre so ungerecht, wenn ausgerechnet auf dieser Fahrt etwas passieren würde.
Unruhig warf er einen Blick zu den Kajüten. In einem kleinen Zimmer saßen seine Frau Leona und seine neunjährige Tochter Delia und klammerten sich aneinander. Beide waren zum ersten Mal in ihrem Leben auf dem Meer und standen Todesängste aus.
Ein Warnschrei ertönte, und gleichzeitig hörte Sandez ein fürchterliches Knirschen. Der Mast brach und donnerte mit einem gewaltigen Krachen nach vorne.
Sandez hatte Glück, dass er nicht getroffen wurde, aber zu seinem Entsetzen sah er, dass der Mast auf die Kajüten geschlagen war.
„Nein", schrie er und arbeitete sich durch das Chaos hin zu den Trümmern. Die Matrosen kümmerten sich nicht um ihn. Sie versuchten mit all ihren verbliebenen Kräften das Schiff manövrierfähig zu halten, doch es war unschwer zu erkennen, dass alle Mühen umsonst waren. Besorgt warf der Kapitän einen Blick in den Süden. Der Orkan hatte sie während der letzten Tage immer näher an die Frostwüste getrieben, und es war empfindlich kalt geworden.
Trotzdem, die einzige Möglichkeit zur Rettung bildeten wohl nur die Rettungsboote, da das Schiff leckte und es sich nur noch um eine kurze Zeit handeln konnte bis es sank.
Er gab die entsprechenden Befehle.
Unterdessen wühlte Sandez verzweifelt in den Trümmern und suchte nach seiner Familie. Er bekam gar nicht mit, wie die Beiboote ins Wasser gelassen wurden.
Ein Matrose wurde beauftragt, die überlebenden Passagiere zu holen. Er fand lediglich Sandez, welcher wie wahnsinnig Holzbalken und Trümmer beiseite schleppte.
„Geben Sie auf, schrie der Seemann gegen den Sturm. „Da ist niemand mehr am Leben. Kommen Sie ins Beiboot.
Sandez sah ihn mit glühenden Augen an. „Das sind meine Frau und mein Kind, brüllte er, „Ich glaube erst an ihren Tod, wenn ich ihre Leichen sehe.
„Sie sind verrückt, schrie der Matrose, „wir können nicht auf Sie warten. Die Frostwüste rückt immer näher, und bald wird das Schiff sinken.
Er versuchte Sandez fortzuziehen, aber dieser riss sich los und wandte sich wieder seiner Suche zu.
Der Matrose stieß einen Fluch aus, aber er hatte kein Interesse weiter auf Sandez einzureden. Sollte dieser Kaufherr doch verrecken. Er hatte sein Möglichstes getan. Weiter fluchend eilte er zu den Beibooten.
Sandez ächzte unter dem Gewicht der Trümmer. Erst als die Beiboote schon längst wie verirrte Nussschalen weit fort auf den Wellen tanzten, wurde er fündig.
Das blaue Kleid seiner Frau leuchtete zwischen zwei Balken hervor und spornte ihn erneut an. Keuchend stemmte er das Holz zur Seite und drehte seine Geliebte vorsichtig auf den Rücken.
Sie war tot. Ein Balken hatte ihr das Rückgrat gebrochen und ihre toten blauen Augen starrten ihm voll Entsetzen entgegen.
Unter ihr lag zusammengekauert und bebend die kleine Delia. Ihre Mutter hatte sich schützend über sie geworfen und sie damit wie durch ein Wunder gerettet.
Sandez war schon zu erschöpft, um zu weinen oder gar zu schreien. Innerlich zerriss es ihn, doch er schob mit aller Macht die Trauer beiseite. Zärtlich schloss er mit der Hand die Augen der Toten.
„Leb wohl, Geliebte, Leona, mein Herz", hauchte er. Dann zog er das verängstigte Kind hoch und trug es an Deck.
Das Schiff schlingerte heftig und konnte jeden Moment auseinander brechen.
Sandez drückte Delia an sich und murmelte beruhigende Worte. Dabei ließ er seinen Blick über das Chaos schweifen. Schließlich sah er eine breite Planke. Er raffte mit einer Hand Seilwerk an sich und trug Delia zu dem Brett. Vorsichtig setzte er sie darauf und schnürte das Mädchen fest. Delia sah ihn mit großen blauen Augen an. Sandez kniete sich nieder und blickte ihr ernst ins Gesicht.
„Du musst jetzt tapfer sein, sagte er. „Mutter ist tot, und vielleicht werden auch wir sterben. Aber ich werde alles tun, damit du lebst. Ich werde dich gleich ins Wasser bringen, das muss sein. Doch werde ich so lange wie möglich bei dir bleiben. Hast du verstanden?
Delia nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Du bist ein mutiges Mädchen, murmelte Sandez und streichelte ihr ein letztes Mal durch die blonden Locken, die so sehr den Haaren seiner Frau ähnelten. „Ich liebe dich.
Dann schleifte er das Brett mit Delia zum Bootsrand und stieß es vorsichtig ins Wasser. Glücklicherweise landete es auf der richtigen Seite. Sandez sprang seiner Tochter nach.
Die Kälte raubte ihm den Atem, als er in die Fluten eintauchte. Das Meer war eisig. Sandez versuchte verzweifelt das Brett zu erreichen, welches mit seiner Tochter immer weiter abtrieb.
„Vater", schrie Delia panisch und streckte die Arme nach ihm aus
„Delia", keuchte Sandez und spuckte sofort Salzwasser. Das aufgewühlte eiskalte Wasser schien sämtliche Lebenskräfte aus ihm zu ziehen. Der Kaufherr spürte wie seine Bewegungen immer langsamer wurden.
„Delia, flüsterte er. „Mögen die Götter dich schützen.
Delia schrie, als sie sah wie ihr Vater immer weiter zurückblieb und schließlich versank. Dann raubte das Entsetzen ihr jegliche Sinne.
Sie sah nicht die zarten, durchsichtigen Leiber, die den Körper ihres Vaters tief hinunter zogen, um ihn dort zu seiner letzten Ruhe zu betten. Und sie sah nicht den schwebenden Tanz der Nyrphiden um die zerborstenen Reste des Schiffes. Durchscheinende Augen betrachteten das kleine Mädchen, traurig und mitleidig.
Ein Menschenwesen. - So klein, so allein. - Es wird sterben, so wie die anderen. - Was scheren uns die Erdverbundenen? - So klein, so allein. - Es ist nur ein unbedeutendes Geschöpf. - Nein, es ist anders, fühlt ihr das nicht? - So klein, so allein. - Es braucht Erde. - So viele Tote, lasst es genug sein. - Bringt es zur Erde. - Ja, bringt es nach Süden.
Drachenkind
Als Delia erwachte, schaukelte das Brett langsam auf den Wellen. Das Wasser hatte eine tiefgrüne Farbe und der Himmel war von leuchtendem Blau. Als sie einen Blick nach Süden warf, schloss sie geblendet die Augen.
Vor ihr lag die Küste der Frostwüste in einem strahlenden Weiß. Keuchend stieß Delia den Atem aus, der sich als weiße Wolke erhob und gegen den Himmel schwebte.
„Wie schön", flüsterte Delia. Langsam wurde sie die Küste entlang getrieben und konnte sich kaum an der gleißenden Schönheit satt sehen.
Nachdem sie ihr erstes Staunen überwunden hatte, spürte sie die durchdringende Kälte. Sie trug zwar einen dicken Wintermantel, doch er war nass und schwer und Delia hatte das Gefühl nackt zu sein.
Mit der Kälte kam auch die Erinnerung. Sie schlug sich die Hände vor das Gesicht und wimmerte leise in sich hinein. Immer wieder sah sie den hellen Kopf ihres Vaters in den Wellen und erblickte die gebrochenen Augen ihrer Mutter.
Ein kleiner Ruck stieß sie aus ihrer Verzweiflung. Das kleine Floß war gegen eine Eisplatte gestoßen und lag für kurze Zeit still.
Delia reckte den Hals und erkannte, dass die Eisplatte mit dem Festland verbunden schien. Hastig versuchte sie die Knoten des Seiles zu lösen. Aber das Tau war steifgefroren, und Delia rieb sich die Finger blutig. Verzweifelt merkte sie, wie sie an der Platte vorbeigetrieben wurde. Trotzdem mühte sie sich weiter ab.
Als sie endlich frei war, schwamm sie wieder über eine größere Wasserfläche. Delia unterdrückte ein Weinen.
´Du musst jetzt tapfer sein´, hatte ihr Vager gesagt; und das würde sie sein, das nahm sie sich fest vor. Sie wollte ganz schrecklich tapfer sein.
Doch nicht nur die nagende Kälte war unangenehm. Langsam spürte sie großen Durst, und ein Hungergefühl bohrte sich penetrant in ihre Eingeweide. Es blieb ihr trotzdem nichts anderes übrig, als auf eine weitere günstige Gelegenheit zu warten.
Was sie an Land erwartete, wusste sie nicht. In den Erzählungen, die sie kannte, wurde berichtet, dass keine Menschen in der Frostwüste lebten, und auch Tiere gab es nur wenige. Delia hatte vom gefährlichen Schneetiger und den harmlosen Robben gehört. Auch Vögel fanden keinen Lebensraum hier im Süden. Der Name Frostwüste hatte schon seine Berechtigung.
Delia stellte fest, dass sie immer weiter auf einige Eisberge zugetrieben wurde, doch es dauerte noch eine endlos lange Zeit, bis sie eine weitere Gelegenheit an Land zu springen erhielt. Dabei hielt sie krampfhaft das Seil in den Händen, um mit dem Floß in Verbindung zu bleiben. Sie hatte zu große Angst ins Wasser zu fallen und sich nicht festhalten zu können. Aber sie landete unverletzt auf dem Eis.
Keuchend zog sie das Brett ein Stück hinter sich her. Dann blieb sie stehen und sah sich um.
Vor ihr erhob sich ein riesiger zerklüfteter Berg, welcher aber nicht ausschließlich aus Eis zu bestehen schien.
Delia überlegte, was sie tun sollte. Das dringendste was sie brauchte waren Nahrung und Wärme, und beides schien unerreichbar zu sein. Immerhin konnte sie ihren Durst an dem Schnee und Eis stillen. Doch wie sie hier Nahrung finden konnte, wusste sie nicht.
Schließlich beschloss sie, zuerst die Umgebung zu erkunden. Vorsichtig kletterte sie über ein paar Felsen und begann den Berg zu umrunden. Dabei musste sie die Augen zu kleinen Schlitzen zusammenkneifen, da das Eis die Sonne grell reflektierte. Als sie auf der Landseite des Berges war, verschnaufte sie und blickte nach oben. Ihre Lungen brannten vor Kälte. Plötzlich entdeckte sie eine höher gelegene Stelle in den Felsen. Das war doch eine Höhle!
Aufgeregt fing sie an zu klettern, aber dann stockte sie. Wenn nun Schneetiger darin waren? Und sie hatte gar kein Licht! – Nach kurzem Zögern kletterte sie weiter. Sie hatte keine Wahl. Sie musste einen wärmeren Ort finden, sonst würde sie erfrieren.
Als Delia ihr Ziel erreichte, hielt sie unwillkürlich die Luft an. Das Loch war viel größer, als sie gedacht hatte. Es war riesig. Aber sie konnte nicht weit hinein sehen. Innen war es stockdunkel.
Vorsichtig betrat sie die Höhle und tastete sich in die Dunkelheit hinein. Langsam, sehr langsam gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit, und sie nahm schemenhafte Umrisse wahr. Furchtsam hörte sie auf ein tiefes Pfeifen und Rauschen, das die Höhle erfüllte. Es war sehr laut, aber noch erträglich. Das ist bestimmt der Wind, dachte sie und tastete sich weiter.
Delia stellte fest, dass die Höhle alles andere als geräumig war. Dauernd war sie gezwungen riesigen Felssäulen auszuweichen, und das unheimliche Raunen erfüllte sämtliche Höhlungen.
Schließlich blieb sie vor Angst zitternd stehen. Aller Mut schien aufgebraucht. Das Mädchen erwartete jederzeit, einem Schneetiger in den Rachen zu laufen.
Sei tapfer, dachte sie immer wieder, sei tapfer. Nach ein paar weiteren zaghaften Schritten stieß sie plötzlich gegen etwas Hartes, das raschelnd zur Seite kippte.
Delia blieb wie erstarrt stehen. Doch dann fasste sie sich ein Herz und bückte sich, um den Gegenstand zu ertasten. Es fühlte sich an wie ... wie Holz! Holz! Delia juchzte erfreut auf und schlug sich im gleichen Moment die Hand vor den Mund. War sie verrückt? Wenn hier nun wirklich ein Schneetiger war? Ihr war überhaupt nicht klar, dass, wenn wirklich ein Schneetiger dagewesen wäre, dieser sie schon längst entdeckt hätte.
Schnell stellte sie fest, dass sehr viel Holz den Boden bedeckte. Sie fragte sich nicht, wie es hierher gekommen war. Für sie zählte nur, dass es da war.
Sie trug einen riesigen Stapel zusammen und hockte sich dann vor ihm nieder. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, wie man mit einem Feuerstein Funken schlug. Er war ein weitgereister und erfahrener Mann gewesen, und Delia war ein wissbegieriges Kind, das bereitwillig alles gelernt hatte, was er bereit war zu zeigen.
Jetzt hockte sie vor dem Holzstoß und mühte sich mit steifen Fingern mit ihren kleinen Feuersteinen ab. Sie hatte die Steine vor einiger Zeit geschenkt bekommen und trug sie seitdem immer mit sich herum. Jetzt war sie froh und dankbar darüber.
Endlich gelang es ihr, ein paar kleine Ästchen zum brennen zu bringen, und nach kurzer Zeit fraß sich die Flamme immer weiter den Holzstoß empor.
Delia rückte nahe heran, um sich die Hände zu wärmen. An Schneetiger dachte sie im Moment überhaupt nicht.
Glücklich und stolz starrte sie in die Flammen. Aber sie hatte nicht mit dem restlichen Holz gerechnet, welches weit verstreut in der Höhle lag, und plötzlich sprang das Feuer über.
Delia sah fasziniert zu wie das Feuer sich in der Höhle ausbreitete. Als sie daran dachte, dass es ihr gefährlich werden könnte, war es schon zu spät. Erschrocken stellte sie fest, dass das Feuer ihr den Rückzug abgeschnitten hatte. Die Luft war trocken, heiß und raucherfüllt. Delia hustete und presste ängstlich den Rücken gegen den Felsen. Doch dann erstarrte sie. Der Felsen - er bewegte sich. Langsam, aber gewaltig schien er sich zu heben und zu senken. Delia stieß sich ab und sah an ihm hoch. Er war riesig, wie sie im Feuerschein bemerkte und er war oben gezackt, obwohl er insgesamt rund aber lang gestreckt war. Und da sah sie wie er sich bewegte, so als würde er - atmen.
Delia presste sich die Hand auf den Mund, als sie erkannte, wer vor ihr lag. Sie hatte ihn auf einigen Bildern gesehen, aber er war eine Legende. Schon tausend Jahre sei es her, dass der Letzte der Drachen gesehen wurde hieß es. Delia wich langsam zurück bis sie wieder Felsen im Rücken spürte. Das Feuer umzüngelte den Drachen, welcher offensichtlich im tiefen Schlaf lag.
Plötzlich schrie Delia und sprang wieder vor. Auch der andere Felsen bewegte sich!
Das Mädchen keuchte, es war einer Panik sehr nahe. Vorsichtig sah Delia sich um und durchschritt langsam das Feuer. Voller Angst erkannte sie, dass die Höhle riesengroß war. Das, was sie für Felsen und Korridore gehalten hatte, waren Drachen - lauter Drachen. Und der Wind war ihr Atem.
Der Rauch brannte in ihren Augen und Delia versuchte stolpernd den Ausgang zu erreichen. Irgendwann fiel sie auf die Knie. Als sie sich hoch rappelte und aufsah, erkannte sie, dass sie direkt vor einem riesigen Drachenkopf stand, und genau in diesem Moment öffneten sich langsam die Augen.
„Mutter, Vater, helft mir", flüsterte Delia und wich zurück. Erneut stolperte sie und fiel auf ihr Hinterteil. Dabei verbrannte sie sich die Hand, als sie zum Abstützen auf einen brennenden Zweig fasste. Mit einem Schmerzenslaut riss sie die Hand hoch und lutschte am verbrannten Handballen.
Der Drache hielt seinen Blick unverwandt auf sie gerichtet.
„Tu mir nichts, flüsterte Delia, „bitte tu mir nichts.
Das Drachental
Delia traute sich nicht, sich zu bewegen. Vielleicht würde sie ihn dadurch nur reizen. Ängstlich beobachtete sie die schlitzförmigen Pupillen des Drachen. Nach endlos langer Zeit hob der Drachen den Kopf von den Klauen und blickte sich um.
Delia hätte beschwören können, dass er lautlos lachte, als er die anderen Drachen sah. Schließlich erhob er sich auf die Füße, wodurch er mit seinem Rücken fast an die Höhlendecke stieß.
Delia machte sich ganz klein. Der Drache schien keine Notiz von ihr zu nehmen. Er reckte und streckte sich, und sein Atem