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Nachtkerzen Phantastische Geschichten: Anthologie
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eBook405 Seiten5 Stunden

Nachtkerzen Phantastische Geschichten: Anthologie

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Über dieses E-Book

Meine erste Anthologie entführt den Leser in Welten, in denen alles möglich ist: Beängstigende Natur, dramatische Fluchten, dunkle Träume, geheimnisvolle Märchen und Vorahnungen sowie absonderliche Bräuche ...

Ob gruselig, kafkaesk, actiongeladen, futuristisch oder übernatürlich - die in dieser Anthologie vertretenen Werke sind vor allem eines: originell und erfrischend anders!
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum24. Mai 2020
ISBN9783752955248
Nachtkerzen Phantastische Geschichten: Anthologie

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    Buchvorschau

    Nachtkerzen Phantastische Geschichten - Ruth und andere Boose und andere

    Ruth Boose (Hrsg.)

    Nachtkerzen

    Phantastische Geschichten

    Anthologie

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    Herausgeber, Verlag, Satz und Korrektorat: Ruth Boose, 2020, Berlin // Titelbild: Sandra Meyer // Coverdesign: Royana Helmar // Urheberrechte bei den Autoren

    Druck und Vertrieb: epubli, Service der neopubli GmbH, Berlin

    Kontakt: krangii@aol.com

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Nachtkerzen

    Das Meer

    Der merkwürdige Tod des Herrn Dearden

    4 in einer Erzählung

    „Düstere Dienstverhältnisse"

    Prolog: Das aufziehende Gewitter

    I. Akt: Maschine

    II. Akt: Kummer im Kaufhaus

    III. Akt: Trügerische Affären

    IV. Akt: Heilen Sie mich …!

    V. Akt: Finale

    Jagdzeit

    Seelenleid

    Die Wiege des Todes

    Das Band

    Monster

    Vorahnung

    Der Betzengraben

    Die Familie

    Feuer und Dunkelheit

    Prolog

    Teil 1

    Teil 2

    Teil 3

    Spieglein

    Die guten Bauersleute

    Dunkelblau

    Jessica

    Der letzte Schritt

    Die Trockgi

    1.

    2.

    3.

    Spezies 86216

    Realitätstest

    Der Bestattungsritus

    Über die Autoren

    Danksagung und Ausblick

    Vorwort

    Das Phantastische hat sich im letzten Jahrhundert weiterentwickelt und in sehr unterschiedliche Genres aufgespalten, die ich in meiner ersten Anthologie vorstellen möchte: Horror, Dark Fantasy, Science und Weird fiction.

    Im kommerziellen Verlagswesen ist oftmals kein Platz für Experimente oder Risiken. Dass aber nicht nur Bestseller-Autoren fesselnd schreiben, beweist diese Zusammenstellung von Kurzgeschichten unbekannter Schriftsteller.

    Ob gruselig, kafkaesk, actiongeladen, futuristisch oder übernatürlich, die hier vertretenen Geschichten sind vor allem eines: originell und erfrischend anders!

    Nachtkerzen

    von Gregor Samsa

    T. schlief in jener Zeit unruhig. Es war schon spät, als er endlich erwachte. Befremdet schaute er sich in dem kleinen Raum um. Das Zimmer war in ein merkwürdiges Dämmerlicht getaucht. Seltsam, dachte er, es muss doch schon bald Mittag sein. Vergeblich bemühte er sich, einen klaren Gedanken zu fassen.

    Schlaftrunken erhob er sich und ging ans Fenster, um wie jeden Tag nach den Blumen zu sehen. Es waren Nachtkerzen, die vor seiner Baracke wuchsen. Da der Raum zu ebener Erde lag, reichten die Blüten bis an sein Fensterbrett hinauf.

    T. war wie benommen. Er schlug den Vorhang zurück und blickte hinaus. Wie verwundert war er, als er bemerkte, dass die Blumen über Nacht weit über sein Fenster hinaus gewachsen waren. Er schaute hinauf, aber er konnte keinen Himmel sehen – nur ein Gewirr von Blättern und Blüten.

    Es war ungewöhnlich still. Hier unten herrschte ein unwirkliches Zwielicht. T. schüttelte verständnislos den Kopf. Ihm war jetzt klar, wieso er so lange und unruhig geschlafen hatte. Die Blüten verströmten einen betäubenden Duft.

    Er dachte nicht weiter darüber nach. Er ging in seine behelfsmäßige Küche und kochte sich Malzkaffee. Ihm ging durch den Kopf, was er an diesem Vormittag alles hatte erledigen wollen. Er musste es wohl oder übel auf den Nachmittag verschieben.

    Sein Kaffee war fertig. Er suchte sich einige Brotreste und begann gleich im Stehen zu frühstücken. Nachdenklich schaute er hinaus. Der Sommer schien sich endgültig durchgesetzt zu haben. Es herrschte eine unwahrscheinliche Wärme. Ein Schwirren erfüllte die Luft. Er entdeckte kleine, kolibriartige Vögel, die von Blüte zu Blüte flogen. Er beobachtete eine Weile ihr emsiges und verspieltes Treiben. Er hatte diese Art von Vögeln hier noch nie gesehen. Aber vielleicht lag es nur daran, dass er sich bisher nie besonders für die Natur interessiert hatte.

    Das gleichmäßige Surren wirkte einschläfernd. Er schloss das Fenster und legte sich auf die Pritsche. Eine unüberwindliche Müdigkeit erfasste ihn. Seine Augenlider senkten sich wie unter einem magischen Zwang. Im letzten Moment war es ihm, als beginne die Hütte hin und her zu schwanken. „Mein Gott, was ist bloß geschehen?", dachte er noch, doch schon fiel er in einen schweren traumlosen Schlaf.

    _______________

    Durch ein lautes Klirren erwachte er. Er fuhr hoch und schaute sich um. Die Fensterscheiben hatten dem Druck der Blumen nicht mehr standhalten können und waren zerbrochen. Die Blüten schoben sich weit in sein Zimmer hinein, als wollten sie ganz Besitz von ihm ergreifen. Eine Wolke goldglänzenden Staubes erfüllte für Minuten den Raum und legte sich auf alle Gegenstände.

    Allmählich wurde ihm das Ganze doch zu viel. Die üppige Pracht der Nachtkerzen machte ihn nervös. Unwillig las er die Scherben auf und schüttete sie in den Abfalleimer. Es musste schon spät sein. Wie lange mochte er geschlafen haben? Ihm war jegliches Zeitgefühl abhandengekommen.

    Er beschloss zu handeln. Vieles harrte der Erledigung. Zu viel Zeit hatte er schon versäumt. Er zog sich an und stemmte sich gegen die Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Offenbar standen die Blumen nach dieser Seite der Hütte genauso dicht.

    Einen Moment war er ratlos. Was sollte er nun tun? Er kletterte durch die Luke auf das Dach der Baracke, um einen besseren Überblick zu bekommen. Was er sah, war nicht dazu angetan, seine Befürchtungen zu zerstreuen. Die Nachtkerzen waren über der Hütte zusammengewachsen und bildeten so ein Gewölbe. Es war nicht abzusehen, wie hoch die Pflanzen gewuchert waren.

    Für einen Augenblick dachte er daran, sich durch dieses Dickicht hindurchzukämpfen, aber sofort sah er die Unmöglichkeit des Gedankens ein. Die Nachtkerzen standen so dicht, dass kein Durchkommen zu erzwingen war. Er hätte in diesem grünen Durcheinander auch sofort die Orientierung verloren.

    Er war gefangen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie gut es war, dass er sich für alle Fälle einen kleinen Lebensmittelvorrat angelegt hatte. Auch der Wassertank auf dem Dach war ausreichend gefüllt und würde ihn nicht verdursten lassen. Er war für eine längere Belagerung gerüstet. Das Einzige, was ihn ärgerte, war der Umstand, dass er jetzt keine Besuche mehr empfangen konnte. Aber dafür war er auch ausreichend vor Überfällen geschützt, die sich in der letzten Zeit gemehrt hatten. So konnte er in aller Ruhe die weitere Entwicklung abwarten.

    Und doch war ihm das rasche Wachstum der Blumen irgendwie unheimlich. Er hatte wenig Ahnung von Biologie, aber noch nie hatte er gehört, dass Pflanzen derartig in die Höhe schießen können. Wie war das möglich? Zuerst waren die Nachtkerzen auf den Schutthügeln in der zerstörten Fabrik aufgetaucht. Lange hatten sie sich dort unbeobachtet vermehrt, bis sie sich eines Tages weiter ausbreiteten, über den Weg hinweg auf seine Hütte zukamen und diese immer mehr einkreisten, ohne allerdings irgendwelche Zeichen abnormen Wachstums zu zeigen.

    Er schaute auf die riesigen Pflanzen, die harmlos dastanden – schweigend und undurchdringlich. Welches Rätsel verbarg sich hinter dieser Üppigkeit? Was hatte dieses ausgefallene Emporstreben zu bedeuten? Er vermochte nicht, sich einen Reim auf die Ereignisse der letzten Stunden zu machen. Stumm betrachtete er die großen Blätter. Er entdeckte große, nie gesehene Käfer, welche die Stiele entlangkrochen. Sie hatten bunt schillernde Flügel, die ihre blauschwarzen Körper bedeckten. Die dicken Stängel zitterten leise. Weiter oben schien ein heftiger Wind zu gehen – hier unten war nichts zu spüren als die drückende Hitze.

    _______________

    Die Blumen wuchsen unaufhörlich. Nachts hörte er deutlich das ständige Schlurfen und Schleifen an seiner Barackenwand. Die eine Seite war schon stark eingedrückt, und durch das Fenster ragten die Blüten bis über seine Liege. Es kam oft vor, dass er nachts erwachte, weil ein riesiger Käfer ihm auf die Nase fiel.

    Hier unten wurde es von Tag zu Tag dunkler. Kaum ein Lichtstrahl verirrte sich noch in diese Tiefen. Nicht selten fuhr er aus dem Schlaf, weil unheimliche Geräusche aus dem Gestrüpp ertönten, und mehr als einmal erschreckten ihn ein paar glühende Augen, die ihn aus der Dunkelheit anstarrten.

    Einmal glaubte er, deutliche Rufe zu hören. Er schrie in die Finsternis, aber das Dickicht verschluckte jeden Laut. Am nächsten Tag sah er ein Skelett in den Blumen hängen. Auf den Blättern wurde es nach oben getragen.

    Zwei Tage grinste sein weißes Gesicht zum Fenster herein, dann war es seinen Blicken entschwunden. Wer war dieser Mensch? War er der Rufer in der Nacht? War er in der Wildnis umgekommen, oder hatte ihn das wahnsinnige Wachstum der Pflanzen aus der Erde gerissen?

    T. überlegte, ob er sich nicht auch so in die Höhe tragen lassen sollte, der heißen Sonne entgegen. Aber wer weiß, wie lange er dann im Ungewissen schwebte, so wie das Skelett über seiner Hütte. Außerdem wusste er jetzt, dass es da draußen gewisse Gefahren gab, denen er sich nicht leichtsinnig aussetzen wollte.

    Seine kleine Hütte war im Moment das Einzige, was ihm noch einen gewissen Schutz bot vor der Bedrohung einer Umwelt, die er nicht mehr verstand.

    _______________

    Ich kann mich in meiner Behausung kaum noch bewegen. Das Dach ist völlig zerdrückt. Die Wände sind wie bei einem Zelt gegeneinander geneigt. Gestern haben die ersten Blumen den Fußboden durchbrochen. Und da erst merkte ich, dass ich keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, dass die Baracke längst irgendwo in der Höhe schwebte, emporgetragen von den meterlangen Blättern.

    Die Entdeckung wirkte vernichtend auf mich. Wie soll jetzt noch Rettung möglich sein? Während ich mich in relativer Sicherheit wähnte, bin ich unbemerkt in eine Lage gebracht worden, in der die Vernichtung meiner Existenz zur Unvermeidlichkeit wurde.

    Es ist fast finster, obwohl doch meine Hütte – eingeklemmt zwischen den dicht stehenden Stängeln – stündlich höher getragen wird. Gigantische Glühwürmchen huschen zwischen den Blättern hindurch, und die gelben Blüten scheinen zu leuchten.

    Ich steige ohne mein Dazutun. Ich werde höher gedrückt von den ungestüm nachdrängenden Pflanzen. Je höher ich steige, umso undurchdringlicher wird das Dickicht. Je höher ich dringe, umso mehr fehlt mir die Luft zum Atmen. Mein beschränkter Freiraum wird immer mehr eingeengt. Statt Licht und Weite umgeben mich Finsternis und Isolation.

    Mein Aufstieg führt mich in unbekannte Regionen. Je höher ich komme, umso lebensfeindlicher wird die Umwelt für mich. Nicht, weil die Pflanzen es auf mich persönlich abgesehen hätten. Vielmehr bin ich selbst in ihrem Bereich ein Fremdkörper, der stört.

    Wie könnte ich mich ihrem stürmischen Wachstum entziehen, ihrem blinden, zielgerichteten Drängen, das alles, was ihrem Streben nach oben im Wege ist, zu Tode drückt? Ich muss aussteigen und weiß nicht, wie. Mein Weg nach oben ist ein Weg, an dem ich zugrunde gehen muss.

    Verzweifelt starre ich in das eng verschlungene Gewirr der Pflanzen. Woher schöpfen sie ihre Kraft? Ich könnte einzelne Pflanzen kappen. Doch sofort würden andere ihre Stelle einnehmen, sofort würde der frei gewordene Platz die nachdrängenden Blumen umso üppiger in die Höhe schießen lassen.

    Ich kann ihrer Welt nicht entfliehen, sie sind überall. Ich muss kämpfen und weiß nicht, wie. Allein bin ich zu schwach. Kann ich auf Hilfe von außen rechnen?

    Vor meinem Fenster hängt ein seltsames Wesen. Es ist eine Art Katze – nur viel größer. Die Pflanzenstiele haben sich um ihren Hals geschlungen und sie erwürgt. Kleine grüne Käfer kleben auf der Zunge. Der Rachen mit den Reißzähnen ist weit aufgerissen – eine Blüte ist direkt durch den Schlund hindurchgewachsen und schaut aus dem Maul des Raubtieres heraus – ein Zeichen des Triumphes der Blumen, die keine Konkurrenz dulden.

    Aber kann diese üppige Welt ohne Feinde bleiben? Schrecklich müssen sie sein, die Wesen, welche kommen werden, das Bestehende zu zerstören, diese Welt der dumpfen Enge niederzureißen, deren erdrückende Macht zu beseitigen mit Stumpf und Stiel. Ich vertraue mein Schicksal den Kräften der Zerstörung an. Ich fürchte sie und sehne mich in den Nächten nach ihnen. Angst ist besser als Resignation.

    Und eines Tages, als ich erwachte, war es so weit. Große scheußliche Monster starrten durch mein zerbrochenes Fenster herein.

    Es waren eine Art Riesenheuschrecken, die mit rasender Geschwindigkeit die Blätter der Blumen fraßen. Grässlich klang es, wenn ihre Gebisse zusammenschnappten. Eine bunte Blüte nach der anderen verschwand in ihren nimmersatten Mäulern.

    Und es wurde sichtbar heller mit jedem Tag. Und ich begann, an meine Rettung zu glauben. Meine ganze Hoffnung lag jetzt in der Fressgier dieser Untiere.

    Wo kamen sie in diesen Massen her? Sie saßen vor meinem Fenster und fraßen, während sie mit unbeweglichen Gesichtern zu mir hereinstarrten – eine Schar grüner Teufel aus einer unbegreiflichen Unterwelt.

    _______________

    Es ist alles O. K. Meine Hütte kam einige Hundert Meter vom alten Standpunkt entfernt wieder zu Boden und landete sanft auf vertrockneten Pflanzenresten.

    Als alle Blumen ratzekahl weggefressen waren, erhob sich der Heuschreckenschwarm und flog mit unbekanntem Ziel davon. Die müde Herbstsonne scheint wieder über der dürren Erde. Die Ruinen der Stadt stehen wie zuvor.

    Ich habe meine Hütte ausgebessert. Täglich kommen wieder Gäste in mein Heim. Wir versuchen, die Zeit zu genießen, soweit wir es mit unseren bescheidenen Mitteln vermögen. Das Leben geht seinen gewohnten Gang. Doch wie aus einer rätselhaften Scheu heraus spricht niemand über das Vorgefallene.

    Denn trotz unserer Rettung bleibt das unbehagliche Gefühl, dass nicht wir selbst es waren, welche die Mittel zu unserer Befreiung fanden. Es könnte jederzeit wieder über uns kommen, zweimal, viermal, zehnmal – und jedes Mal wären wir genauso hilflos wie beim ersten Mal.

    Diese Erkenntnis ist es, die uns lähmt und uns Zuflucht nehmen lässt in Feiern, in denen wir die Furcht vor unserer Ohnmacht zu vergessen suchen.

    Das Meer

    von Gregor Samsa

    Mittag war vorüber. Die Schatten krochen wieder unter den Häusern hervor und glitten die Fassaden hinauf gleich feuchten schwarzen Polypen. Einsam ging ich durch die menschenleeren Straßen. Die blinden Fenster schauten trostlos auf mich herab, sodass ich für Sekunden glaubte, die Stadt sei ausgestorben, leergefegt durch eine unheimliche Seuche, die alle Bewohner dahingerafft hat.

    Ich bin auf der Flucht. Ich muss die Adresse aufsuchen, die mir die Organisation genannt hat, damit ich mithilfe des Verbindungsmannes über das Meer entkommen kann.

    Immer tiefer dringe ich ein in das Gewirr enger winkliger Gassen, die den Blick in die Ferne verwehren. Hohl schallt das Echo meiner Tritte auf dem holprigen Pflaster. Hoch über mir kreist eine Möwe. Ihre heiseren Schreie stehen unsichtbar in der Luft.

    Ich durchschreite dunkle Toreinfahrten und winzige Höfe. Modriger Geruch wie von faulendem Tang schlägt mir entgegen. Die schmutzigen windschiefen Fassaden wirken bedrohlich in dem gespenstischen Mittagslicht. Was verbergen sie hinter den vernagelten Fenstern? Wer versteckt sich hier in dieser Geisterstadt, wo die Zeit scheinbar stillsteht und das Vergessen aus feuchten Kellern emporsteigt und die Einwohner lebend begräbt? Mir ist, als müsste sich jeden Augenblick eine Tür auftun, ein dürrer Arm nach mir greifen und mich für immer in die Finsternis sterbender Gemäuer reißen.

    Ich bleibe stehen, halte den Atem an und lausche. Nichts regt sich. Die Häuser schweigen. Müde flattert vergilbte Wäsche auf den niedrigen Dächern. Irgendwo in der Ferne weint ein Kind. Ich vernehme auf einmal mein Herzklopfen. Unwillkürlich drücke ich mich in den Schatten der Haustür.

    Ich gehe eine steile, halbverfaulte Holztreppe hinauf. Das Geländer fehlt. Laut knarren die Stufen wie der gequälte Aufschrei eines unsichtbaren Wesens. Ich steige bis unters Dach und klopfe. Alles wirkt verfallen. Ich kann noch immer nicht recht glauben, dass hier Menschen hausen. Da vernehme ich vorsichtige Schritte. Die Tür öffnet sich eine Handbreit, ein misstrauisches Gesicht schiebt sich in den Spalt. Ich sage das Kennwort. Der andere zögert einen Moment, dann lässt er mich eintreten.

    Er führt mich durch einen dunklen Korridor in ein kleines Zimmer. Altmodische Möbel stehen umher. Der Putz an den Wänden ist teilweise schon abgebröckelt. Auf allem liegt eine Staubschicht, so als wäre der Raum seit Langem nicht mehr benutzt worden.

    Ein ungutes Gefühl ergreift mich; irgendetwas stört mich. Dieser vierzigjährige Mann mit den sorgfältig gekämmten Haaren und dem aalglatten Gesicht passt nicht in diese Umgebung. Sein schäbiger Anzug wirkt künstlich wie ein schlechtes Theaterkostüm. Ob ich ihm trauen kann? Was bleibt mir anderes übrig. Allein kann ich es nicht schaffen, ich bin auf Hilfe angewiesen.

    „Was wünschen Sie?"

    „Ich brauche ein Boot. Ich muss übers Meer."

    Schweigen.

    Es ist nicht zu erkennen, was hinter seinem Gesicht vorgeht.

    „Seien Sie in einer Stunde in dem kleinen Fischerdorf, das am Straßenrand liegt. Ich will sehen, was ich tun kann."

    Ein gleichgültiges Lächeln entblößt seine Goldzähne. Er schiebt mich zur Tür hinaus, von der die letzten Reste Farbe abblättern.

    Ich bin froh, wieder draußen zu sein. Rasch steige ich die steile, halsbrecherische Treppe hinunter und trete ins Freie. Die Sonne ist verschwunden. Doch ist keine Wolke zu sehen. Vielmehr ist es ein allgemeiner Dunst, der sich am ganzen Himmel ausgebreitet hat. Ich atme auf, als ich das düstere Viertel hinter mir gelassen habe.

    In der Luft kreischen die Möwen. Ich biege um eine Straßenecke und erblicke das Meer. Und plötzlich bricht die Sonne wieder durch und glitzert tausendfach auf den Wellen. Eine nie gekannte Sehnsucht schleicht sich in mein Herz. Ich wusste nicht, dass ich für solch tiefe Gefühle noch empfänglich bin. Das ständig gefährliche Leben stumpft ja so ab.

    Ich gehe am Leuchtturm vorbei. Eine frische Brise weht. Die Seeluft schmeckt salzig. Fern am Horizont glaube ich Land zu erblicken, doch es kann auch eine Wolkenbank sein. Das Wasser leuchtet in unwirklichem Blau. Das freie Meer, wie ich es liebe! Auf einmal ist es meine Rettung geworden. Ich möchte am liebsten sofort das Land verlassen und nach Süden über das Meer ziehen. Wenn es doch schon bald Nacht wäre!

    Langsam gehe ich am Strand entlang. Die Wellen rühren mein Gemüt auf und sind doch zugleich so beruhigend. Auf einmal bin ich sicher, dass alles klappen wird. Immer wieder schaue ich hinaus auf die unbegrenzte Wasserfläche. Die Brandung schlägt ans Ufer im Rhythmus zu einer ewigen Melodie. Alles Unbedeutende versinkt. Der Blick erfasst das Ganze und wird nicht abgelenkt von Einzelheiten.

    Ich bin glücklich. Alles Bedrückende habe ich hinter mir gelassen. Morgen schon werde ich weit weg sein in einem fernen Land, wo alles Unschöne nur noch undeutliche Erinnerung ist. Ich hebe einen Stein auf und werfe ihn in weitem Bogen ins bewegte Wasser. Die Schaumkämme der Wellen verschlucken ihn ohne Spur.

    Es ist Zeit zu handeln. Zuversichtlich gehe ich auf das kleine Dorf zu, wo sich die Fischerhütten in den Windschatten der zerzausten Bäume ducken. Einige struppige Hunde streunen ziellos zwischen den Behausungen umher. Langsam gehe ich die staubige Straße entlang. Schon von Weitem entdecke ich vor einem abseits stehenden Häuschen meinen Verbindungsmann mit einer jungen Frau. Als er mich kommen sieht, geht er mir wie zufällig entgegen.

    „Sie haben Glück. Es hat geklappt", zischt er mir im Vorübergehen zu.

    Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwand er.

    Gelassen schritt ich auf das Mädchen zu. Erwartungsvoll schaute sie mich an.

    „Sie brauchen ein Boot?"

    Ich nickte.

    „Sie können unseres haben. Mein Großvater ist blind. Er kann nicht mehr fischen fahren. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo es festgemacht ist."

    Leichten Schrittes ging sie voran. Sie war noch jung. Sie mochte höchstens sechzehn sein. Was bewog sie, mir, einem völlig Fremden, zu helfen? Sicher, sie brauchten es nicht mehr, doch bestimmt hätten sie es verkaufen können.

    In einer kleinen Bucht lag es angekettet im Schatten alter Bäume. Meine Rettung. Ich betrachtete es stumm. Warum freute ich mich nicht? Was war das für ein Gefühl, das mir fast den Hals zuschnürte? Erst jetzt, wo ich das Boot vor mir sah, kam mir zum Bewusstsein, was ich alles verlassen würde.

    Das Mädchen stand hinter mir.

    „Sie werden verfolgt? Wo wollen Sie bleiben, bis es Nacht wird?"

    Ich schaue sie an. Sie ist schön.

    „Wie heißt du?"

    „Ich heiße Brigitte. Und du?"

    „Mein Name spielt keine Rolle."

    Wir schweigen eine Weile.

    „Komm zu uns nach Hause! Dort kannst du bleiben, bis es dunkel wird."

    In ihren Augen ist ein unaussprechliches Leuchten, dem ich nicht widerstehen kann.

    Sie führt mich in ihre kleine Hütte. Ich schaue mich um. Überall hängen Netze und andere Fischereiutensilien. Eine Petroleumlampe hängt an der niedrigen Decke. Am Tisch sitzt ein weißhaariger alter Mann. Sein Gesicht ist zerfurcht, als seien die Wellen des Meeres in ihm erstarrt. Seine Augen sind unbewegt in die Ferne gerichtet, als sähen sie ein geheimnisvolles Land, das noch kein Sterblicher betreten hat.

    „Wen bringst du mit, mein Kind?"

    „Einen Fremden. Er wird bis zum Abend bei uns bleiben."

    Ich setze mich an den blank gescheuerten Holztisch, während Brigitte das Abendbrot bereitet. Wir essen schweigend. Jeder hängt seinen Gedanken nach.

    „Sie sind ein Fremder. Warum sind Sie in diese Gegend gekommen?", fragt mich der Alte.

    „Ich liebe das Meer."

    „Ja, das Meer, meint er verträumt, „früher, da fuhr ich jeden Tag hinaus. Doch dann geschah das mit meinem Unfall. Eines Morgens fuhr ich wie gewohnt zum Fischen. Es tobte ein fürchterliches Gewitter. Ich warf meine Netze aus. Auf einmal breitete sich aus der Tiefe ein geheimnisvolles Leuchten aus. Immer heller strahlte es in den unwirklichsten Farben. Ich starrte wie gebannt auf dieses unerklärliche Schauspiel und fühlte mich so seltsam glücklich wie nie zuvor im Leben. Plötzlich zuckte ein greller Blitz, wie von einer Explosion. Ich war betäubt. Als ich erwachte, sah ich nichts mehr. Mehrere Tage trieb ich auf dem Meer, dann fand mich ein Frachter.

    Der Alte verfiel in ein tiefes Sinnen. Seine Züge verklärten sich. Er schien wieder das märchenhafte Leuchten zu sehen, das Letzte, was er im Leben erblickte.

    Brigitte steht leise auf und schaut mich an. Wir steigen die Leiter empor zu ihrer Kammer unter dem Dach. Sie umarmt mich zärtlich. Ihr Haar duftet nach Salz und See. Ihre Lippen sind feucht.

    „Es ist schon dunkel. Ich muss gehen."

    „Bleib! Nur ein paar Stunden. Die Nacht ist noch lang."

    Ich liege bei ihr. Ich müsste längst auf der Flucht sein, aber ein unerklärlicher Zauber hält mich hier fest. Ich schaue in ihre Augen und glaube, in ihnen das geheimnisvolle Leuchten aus der Meerestiefe zu entdecken.

    Sie ist mir so unbeschreiblich nah. Ich fühle ihr Herz pochen. Werde ich jemals wieder so glücklich sein wie jetzt? Die kleine Fischerkate ist auf einmal für mich ein Schloss. Ich drücke Brigitte sanft an mich.

    „Komm mit!"

    „Es geht nicht. Ich muss bei meinem Großvater bleiben. Ohne mich wäre er hilflos."

    Mir fällt etwas ein. „Hast du keine Eltern?"

    „Nein, sie sind beide in einer Sturmnacht im Meer ertrunken."

    Wir schweigen. Der Wind streicht um das Haus. In der Ferne bellt ein Hund; dann ist es still. Wir vernehmen nur ab und zu das unheimliche Knistern in den Hüttenwänden.

    Allmählich schlummern wir ein. Ich träume.

    Ich bin auf der Flucht. Ein junger Bursche führt mich durch die unbekannte Gegend. Die ganze Umgebung ist so merkwürdig. Wir gehen durch fremde Wälder. Ich habe solche Bäume noch nie gesehen. Oh Gott, wie weit bin ich schon geflohen?

    Wir kommen an ein steiles Ufer. Im Wasser wimmelt es von seltsam leuchtenden Quallen. Wir beschließen, unseren Weg über eine Sandbank zu nehmen, die eine Bucht vom offenen Meer trennt. Wir gehen los. Das glasklare Wasser reicht uns bis an die Hüften. Rechts von uns ist das tiefe Wasser, links von uns die Bucht, die eine Art Sumpf ist.

    Ich entdecke ein eigenartiges Wesen, eine Art Riesenkrebs. Wie eine Spinne stelzt er auf seinen meterlangen Beinen, sodass sein feuerroter Körper aus dem Wasser ragt. Uns wird unheimlich zumute. Wir gehen schneller. Ich blicke mich um und bemerke, dass der Krebs uns verfolgt. Seine Stielaugen starren uns an, während die fürchterlichen Scheren auf und zu klappen.

    Plötzlich sehe ich überall um uns die gewaltigen Krebse auftauchen. Uns sträuben sich die Haare. Wir laufen um unser Leben. In langen Sätzen erreiche ich das rettende Ufer. Ich schaue mich um und sehe, wie der junge Bursche von den wütenden Krebsen zerrissen wird.

    Ich wache auf. Draußen dämmert es schon. Wie spät ist es? Ich löse mich aus Brigittes Armen. Ich darf nicht länger bleiben. Schweigend verlassen wir die Hütte. Der Morgen ist kalt. Was wird der neue Tag mir bringen? Der Traum hat mich beunruhigt.

    „Komm nicht mit zum Boot! Es könnte gefährlich sein. Ich traue dem Mann nicht, der mich herbestellt hatte."

    Brigitte nickt. „Ich werde zur Mole gehen und dir nachschauen."

    Die letzte Umarmung. Wir trennen uns für immer. Ein bitterer Geschmack liegt mir auf der Zunge. Mir wird auf einmal klar, dass ich alles aufgebe, was mein Leben glücklich machte. Reglos schaue ich Brigitte nach, bis sie verschwunden ist. Ich bin allein.

    Es ist noch sehr früh. Ich friere. Die Sonne steckt in einer Dunstschicht. Ich gehe die Dünen hinauf. Gleich muss ich das Meer sehen, das endlose Meer.

    Ich stehe sprachlos und kann es nicht fassen: Das Meer ist verschwunden. Einfach verschwunden. Statt dessen erstreckt sich eine breite Ebene. Schemenhaft erblicke ich Äcker und Wiesen. Die Ferne verschwimmt in feinen Nebelschleiern. Kein Mensch ist zu sehen. Alles wirkt tot und bedrückend.

    Ich bin fassungslos. Was soll ich tun? Ich laufe zur Mole. Wo ist Brigitte? Sie ist nirgends zu sehen. War denn alles nur ein Traum? Ein schrecklicher Verdacht durchzuckt mich. Stand Brigitte mit meinen Feinden in Verbindung? Schließlich war sie es, die mich aufgehalten hatte. Warum bin ich nicht in der Nacht geflohen, als das Meer noch da war?

    Ich bin mutlos. Wenn die Dinge so liegen, bin ich verloren. Die Gedanken jagen durch meinen Kopf. Dann müsste ja mein Verbindungsmann auch ein Verräter sein. Ich muss Gewissheit haben.

    Ich mache mich wieder auf den Weg, den ich gestern schon einmal zurückgelegt habe. Es sind die gleichen Straßen. Es herrscht heute mehr Verkehr. Die Häuser haben nichts Bedrohliches mehr an sich. Sie wirken nur noch schmutzig und langweilig.

    Ich steige die bekannte Treppe hoch. Die Tür ist frisch gestrichen. Daneben hängt das Schild eines Reisebüros. Der Verbindungsmann öffnet mir und lässt mich eintreten. Ist das alles nur Tarnung? Der andere lässt sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Gleichgültig schaut er mich an.

    „Sie wünschen?"

    Offenbar will er mich nicht kennen. Was bezweckt er damit? „Erinnern Sie sich nicht mehr an mich?"

    Er zwinkert nervös. „Ja, richtig. Sie hatten gestern bei mir eine Ausflugsreise zu den Sehenswürdigkeiten der Umgebung gebucht."

    Ich werde wütend. Er will mich nicht verstehen. Mir kommt eine Idee. „Wenn Sie Agent des Reisebüros sind, möchte ich bei Ihnen eine Seereise buchen."

    Er scheint überrascht. „Hier gibt es kein Meer."

    „Aber gestern war es noch da, schreie ich, „ich will wissen, was hier los ist!

    Er schüttelt den Kopf. „Hier war noch nie ein Meer."

    Es wird mir zu viel.

    „Haben Sie ein wenig Zeit? Kommen Sie, ich lade Sie ein. Ich werde Ihnen etwas zeigen, was Sie interessieren wird."

    Achselzuckend erhebt er sich. Er schließt sorgfältig die Tür hinter uns ab und folgt mir. Ich überlege fieberhaft. Wieso versucht der andere, mir etwas vorzumachen? Warum geht er andererseits einfach mit mir mit, wenn er Vertreter eines Reisebüros ist? Irgendetwas stimmt hier nicht. Aber gleich werde ich wissen, woran ich bin.

    Wir kommen zur Mole. Triumphierend weise ich auf den Leuchtturm. Der Mann lacht. „Ach so. Stellen Sie sich vor, dieser verrückte Kneipenwirt hat mitten im Land einen Leuchtturm gebaut. Er war früher einmal Kapitän. Natürlich ist die Gaststätte ‚Zum Leuchtturm‘ eine Attraktion in dieser Gegend."

    Wir gehen in die Ebene hinein. Der Boden ist feucht, der Schlamm bleibt an unseren Schuhen kleben. „Es hat in den letzten Tagen viel geregnet", erklärt mein Begleiter und weicht einer großen Pfütze aus.

    Ich bleibe stehen und schaue mich um. Kein Baum und kein Strauch ist zu sehen. Nur umgepflügte Äcker erstrecken sich, so weit das Auge reicht. Irgendwie wirkt die Gegend bedrückend.

    Vielleicht, weil man nirgendwo hinkommt, wenn man hier entlanggeht. Immer nur die gleiche eintönige Landschaft fände man vor, so weit man auch ginge.

    Im Grase am Wegrand liegen tote Fische herum. Manche sind noch frisch, andere wiederum schon halb verfault. Ich weise meinen Begleiter darauf hin.

    „Das sind Abfälle von der Fischfabrik, die hier in der Nähe steht", ist die Antwort.

    Wenn ich bloß wüsste, was geschehen ist! Ich bin jetzt sicher, dass der Verbindungsmann ein Verräter ist. Ich muss ihn loswerden. Wir kehren um.

    „Wie wäre es mit einer kleinen Stärkung?" Wir betreten das Strandhotel. Das Stimmengewirr der Badegäste erfüllt den Raum. Während der Kellner uns das Gewünschte bringt, erhebe ich mich und gehe langsam in Richtung Toilette. Blitzschnell bin ich durch die Küche über den Hof verschwunden. So leicht lasse ich mich nicht fassen.

    Ich gehe durch die Stadt. Lachend kommen mir einige

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