Die Krone der Schöpfung: Ein satirischer Rundgang durchs Leben und durch unsere Welt
Von Margit Stein
()
Über dieses E-Book
Ein erhellender und schwarzhumoriger Rundgang durch unsere Gegenwart, der durch Kohle- und Bleistiftzeichnungen der Autorin abgerundet wird.
Ähnlich wie Die Krone der Schöpfung
Ähnliche E-Books
LOST: "Bring mich Heim Sinnsuchergeschichten" Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMehr Mensch!: Gegen die Ökonomisierung des Sozialen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTraumprotokolle: 1978 bis 1989. Band 1 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFreundschaft und Verbundenheit durch Scherzbeziehungen: Humor im Alltag, um Konflikte zu lösen und zu vermeiden Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKalktown Stories Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungena tempo - Das Lebensmagazin: September 2019 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSind Sie noch ganz echt?: Mut zur Authentizität Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer pure Wahnsinn: Cartoons aus der Psychiatrie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenRobert Reschkowski Solo auf Messers Schneide: 1. Band 1951-78 Kindheit.Jugend.Kunststudium Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHumor für Anfänger und Fortgeschrittene: Mit Briefen von Astrid Lindgren, Dieter Hildebrandt und mehr als zwanzig weiteren Prominenten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLachen macht stark: Humorstrategien Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenProleten, Pöbel, Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWir waren außer uns vor Glück Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPalmström und Coronas Wellen: Virologie in Versen, Band II Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFrieda: Roman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTraumhaft Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSchmetterlinge im Bauch: Wenn Jugendliche sich verlieben Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDemokratie und Streit: Der Diskurs der Progressiven in den USA: Vorbild für Deutschland? Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenReligion und Humor Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWitz und Psychoanalyse: Internationale Sichtweisen - Sigmund Freud revisited Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIch wollte doch bloß nicht Bärchen heißen: Band 1: Kopfsprung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAliens Schicksal: Wenn alle Kämpfe sinnlos erscheinen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenInstanzen im Schatten: Väter, Geschwister, bedeutsame Andere Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWelche Zukunft wollen wir?: Mein Plädoyer für eine Politik von morgen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFührung durch den Roman "Sonnenfinsternis-Im Hinterhof der Politik" Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenZwischenWelten: Herkunft-Ankunft-Hinter Gittern-Zukunft? Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungenphantastisch! Ausgabe 77 (1/2020) Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Brüder Grimm und die Märchentradition: Arbeitsmethoden und Bedeutung der Brüder Grimm Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Satire für Sie
Der Untergang des Abendkleides Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen53 wirklich verdammt wichtige Tipps! für alle Lebenslagen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWiener Blut: Eine Ode an die Unfreundlichkeit Die Donaumetropole in Anekdoten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIch hasse alle, ganz besonders Menschen: Ein kritischer Blick auf unsere Gesellschaft - Achtung gefährlich ehrlich! Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWill denn in China gar kein Sack Reis mehr umfallen? Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWenn das der Führer wüßte Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Die Nachteile von Menschen: 132 Beschädigungen aus dem reflektierten Leben Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAus den Sudelbüchern: Aphorismensammlung - Auswahl aus Lichtenbergs legendären Gedankensplitter Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Dann mal ab nach Paris Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen10 Minuten? Dit sind ja 20 Mark!: Zeit ist Geld und wir haben's eilig Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Die schweren Jahre ab dreiunddreißig Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLow Fidelity: Hans E. Plattes Briefe gegen den Mainstream Bewertung: 2 von 5 Sternen2/5Gullivers Reisen: Mit Biografie von Jonathan Swift Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Pausenbrot und Tintentod: Eine satirische Grundschulzeit Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDraußen rauchen ist Mord am ungeborenen Baum: Neue Texte und Gedichte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLeben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Elefanten-Epen: Die kackendreiste Parodie von Die Känguru-Chroniken von Marc-Uwe Kling Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDon Quijote: Band 1&2 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Rezensionen für Die Krone der Schöpfung
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Die Krone der Schöpfung - Margit Stein
Die Wasserspitzmaus mit der Giftdrüse oder: Eine Flugratten-Liebesgeschichte
Ich sitze im Sechserabteil eines Zuges und fahre seit Stunden durch die gleichförmige niederdeutsche Landschaft, die am Abteilfenster vorbeizieht. Ab und an fliegt am ansonsten wolkenlos blauen Himmel eine etwas außergewöhnlich geformte Wolke vorbei, die mich ein wenig aus der Lethargie reißt. Ich bedauere, mein Buch zu Hause auf dem Küchentisch liegen gelassen zu haben. Beiläufig blicke ich zu den anderen Fahrgästen.
Vier weitere Plätze des Abteils sind belegt. Links von mir gleich neben der Abteiltür hat schon am Abfahrtsbahnhof ein Herr in den Fünfzigern mit Wanderstöcken Platz genommen. Das karierte Hemd, die windabweisende Jacke und die Funktionshose unterstreichen seine sportlichen Ambitionen. Er isst belegte Brote, schneidet sich einen Apfel auf und trinkt heißen Tee aus einer Kanne, die außen an seinem großen Rucksack angebracht ist. Schräg gegenüber sitzt aufrecht in seinem Sessel ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, der dynamisch und mit stakkatohaften Bewegungen auf seinem Tablet tippt und eine riesige schwarze Kunststoffbrille sowie dazu passende monströse Kopfhörer trägt. Dazu wippt er im Takt der Musik mit dem Kopf. Direkt mir gegenüber sitzt ein etwa vierzigjähriger Mann mit einer dunklen wilden Lockenpracht und zwei schweren Fahrradschlössern, die über ihm auf der Gepäckablage liegen. Er blättert in einem Werbekatalog, in welchem Rennräder zu Sonderkonditionen angepriesen werden. Ich hoffe inbrünstig, dass der Zug nicht einen ungeplanten ruckartigen Nothalt einlegen muss und mich die fallenden Schlösser erschlagen. Schräg mir am Fenster gegenüber liest eine Dame in einem schweren Kunstkatalog, den sie auf ihren übereinandergeschlagenen Beinen liegen hat. Gleichwohl sie nicht als attraktiv bezeichnet werden kann, ist sie sorgfältig im Stil der dreißiger Jahre frisiert, geschminkt und gekleidet und macht dadurch einen aparten Eindruck. Sie trägt ein knielanges gehäkeltes Kleid aus weißem, dickem Baumwollgarn und einen dazu passenden Hut auf ihrem dunklen Pagenkopf, dazu feuerroten Nagellack und Lippenstift. Die Augen sind dramatisch mit schwarzem Kajal ummalt. Trotz oder wegen der Enge und Intimität des Abteils richtet niemand das Wort an den anderen. Die Reisenden sehen bemüht aneinander vorbei, blicken auf ihre Magazine, Kataloge und Tablets oder einfach auf ihre Hände. Der schwarzhaarige Mann, der mir gegenübersitzt, scheint konzentriert zum gefühlt zehnten Mal die Instruktionen für den Brandfall zu lesen, die über der Tür angebracht sind. Ich selbst kann die Warnungen vor einem Missbrauch der Notbremse schon auswendig, inklusive der Übersetzungen »Misuse will be punished« und »Tout abus sera puni«. Die Gleichförmigkeit immer neuer Dörfer, Weiler und kleiner Schonungen, die vorüberziehen, ermüden mich. Die weichen, blauen Polster der Sitze tun ihr Übriges, um mich in einen hypnotischen Dämmerhalbschlaf zu versetzen, in welchem das Rattern der Räder auf den Gleisen, das Rauschen des Fahrtwindes vor dem Fenster und das leise Umblättern der Seiten des Kunstkatalogs der Dame am Fenster zu einer sonoren Hintergrundkulisse für meine Träume werden. Ich wache, ich dämmere, ich döse, bis ich schließlich in einen unruhigen und leichten Schlaf sinke …
Ich erwache an der nächsten Station, weil mich etwas Weiches am nackten rechten Unterarm streift, der auf der Armstütze aufliegt. Anscheinend war jemand zugestiegen, hatte rechts neben mir Platz genommen und mich mit seinem Schal oder Ärmel berührt. Ich schlage kurz meine Augen auf und sehe, dass alle Fahrgäste wie gebannt auf den Sitz neben mir starren. Ihre Gesichter changieren von verwundert bis entsetzt. Mir wird bewusst, dass keiner ein Geräusch von sich gibt und jedes Kauen, Tippen und Blättern verstummt ist. Wie bei Dornröschen scheinen alle mitten in ihren Bewegungen eingefroren zu sein und sich auf einen hundertjährigen Schlaf vorzubereiten, der sie mitten aus dem Leben gerissen hat.
Ich wende den Kopf und erblicke eine kleine, graubraune Taube mit schmutzigem und zerrupftem Federkleid, welche sich auf dem freien Platz niedergelassen hat. Den kleinen Tornister, den sie gerade noch am linken Bein getragen hat, schnallt sie vorsichtig mit einer ihrer rechten Krallen und unter Zuhilfenahme der Flügel ab und legt ihn auf die Ablage am Fenster. Ich widerstehe der Versuchung, ihr anzubieten, den Tornister in die Gepäckablage zu legen, da ich nicht wüsste, in welcher Sprache ich sie anreden sollte: Englisch, Deutsch, Rätoromanisch? Ob Tauben überhaupt gut hören? Ob ich mich mit Zeichen verständigen sollte? Ich sehe, dass ihr am linken Flügel Federn fehlen und sie eine blutige offene Stelle aufweist, an der sie sich wiederholt kratzt. Ihr linker Fuß ist etwas verkrüppelt und die Zehenglieder scheinen nicht richtig beweglich. Die Stelle, wo sie den Tornister getragen hat, schuppt. Aufgrund des Tornisters gehe ich davon aus, dass es sich um eine Brieftaube handelt. Sie lehnt sich gemütlich zurück und blickt uns schließlich einen nach dem anderen aus klugen Äuglein an und fragt in klarem Deutsch, ob einer wisse, ob der Zug in Rotenburg hielte und ob ein Anschlusszug nach Beelze gegeben wäre. Wir sind verdutzt. Keines von uns menschlichen Wesen ist in der Lage, auch nur einen Ton herauszubringen, nicht einmal ein heiseres Krächzen. Schließlich gelingt mir unter Aufbringung meines ganzen Willens zumindest ein leichtes Nicken. Sie erkennt, dass wir Schwierigkeiten haben, mit der Situation umzugehen und ihr gegenüber die passenden Worte zu finden, so dass sie sich mit unendlicher Geduld und interkulturellem Einfühlungsvermögen, das man beim homo sapiens häufig vergeblich sucht, daran macht, uns ihre Geschichte zu erzählen – übrigens in druckreifem Deutsch. Eine Geschichte, die als Confessio beginnt und sich zum J’accuse steigert.
Er sei einstmals ein stolzer, wunderschöner Täuberich gewesen, auch wenn von der einstigen Herrlichkeit und Pracht nach all den Jahren der Arbeit und Mühsal als Brieftaube kaum mehr etwas geblieben sei. Eines Tages sei er von einem Wesen der Gattung Mensch, unter allen Tieren übrigens das brutalste und als einziges zu sinnloser Gewalt befähigt, in die Sklaverei verschleppt worden. Man habe ihn eingeschlossen, und Sonntag für Sonntag sei er auf Ausstellungen gebracht worden und habe dort Preise über Preise eingeheimst und seinem Besitzer viel Ehre und auch viel Geld eingebracht. Sein kleiner Schnabel zittert. Auf einer dieser Ausstellungen habe er seine Liebste, die Brieftaube Bernadette kennengelernt. Seine Äuglein leuchten:
»Unsere Herzen schlugen im gleichen Takt und unsere Flügel im selben Rhythmus. Ihr macht euch keine Vorstellung, wie glücklich ich war, als mein Besitzer Bernadette erwarb, als er sah, wie sehr wir uns liebten.«
Für einen kurzen Moment der Seligkeit hätte er gedacht, sein Besitzer habe aus Gefühl und Verantwortung heraus oder zumindest aus Dankbarkeit für die vielen Preise so gehandelt.
»Nein«, sagt die kleine Taube jedoch schließlich bitter und schüttelt vehement ihren Kopf, »ohne einen von Ihnen persönlich angreifen zu wollen, aber da kennen sie die primitiven Menschen schlecht. Er hat ganz einfach gesehen, wie man diese Liebe vermarkten kann.«
Selbst aus dieser großen und einzigartigen Liebe wurde Geld gemacht, und seitdem werde er von seinem menschlichen Besitzer gezwungen, viele Kilometer zu fliegen, wollte er seine Partnerin wiedersehen. Diese würde im heimischen Taubenschlag in Geiselhaft bis zu seiner Rückkehr festgehalten, wie einstmals die schönen Burgfräulein im Turm, um zu verhindern, dass sie ihm entgegenflöge. Sie hätten eine Familie gegründet. Die gemeinsamen Kinder seien jedoch alle von seinem Besitzer an einen anderen Brieftaubenzüchter verkauft und versandt worden. Er wolle jedoch nicht klagen, anderen Tauben würde es noch schlechter ergehen; sie würden, wenn sie als Brieftaube ausgedient hätten, als Taubenbrüstchen im Speckmantel an Bohnengemüse und Kartoffelschnee auf dem Sonntagstisch landen oder im noch schlimmeren Fall als Suppeneinlage enden. Allein aufgrund all dessen, was wir hier heute zu hören bekämen, verstünden wir sicher, dass er keine Scheu hege, als Brieftaube zu schummeln und Teile der Strecke per Zug zurückzulegen, um mehr Zeit für seine Partnerin im Taubenschlag zu haben.
»Ich kenne alle Fahrpläne Niedersachsens und Sachsen-Anhalts auswendig!«, schließt er seine Erzählung, und das erste Mal sehe ich die Taube trotz ihres Schmerzes lächeln, während sich ihre Brust stolz hebt.
Ob sich Tauben deshalb so gerne an Bahnhöfen aufhalten? Ob es sich hierbei durchwegs um Brieftauben im Wettbewerb handelte? Oder um Tauben, die in Fernbeziehungen leben und in der freien Zeit zu ihren Liebsten reisen? Ob es auch Tauben gab, die einfach einmal das Fernweh nach Vechta, Verona oder gar Valparaíso packte? Ob sich Venedig deshalb so stark zu einem Anziehungspunkt für Tauben entwickelt hatte, weil es zugtechnisch gut angebunden war? Konnte ich nach der heutigen Erfahrung behaupten, dass Tauben Zugvögel im wahrsten Sinne des Wortes seien, ohne dass Ornithologen meinen Tod fordern würden?
Ich werde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als die Taube weiterspricht:
»Ich weiß, was Sie nun von mir moralisch-sittlich halten werden, da ich Ihnen von diesem Betrug am Deutschen Verband der Taubenzüchter erzählte … Ich weiß, dass Sie sich fragen werden, warum ich durch mein Tun auch noch einem solch skrupellosen und inhumanen – oder sollte ich sagen: unanimalischen – Besitzer Preisgelder in die Hände spiele. Aber es geht nicht nur um mich, sondern auch um Bernadette.«
Sie schüttelt bedauernd und mit einem schmerzlichen Ausdruck in ihrem kleinen Gesicht den Kopf.
»Und wenn du türmst und dich mit einer anderen Taube irgendwo auf dem Marktplatz zusammentust? Es gibt doch genug …«, schlägt der Mann mir gegenüber vor, der als Erster die Sprache wiedergefunden zu haben scheint.
Vielleicht war er deshalb am schnellsten, weil er den Mund mit den großen leuchtend weißen Zähnen schon die ganze Zeit offen stehen gehabt hatte. Er streicht sich die dunklen Haare aus der Stirn – den Katalog mit den Rennrädern hat er auf seine Knie sinken lassen. Instinktiv schäme ich mich für ihn und die Gattung Mensch …
Die Taube seufzt schwer.
»Das kann ich nicht, so bin ich nicht. So etwas machen nur die Menschen, dass sie Frau und Kinder im Stich lassen und den Weg des geringsten Widerstands gehen. Ich kann meine Bernadette nicht allein zurücklassen. Sie ist anders als alle anderen Tauben auf der Welt, und allein schon am Schlag ihrer Flügel beim Landeanflug kann ich sie unter Tausenden von Tauben erkennen. Ich liebe sie und sie mich. Wir Tauben leben in Monogamie. – Sie werden vielleicht nicht wissen, was das ist?!«, setzt die kleine Taube nach, als sie in unsere verdutzten und sprachlosen Gesichter blickt, auch wenn sich unsere Verwunderung – bis vielleicht auf den Rennradliebhaber – weniger aus dem Umstande speist, dass sie mit ihrer Partnerin monogam lebt.
»Doch: Monogamie!«, ruft der Mann mit dem Rennradkatalog. »Das habe ich früher immer mit meiner Freundin gespielt.«
Keiner der Mitreisenden regt sich oder verzieht die Miene. Soll doch jeder mit seiner Freundin tun und lassen, was ihn nach seiner Fasson selig macht.
»Oma hat teilweise auch mitgemacht.«
Hier zeigt sich bei den anderen Reisenden teilweise ein erstes Stirnrunzeln.
»Oma war immer als Erste bankrott und hat dann nur noch Kaffee für uns gekocht, aber Silvi war auf Zack. Ich war nicht so richtig gut, aber ich hatte immer alle vier Bahnhöfe!«
Er strahlt von einem Ohr zum anderen und schnauft tief und befriedigt durch.
»Was Sie spielten, war Monopoly«, sagt die kleine Taube ruhig und sachlich. »Monogamie ist die ausschließliche, lebenslange Beziehung eines Paares zueinander. Monogamie ist das Gegenteil von Polygamie.«
Der Mann, der allmählich auch an dem süffisanten Grinsen der Kunstfreundin neben ihm merkt, dass er sich womöglich blamiert hat, versucht zu retten, was zu retten ist – vergeblich:
»M o n ogamie,P o l ygamie, Mono-poly … sage ich doch, dass es da eine Verbindung gibt!«
Ich bin gespannt, ob die kleine graue Taube ihm die Gemeinsamkeiten etymologisch erklären würde. Auf seine Zwischenbemerkung geht sie jedoch gar nicht mehr ein, denn sie hat den Faden bereits wieder aufgenommen, den sie sich nicht vorschnell durch ein niedriger stehendes Wesen wie den homo sapiens durchtrennen lässt.
Gerade noch rechtzeitig sehe ich zwischen meinen trüben Gedanken, dass auf dem Bahnhof, in welchen wir nun einfahren, das Schild Rotenburg auftaucht. Ich mache unseren tierischen Begleiter darauf aufmerksam, und er steigt im letzten Moment hektisch aus, gebückt, den kleinen Tornister auf dem Rücken, und springt auf den Bahnsteig – den verletzten Fuß hinter sich herziehend und sich nach dem Anschlusszug umsehend. Die Taube winkt uns mit dem nicht verletzten Flügel vom Bahnsteig aus zu. Als sie ausgestiegen ist, schnaubt der Hipster mit dem Tablet, der bisher nichts sagte, auch wenn er vorsorglich die Kopfhörer abgenommen hat, verächtlich durch die Nase und schickt ihr ein despektierliches »Flugratte« mit auf die Reise. Ich schäme mich für meinen menschlichen Reisegefährten ob dieser arroganten und selbstgefälligen Äußerung.
Als ich ihn bitte, das Wort Flugratte nicht zu nutzen, fordert er uns auf, einer kleinen Geschichte zuzuhören, die seinen Groll auf Tiere zumindest teilweise erklären helfe. Er habe wegen eines Tieres seine vielversprechende Journalistenkarriere aufgeben müssen und in diesem Moment erkannt, dass Tiere uns in vielerlei Hinsicht intellektuell überlegen seien und unseren Ruin bedeuten könnten:
»Die Evolution schreitet bei Tieren schneller voran, als uns lieb ist. Sie überholen uns … auch von rechts«, kreischt er.
Insbesondere habe er eine Intimfeindschaft mit Ratten, so dass die Beschimpfung Flugratte für die Taube nur konsequent sei. Gerade als er als junger Journalist für ein populäres Historienmagazin seinen ersten seitenfüllenden Beitrag über die Rolle der Frau in der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung geschrieben hatte, hätte eine Ratte eine vernichtende Kritik verfasst, die in der Redaktion sehr ernst genommen worden sei und in welcher sie ihm vorwarf, erstens wichtige Quellen bedeutender Autorinnen Südostasiens zu diesem Thema nicht berücksichtigt zu haben, und ihm zweitens in einer lückenlosen Beweisführung »chauvinistischen Sexismus und ethnozentristischen Rassismus gepaart mit einem rückwärtsgewandten Relativismus« vorwarf.
»Dass mich gerade eine Ratte düpieren und meine hoffnungsvolle berufliche Karriere jäh an ein vorläufiges Ende bringen sollte, hätte ich mir in meinen schlimmsten Alpträumen nicht gedacht!«, ruft er theatralisch und mit einem schmerzlichen Ausdruck, der sein ansonsten noch glattes jungenhaftes Gesicht alt und verknittert aussehen lässt.
Ich weiß sofort, was der Mann meint, da ich ebenfalls die Bekanntschaft mit intellektuellen Vierbeinern im Berufskontext geschlossen hatte, und ließ die anderen Reisenden an meinem Erfahrungsschatz teilhaben. Ein Mitarbeiter hatte sich zwei Pudel zugelegt und sprach stets davon, dass diese Tiere ihm in seinem Beruf unerlässliche Sparringpartner seien. Ursprünglich war ich davon ausgegangen, dass die Hunde lediglich als Personal Trainer fungierten, um ihn bei langen Spaziergängen fit zu halten, aber ich sollte mich täuschen. Ich dachte mir auch noch nichts dabei, als er die beiden mit auf eine Konferenz nahm und mich fragte, ob ich mir mit der Hundedame ein Doppelzimmer teilen wolle. Ich sagte zu und sah mich im Geiste schon morgens gemütlich im Zimmer sitzen, während der Hund mir Zeitung und Pantoffel bringen würde. Doch weit gefehlt … Es begann morgens mit stundenlangem Einschließen des