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Psychotische Reaktionen und heiße Luft: Rock'n'Roll als Literatur und Literatur als Rock'n'Roll - Ausgewählte Essays
Psychotische Reaktionen und heiße Luft: Rock'n'Roll als Literatur und Literatur als Rock'n'Roll - Ausgewählte Essays
Psychotische Reaktionen und heiße Luft: Rock'n'Roll als Literatur und Literatur als Rock'n'Roll - Ausgewählte Essays
eBook449 Seiten6 Stunden

Psychotische Reaktionen und heiße Luft: Rock'n'Roll als Literatur und Literatur als Rock'n'Roll - Ausgewählte Essays

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Über dieses E-Book

Lester Bangs ist 'die' große Rock-Kritiker-Legende in Amerika. Geboren 1948, arbeitete er ab 1971 fünf Jahre lang beim Rockmagazin Creem und beeinflusste mit seinem neuen subjektiven Stil eine ganze Generation junger Autoren. Bangs ging 1976 als freier Journalist nach New York, schrieb u.a. für den Rolling Stone und gründete die Rockgruppe "Lester Bangs and the Delinquents". In seinen Reportagen, Kritiken, Glossen und Fragmenten entdeckt er in "Wild Thing" von den Troggs eine Art unkontrolliertes Lebensmanifest für die Zukunft. Er bewundert Richard Hell, analysiert den Mythos von Elvis, reektiert sein schwieriges Verhältnis zu Lou Reed, begleitet die Clash auf Tour, schreibt über Iggy Pop and the Stooges, David Bowie, Kraftwerk, PIL u.a. Mit seinen gnadenlos subjektiven Urteilen und vehementen Verurteilungen, Beleidigungen und großen Lobeshymnen war er der Gonzo-Autor des Rock-Journalismus, der wie kein anderer um die Faszination und Anziehungskraft der neuen Musik wusste. Lester Bangs starb am 30. April 1982 an einer Tablettenunverträglichkeit.
SpracheDeutsch
HerausgeberFuego
Erscheinungsdatum21. Jan. 2011
ISBN9783862870028
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    Buchvorschau

    Psychotische Reaktionen und heiße Luft - Lester Bangs

    Buchcover.jpg

    Lester Bangs

    Psychotische

    Reaktionen

    und heiße Luft

    Rock‘n‘Roll als Literatur und

    Literatur als Rock‘n‘Roll

    Ausgewählte Essays

    Herausgegeben von Greil Marcus

    Aus dem Englischen von Astrid Tillmann, Peer Schmitt, Teja Schwaner u.a.

    - FUEGO -

    Brief an Dave Marsh, Januar 1986

    Absender:

    Die Wolke von

    Lester Bangs

    Marsh,

    Du kennst doch das ganze Gequatsche von wegen, »wenn es einen Rock’n’Roll Himmel gibt, dann spielt dort eine höllenmäßige Band?« Glaub den Scheiß bloß nicht, Kumpel.

    Die ganz Großen sind ohne Umwege in die Hölle gekommen. Ausnahmslos. Die Stars hier oben sind Jim Croce, Karen Carpenter, Cass Elliot und ganz besonders ... Bobby Bloom! Es ist ein Alptraum! Wenn ich mir nur noch ein einziges Mal dieses verfluchte „Montego Bay" anhören muss, bringe ich mich um ... (scheiße, ich vergesse es immer wieder).

    Wie dem auch sei, alle sechs Monate stelle ich einen Antrag, um in die Hölle aufgenommen zu werden, aber sie lehnen mich immer mit der Begründung ab, ich sei zu gutherzig. Zieh dir das mal rein. Schreib ihnen und klär sie mal auf. Bitte! Sag ihnen, was für ein Arschloch ich sein kann, wenn mir danach ist. Und sag Uhelszki, dass sie dasselbe tun soll. Und Marcus. (Setze ihn doch bitte auch darüber in Kenntnis, dass ich es großartig finde, dass er sich durch mein ganzes altes Geschreibsel kämpft.)

    Als ich hier ankam, habe ich Gott getroffen. Hab’ ihn nach dem Warum gefragt, ich meine, 33 und überhaupt. Er hat nur ein Wort gesagt: »M.T.V.« Er wollte mir das ersparen, was zum Teufel auch immer es sein mag.

    Ich muss los. Buchstäblich. Noch eine Horde grauhaariger Harfenzupfer ist im Anmarsch. Die spielen natürlich Zeps »Stairway«, die scheiß Nationalhymne in diesem Kaff. Ich kann einfach nicht glauben, dass hier niemand auf The Elgins steht.

    Lass es dir gesagt sein, Dave. Der Himmel war Detroit, Michigan. Wer hätte das gedacht?

    Ewig dein,

    Bangs

    portrait

    Einführung und

    Danksagung

    Greil Marcus

    »Biographie: Lester Bangs wurde 1948 in Escondido, Kalifornien geboren. Er wuchs im kalifornischen El Cajon, was im Spanischen ›Kiste‹ bedeutet, auf, wo er als Tellerwäscher, Verkäufer von Frauenfreizeitbekleidung und Aushilfe in einem familienbetriebenen Kunstblumendekorationsgeschäft arbeitete, während er freiberuflich Plattenkritiken schrieb und vorgab, aufs College zu gehen, bis er 1971 nach Detroit zog und beim Creem Magazine anfing. In den fünf Jahren, in denen er dort in unterschiedlichen redaktionellen Funktionen und als journalistischer Leiter arbeitete, prägte er einen Stil des kritischen Journalismus, der sich auf Klang und Sprache des Rock’n’Roll gründete und eine ganze Generation von jüngeren Schriftstellern und vielleicht auch Musikern beeinflussen sollte. Er verließ Creem 1976 und zog nach New York, wo er freiberuflich arbeitete. Dort wurde er auch Bandleader von zwei Rock’n’Roll-Bands der Manhattaner Klubszene und begann, Aufnahmen seiner ursprünglichen Rock’n’Roll-Kompositionen mitzuschneiden (er schreibt Texte, singt und spielt Harmonika, und weiß, dass ›All my melodies are the same melody, and that’s a blues‹), deren erste Let It Blurt / Live Anfang 1979 bei Spy erschien. Im Moment arbeitet er an einem Album...«

    Das schrieb Lester Bangs ein oder zwei Jahre bevor er 1982 starb. Dieser Tatsache ist es geschuldet, dass nun jede andere Biographie detaillierter ausfallen muss: Er wurde am 14. Dezember 1948 geboren; er starb am 30. April 1982 eher versehentlich an den Komplikationen einer durch Grippe verursachten Atem- und Lungenwegserkrankung und der Einnahme von valiumhaltigen Schmerzmitteln. Der Name des Geschäfts, wo er Freizeitbekleidung für Frauen verkaufte, war Streicher’s Shoes, Mission Valley Shopping Center; sein Album wurde 1981 unter dem Titel Juke Savages on the Brazos von Lester Bangs and the Delinquents bei Live Wire veröffentlicht, obwohl er auch überlegte, es Jehovah’s Witness zu nennen, nach dem Glauben, zu dem seine Mutter nach dem Tod seines Vaters 1955 konvertiert war. »Lester sagte mal, dass darin auch seine Herangehensweise als Rockkritiker bestand«, schrieb mir Frances Pelzman, als die Arbeit an diesem Buch begann, »er versuche immer, die Leute zu bekehren.« Sein Tod provoziert natürlich auch müßige Spekulationen: Warum hat er unter all den Details, die er in einer aus nur einem Absatz bestehenden Biographie unterbringen konnte, ausgerechnet erwähnt, dass El Cajon »Kiste« bedeutet. Lag es daran, dass Kiste ein alter Slangbegriff für Plattenspieler ist oder weil der Name so etwas wie Gefangenschaft bedeutete, der er nie entkommen zu können glaubte?

    Es ist nicht leicht, über einen toten Freund zu schreiben, ohne in Sentimentalitäten oder ins Melodramatische abzurutschen; Melancholie wäre wahrscheinlich die ehrlichste Tonart, aber sie ist am schwierigsten zu treffen. Meine Aufgabe ist, die Bedeutung von Lester Bangs’ Arbeit hervorzuheben, zu erklären, warum diejenigen, die ihn seinerzeit nicht gelesen haben, das nachholen sollten, warum seine Arbeit das Leben eines jeden bereichert, der es auch nur halbwegs individuell gestalten will, und obwohl ich glaube, dass Lesters Texte genau das bewirken würden, bringe ich gerade das nicht fertig. Es wirkt herablassend, und zwar sowohl dem Leser als auch seinen Texten gegenüber; es schmerzt mich, dass Lester es für nötig befunden hatte, für seine Arbeit aufgrund ihres Einflusses zu werben, so echt und überwältigend dieser auch gewesen sein mag, und nicht aufgrund ihres Wertes. In einer weiteren Selbstdarstellung, die ungefähr zur gleichen Zeit erschien wie die erste, schrieb er: »Ich war offensichtlich brillant, ein begnadeter Künstler, ein sensibles männliches Wesen, das keine Angst davor hatte, seine Verletzlichkeit zu zeigen, einer der wenigen Leute, die wirklich begriffen hatten, was mit unserer Kultur nicht stimmte und warum sie deshalb auch keine Zukunft haben konnte (ein Thema über das ich bereits sprach/zu dem ich unaufhörlich improvisierte Reden hielt, vor allem betrunken, was oft, wenn nicht jede Nacht, der Fall war), ein attraktives kleines Arschloch, dazu noch gut im Bett, obwohl ich selbstverständlich mit einer von meinem Geschlecht und meinem Alter völlig unabhängigen Weisheit gesegnet war. Und ich wusste, dass das natürlich überhaupt keine Rolle spielte, ich war witzig, hatte einen abgefahrenen Sinn für Humor, ein wirklich einzigartiges, unberechenbares Individuum, ein praktizierender Rock’n’ Roller mit eigener Band, wenn nicht heute, dann vielleicht morgen, ein Anwärter auf den Titel Bester Schriftsteller Amerikas (wer war besser? Bukowski? Burroughs? Hunter Thompson? Ach, Blödsinn! Ich war der Beste. Ich schrieb fast nichts außer Plattenkritiken, und davon auch nicht viele...« Er meinte das natürlich nicht wirklich ernst, jedenfalls nicht bis dahin, wo die Klammer aufging (er hat sie nie geschlossen); da hat er einfach die Wahrheit gesagt. Vielleicht verlangt dieses Buch dem Leser die Bereitschaft ab zu akzeptieren, dass der beste Schriftsteller Amerikas praktisch nichts außer Plattenkritiken schreiben konnte.

    Ich weiß auch nicht, was ich von den Behauptungen vor der Klammer halten soll. Wie Tausende andere auch, kannte ich Lester hauptsächlich über seine Texte. Wir waren vielleicht innige Freunde, aber keine engen. 1969 war ich sein erster Redakteur beim Rolling Stone; nachdem er Kalifornien gegen Detroit und New York eingetauscht hatte, haben wir uns vielleicht ein halbes Dutzend Mal getroffen, doppelt so häufig miteinander telefoniert und noch mal doppelt so oft miteinander korrespondiert. Wir sprachen lange darüber, ob ich ein Buch über seine Arbeit herausgeben sollte.

    Die erste der zitierten biographischen Skizzen stammt aus dem Manuskript einer Sammlung von Lesters veröffentlichten Texten über Rock’n’Roll, die er 1980 oder 1981 zusammenstellte. Die einzig zugesicherte Veröffentlichung war die eines deutschen Verlags; der Arbeitstitel lautete »Psychotic Reactions and Carburetor Dung«. Obwohl der Titel identisch ist, handelt es sich hier nicht um das nie erschienene Buch, er ist vielmehr eine Widmung an Lester, und weite Teile seiner Auswahl sowie einige Kapitelüberschriften wurden beibehalten; ein große Menge bisher unveröffentlichten Materials kam dazu. Lesters Buch sollte dem Zweck dienen, eine Periode aus einer noch langen und unvorhersehbaren Karriere zusammenzufassen. (Kurz bevor Lester starb, wollte er nach Mexiko, um dort einen Roman »All My Friends Are Hermits« zu schreiben, obwohl ich nicht – wie einige, die ihm viel näher standen als ich, behauptet hatten – auch nur eine Sekunde daran glaubte, dass er aufhören würde, über Musik zu schreiben.) Sein Buch sollte kein Vermächtnis darstellen; das aber ist gerade die Aufgabe dieses Buches.

    1958 kaufte Lester seine erste Platte (TV Action Jazz von Mundell Lowe and His All-Stars, erschienen bei RCA Camden); von da an verschlang er jedes Stück tontragendes Plastik, das er kriegen konnte. »Die Kindheitsphantasie, an die ich mich am besten erinnere«, schrieb er einmal, »war eine Villa, darunter Katakomben, die in endlosen, gewundenen, schlecht erleuchteten, muffigen Reihen jedes Album in alphabetischer Reihenfolge enthielten, das jemals veröffentlicht worden war.« Ungefähr zur gleichen Zeit begann er, regelmäßig zu lesen; er wurde zum jugendlichen Beatnik. Jack Kerouac und William S. Burroughs waren seine Helden und Lehrer. Er kaufte ihre Mythen von Verschwendung und Wiedergutmachung, Rausch und Erleuchtung. Ihre Bücher und die Platten aller anderen machten ihn zum Schriftsteller.

    Lester Bangs’ erster veröffentlichter Text, abgesehen von Gedichten in den Literaturmagazinen seiner High School, war eine Plattenkritik über Kick Out the Jams von den MC5, im Rolling Stone am 5. April 1969. Er hatte den Text unverlangt eingeschickt, ein brutaler, unwiderlegbarer Angriff, Lester war als Rock’n’Roll-Fan dem Hype gefolgt, hatte das Album gekauft, sich betrogen und ausgenutzt gefühlt, und zurückgeschlagen. Ein guter Anfang für jeden Kritiker. (Später lernte er Album und Band lieben. Das war typisch. »Ich mache immer wieder kehrt«, sagte er in einem Interview zu Jim DeRogatis auf die Frage, ob seine Herangehensweise an Rock’n’Roll auf der Überzeugung beruhe, dass diese Musik nicht Kunst sei: »Wir können über Trash, Ästhetik und so weiter reden ... Natürlich ist das Kunst.«) Im Juni 1969 begann Lesters und meine Zusammenarbeit; in einem seiner ersten Briefe an mich (bezugnehmend auf die fünf, zehn, fünfzehn Plattenkritiken, die dann wöchentlich eintrafen) schrieb er: »Um es kurz zu machen, am liebsten würde ich das ganze Ding in die Luft jagen und nochmal von vorn anfangen.« Und das tat er dann auch.

    Lester veröffentlichte über hundertfünfzig Kritiken im Rolling Stone (zwischen 1969 und 1973, bis der Herausgeber Jann Wenner ihn wegen Respektlosigkeit den Musikern gegenüber sperrte; und dann wieder ab 1979, als der Ressortleiter für Plattenkritiken, Paul Nelson, seine Rehabilitierung durchsetzte), aber beim Rolling Stone genoss er nie wirkliche Freiheiten. Bei Creem, dem Rock’n’Roll-Magazin, das im Umfeld von John Sinclairs White Panther Party entstanden war, fand er diese Freiheit, zumindest für eine gewisse Zeit: es bot Lester Raum für weitschweifige Tiraden, Beschimpfungen, Verhöhnungen, Hirngespinsten, Zornesausbrüchen und Freudengeheul. Anfangs als freier Autor und dann als redaktioneller Leiter führte er das Magazin in einen subversiven Sog im unerbittlichen kommerziellen Strom des Rockgeschäfts; zusammen mit dem Herausgeber Dave Marsh entdeckte, erfand, pflegte und förderte er eine Ästhetik freudvoller Geringschätzung, eine Liebe zum offensichtlichen Trash und eine Verachtung aller Heucheleien, die 1976 und 1977 mit den Ramones und dem CBGB’s in New York und den Sex Pistols in London den Namen annahm, den er ihr gegeben hatte: Punk. Er war ein Mann mit einer Mission, er grub zwischen 1970 und 1976 alles aus; Creem bedeutete mehr als hundertsiebzig Sonderbeiträge, unzählige Bildunterschriften (einige seiner besten Kreationen, Entmystifizierungen von Superstars, die direkt zu den Ramones und Sex Pistols führten, wie seine Kritiken und Beiträge), zahllose Antworten auf Leserbriefe, den Schrott ausgenommen.

    Lester wurde zu einer Persönlichkeit in der Welt des Rock’n’Roll, in ihrem abgegrenzten Raum wurde er eine Berühmtheit. Kiffend und trinkend, spaßend und beleidigend, grausam und vorführend, immer für einen Lacher gut, wurde er zum unentbehrlichen wilden Mann des Rock, eine Ein-Mann-Orgie der Hemmungslosigkeiten, Exzesse, Weisheiten, Satire, Parodie – das ausgelebte oder geschriebene schlechte Gewissen jeder Band, über die er eine Kritik schrieb oder die er interviewte. Er ging zu einem Interview, bereit, jede Band, die gerade in der Stadt war, zu provozieren; und jede Band, die gerade in der Stadt war, versuchte ihn zu provozieren. Zu dem Zeitpunkt, als er nach New York zog – wo er eine aufkeimende Punkszene vorfand, die im Begriff stand, all seine Hoffnungen und Jeremiaden zu erfüllen –, war er ein allseits umschwärmter Mann. Ein Mann, von dem man stolz war, sagen zu können, man habe ihm einen Drink spendiert oder Drogen gegeben.

    In seinem letzten Jahr an der High School hatte Lester sich einer merkwürdigen Kur, bestehend aus dem Hustensaft Romilar und Belladonna, unterzogen. Als ein Arzt ihm sagte, er mache Gevatter Tod den Hof, ging er dazu über, Speed zu schießen. Er wurde Alkoholiker, und zwar ein richtiger. Nach einigen Jahren konnte er einen ganzen Raum verpesten. Er ließ die Finger von den gängigen Drogen (LSD, Kokain, oder was auch immer zum jeweiligen Zeitpunkt gerade angesagt war); Heroin hat er nie genommen. Trotzdem war er lange Zeit so etwas wie sein eigener Junkie. In seinem letzten Lebensjahr hatte er aufgeräumt; fast keine Drogen mehr, wenig mehr als ein Bier, was aber häufig genug einen Anfall von Selbsthass mit sich brachte. Er trat den Anonymen Alkoholikern bei; er hatte viel vor. Ich glaube immer noch, dass die Radikalität, mit der er seinen Lebensstil zu ändern versuchte, seinen Körper zerrüttet hat, sie machte ihn anfällig für die leichteste Unregelmäßigkeit, ob gewöhnliche Bazillen oder eine normale Dosis eines für jeden anderen alltäglichen Schmerzmittels; dass er sein System mit plötzlicher Gesundheit schockte, war das, was ihn umbrachte.

    In Detroit und noch mehr in New York hatte Lester ein Image, dem er gerecht werden musste. Manchmal versuchte er, ihm nachzukommen und dann kämpfte er wieder dagegen an. Er erfand sich immer neu. Aber die Veränderung in seiner Schreibweise zwischen Detroit und New York ist offensichtlich. In Detroit veröffentlichte er vorwiegend seine ersten Entwürfe, hämmerte den Beat seiner automatischen Inspiration; in New York begann er langsamer zu arbeiten, schrieb einen Artikel wieder und wieder, verfolgte ein Thema über das fünf- bis zehnfache seiner publizierbaren Länge hinaus, strich dann wieder oder fing von vorn an. Moralismus im besten Sinne – der Versuch zu verstehen, was wichtig ist, und dieses Verständnis anderen in einer Form mitzuteilen, die den Leser genauso fesselt wie unterhält –, der gegen Ende seiner Beschäftigung bei Creem auftauchte und in New York bei Village Voice seinen Platz fand. Zeitgleich publizierte er in obskuren Fanzines, Hochglanzmagazinen und Tageszeitungen, aber seine öffentliche Stimme blieb matt, kategorisiert; er war ein Rockkritiker, was sollte also all dieses andere Zeug, all diese Seiten über Sex, Liebe, den einfachen Mann auf der Straße, Weltanschauung, Tod, Abenteuer?

    Mit einer Plattenkritik von 750 Wörtern beauftragt, setzte er sich an die Schreibmaschine und arbeitete die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag durch, bis er Abertausende von Wörtern zusammen hatte, die er niemals wagte, seinen Redakteuren zu zeigen – von denen einige sicher dafür gekämpft hätten, eine Möglichkeit zu finden, sie zu veröffentlichen. Bei manchen Texten flatterten nur Ablehnungsschreiben von Hochglanzmagazin bis zu den Fanzines herein. Manche blieben vielleicht auch besser unveröffentlicht.

    Lester versuchte in seinen letzten Lebensjahren über praktisch alles zu schreiben. Anfang 1976 gelobte Lester in einem kämpferischen, sarkastischen, seelenentblößenden Brief an seinen damaligen Chef und Untergang, den verstorbenen Barry Kramer, Verleger von Creem, ewige Gefolgschaft und Unterwerfung dem Magazin gegenüber, das zu diesem Zeitpunkt genauso gut sein Werk, wie das eines jeden anderen war, und forderte, erbettelte geradezu über eine Länge von siebentausend Wörtern die 179,07 $, die die Zeitschrift ihm schuldete. Er redete über seine Pläne, versprach, dass seine Projekte und Ambitionen nicht eine Sekunde lang seine bezahlten Verpflichtungen – zu redigieren, Kritiken, Sonderbeiträge, Bildunterschriften zu schreiben, Leserbriefe, den Schrott ausgenommen, zu beantworten – beeinträchtigen würden, er plante die Zusammenstellung seiner Arbeiten für Creem, und dann einen »umwerfend anspruchsvollen kulturellen Erläuterungstext, der disparate Phänomene miteinander verbinden und erklären würde, darunter Disco, Snuff Movies, Roxy Music, Ben Edmonds, Elton John, S&M, Barry Lyndon, die Beliebtheit von Synthesizern und anderen elektronischen Instrumenten, die swingende Singleszene und verschiedene andere gerade angesagte Arten von depersonalisiertem Sex, das Bestreben menschlicher Wesen, sich selbst zu Maschinen zu machen, Metal Machine Music, Shampoo, The Passenger, Donald Barthelme, Pet Rocks, die unvermeidliche Übernahme der Weltherrschaft durch MOR, die Degeneration der Sprache, das Fehlen jeglichen Verständnisses für Geschichte oder Kultur, das den New York Dolls seitens der Joann-Uhelszki-Generation vorausging, die ganze Spannbreite von Selbsthilfeliteratur, -kursen und Sensibilitätstrainings, Siegen durch Einschüchterung, Brutalisierung als Unterhaltung, das veraltende Avantgardekonzept, die allmähliche Desexualisierung einer ganzen Generation zusammen mit dem Phänomen, dass Individuen permanent den Konsum von Drogen Sex vorziehen, den hirnlosen, zwanghaften Drang, die ganze Nacht durchzutanzen, der momentan durch New York fegt, eine (gerade beginnende) spontane und ungeplante Massenbewegung von menschlichen Wesen im Westen, so viele Gefühle wie nur möglich über Bord zu werfen, die Verherrlichung von Gefühllosigkeit und lähmender Stumpfheit, das mögliche Ende der Zivilisation, wie wir sie in den letzten paar Jahrtausenden kennen und gelegentlich schätzen gelernt haben, den in diesem Moment beginnenden unsichtbaren Krieg, der die Einheit unserer Kultur spalten könnte, einschließlich der Anweisungen, auf welcher Seite man sich selbst wieder finden wird (was wahrscheinlich nichts mit freier Wahl zu tun hat, da den meisten nicht klar ist, auf was sie sich eigentlich einlassen, bevor es zu spät ist), und wie man die nächste Geschäftsstelle der Fünften Kolonne ausfindig macht, deren Anführer ich zu sein hoffe.«

    Nicht dass das irgendwie auch nur die Bildunterschriften beeinträchtigen könnte. »Ich habe im Moment viel zu viel zu tun, um mit einem derartigen Projekt wirklich ernsthaft beginnen zu können – wenn ich es letzten Endes überhaupt lostreten kann. Ich bin mir auch nicht sicher, ob das Schreiben von Kritiken über die Allman Brothers die richtige Ausbildung für einen Oswald Spengler ist.«

    Im folgenden noch einige andere Bücher, die Lester zu veröffentlichen plante:

    »Psychotic Reactions and Carburetor Dung. Lester Bangs’ Greatest Hits«

    »All the Things You Could Be by Now If Iggy Pop’s Wife Was Your Mother – A Book of Jive ’n’ Verities by Lester Bangs«

    »Rock Through the Looking Glass – A Book of Fantasies«

    Eine fiktive Biographie über die Rolling Stones nach dem Vorbild von Mark Shippers Paperback Writer (auf Anfrage eines Verlegers, der aber, nachdem zweihundert Seiten fertig waren, das Interesse verlor)

    »Lost Generation – American Kids Now in Their Own Words«

    »A Reasonable Guide to Horrible Noise«

    »All My Friends Are Hermits« (erst als Sachbuch, dann als Roman)

    Ein Buch mit Phantasiegeschichten über Elvis Presley von verschiedenen Autoren

    Eine Rockversion von A. B. Spellmans Four Lives in the Bebop Business mit den Schwerpunkten Brian Eno (zweihundert Seiten fertig gestellt), Marianne Faithfull, Lydia Lunch, Screamin’ Jay Hawkins oder Robbie Robertson oder Danny Fields.

    »They Invented It (You Took It Over, or Under)«, ein Buch über die Beatles (auch genannt »The Firstest with the Mostest«)

    »Rock Gomorrah – The Scandalous Lies About the Woodstock Nation!« (in Zusammenarbeit mit Michael Ochs, fertig gestellt, nie veröffentlicht)

    Ein Buch über den Alltag von Prostituierten, ein Großteil davon fertig

    »Women on Top: Ten Post-Lib Role Models for the Eighties«

    Ein Buch über Lou Reed und The Velvet Underground

    »You can Live Like a Billionaire on No Income – I Do All the Time, and This Book Tells How«

    Schon klar, kein Mensch würde den Großteil dieser Bücher lesen wollen, und mit Sicherheit würde niemand alle lesen wollen, und wenn Lester länger gelebt hätte, hätte er auch nur ein oder zwei davon (und viele andere) geschrieben, aber eines davon wäre »All My Friends Are Hermits« gewesen, die endgültige Version des Spenglerschen Opus, das er sich in seinem letzten Jahr bei Creem ausgedacht hatte, und das wäre dann ein richtiges Buch gewesen. Dazu existieren Hunderte von Seiten, in Dutzenden verschiedenen Formen, unter vielen Titeln. Nur ein Bruchteil dessen, was er geschrieben hat, findet sich in diesem Buch wieder, nicht alles unter der jeweiligen Überschrift.

    Bei diesem Buch handelt es sich um meine Version dessen, was Lester Bangs hinterlassen hat. Es ist weder eine Zusammenfassung noch eine repräsentative Auswahl, sondern der Versuch, dem Leser eine Vorstellung von einem Mann zu vermitteln, der ein neues Weltbild schuf, dieses praktisch umsetzte, die Konsequenzen trug und versuchte, weiterzumachen. Es beinhaltet weder Lesters erstes veröffentlichtes Werk (die erwähnte MC5-Kritik) noch sein letztes (»If Oi Were a Carpenter«, Village Voice, 27. April 1982). Ebenso wenig wie seine Arbeiten für den Rolling Stone, und keine seiner Arbeiten über einige der Künstler, die für ihn Obsession, Offenbarung, Talisman waren (The Rolling Stones, Captain Beefheart, Miles Davis, Charles Mingus, die Ramones); es lässt Musiker aus, die er während der langen Trockenperiode bei Creem (Trockenperiode in der Rockmusik, nicht für Lester als Schriftsteller) als Lebenszeichen wahrnahm: Black Sabbath, Wet Willie, Roxy Music, Mott the Hoople, the New York Dolls, Patti Smith. Über Musiker, deren Arbeit er liebte und respektierte, schrieb Lester oft leidenschaftslos, passiv: er zog sich oft darauf zurück, den Text zu zitieren statt zu sagen, was er dachte, ersetzte Ideen durch Adjektive. Dieses Buch ignoriert Lesters Buch Blondie vollständig, eine geschmacklose, aufgerüschte Fanbiographie, die er 1980 in ein paar Tagen schrieb, es vernachlässigt ebenso das meiste des über sechshundertseitigen Entwurfs, den er für Rod Stewart schrieb, eine Fanbiographie, die er 1981 gemeinsam mit Paul Nelson veröffentlichte. Es beinhaltet keines seiner Hunderte von Gedichten oder Noten. Es lässt die meisten seiner drei, vier, fünf Millionen Wörter aus, die bei den Vorbereitungen für dieses Buch zusammengetragen wurden. Dieses Buch ist keine Wiedergabe dessen, was Lester Bangs schrieb; es ist letztlich mein Versuch wiederzugeben, worum es bei dem, was er schrieb, ging und welchen Wert es hatte.

    Dieses Buch war ein Gemeinschaftsprojekt. Ben Catching, Lesters Neffe (in den folgenden Seiten manchmal als solcher erwähnt), ist Lesters Erbschaftsverwalter (Lesters geliebte Mutter starb ein paar Monate vor ihm) und er machte dieses Buch erst möglich. John Morthland und Billy Altman sind die Verwalter von Lesters literarischem Nachlass; gemeinsam mit RJ Smith und Georgia Christgau arbeiteten sie Lesters Akten und Fakten durch und katalogisierten sie. John Morthland erledigte die meiste Arbeit, er legte einen Index an, ordnete Seiten aus allen Ecken von Lesters Wohnung und seinem schriftstellerischen Leben zu, er ist das Gewissen dieses Buches.

    Ed Ward und ich haben eine Woche damit verbracht, eine Truhe voller Manuskripte und Zeitungsausschnitte zu sichten, eine erste Auswahl zu treffen und mit einer vorläufigen Bearbeitung zu beginnen. Ohne seine Hilfe hätte ich den Anfang nicht geschafft. Später unterstützten mich Michael Goodwin und Joan Goodwin bei der endgültigen Auswahl. Jim Miller gab in einer schwierigen Zeit den entscheidenden Rat.

    Bill Holdship erfasste, kopierte und katalogisierte bis zur letzten Antwort an den letzten Leser alles, was Lester je für Creem geschrieben hat. Tom Carson und RJ Smith erfassten und katalogisierten Lesters über einhundert Beiträge in der Village Voice. Cynthia Rose übernahm diese Arbeit für die vielen verstreuten Beiträge im Londoner New Musical Express. Robert Hull trug zahlreiche obskure Essays und Aufzeichnungen zusammen.

    Außerdem halfen: Roger Anderson, Cathy McConnell Ardans, Adam Block, Paul Bresnick, Bart Bull, Bob Chatham, Robert Christgau, der die meisten von Lesters Arbeiten für die Village Voice redigierte, Diana Clapton, Jean-Charles Costa, Brian S. Curley, Jim DeRogatis, Michael Goldberg, James Grauerholz, Niko Hansen, Klaus Humann, Jimmy Isaacs, Lenny Kaye, Dave Laing, Gary Lucas, Cecily Marcus, Dave Marsh, der die meisten von Lesters Arbeiten für Creem redigierte und für entscheidende Unterstützung und Aufklärung sorgte, Richard Meltzer, Joyce Milman, Phil Milstein, Karen Moline, Glenn Morrow, Herve Muller, Paul Nelson, Michael Ochs, Christine Patoski, Fred »Phast Phreddie« Patterson, Abe Peck, John Peck, Frances Pelzman, Kit Rachlis, Andy Schwartz, Gene Sculatti, Bob Seger, Greg Shaw, der Lesters »James Taylor. Vom Tod gezeichnet« zu einem Zeitpunkt bearbeitete und veröffentlichte, zu dem so ein Werk für jede kommerzielle Publikation undenkbar gewesen wäre, was sich bis heute nicht geändert hat, Mark Shipper, Doug Simmons, Bill Stephen, Ariel Swartley, Ken Tucker, Steve Wasserman, Steve Weitzman und Michael Weldon.

    Ganz besonderer Dank gilt Nancy Laleau, die als Schreibkraft bei den manchmal nahezu unverständlichen Manuskripten heldenhafte Arbeit leistete, Patrick Dillon, der dasselbe mit den Maschinen geschriebenen Manuskripten tat und Robert Gottlieb, der, als man dieses Vorhaben an ihn herantrug, gerade ziemlich beschäftigt war und daher nur kurz antwortete: »Natürlich.«

    Als Schriftsteller, der oft in Hirngespinsten über seinen eigenen Tod schwelgte, stelle ich mir vor, dass alle Schriftsteller von ihrem Tod phantasieren. Ich male mir dann aus, dass sie weniger an die Lobpreisungen und das Bedauern denken, das ihrem vorzeitigen Ableben folgen würde, als ihre Waisen beklagen: all die flüchtigen Sätze, Seiten, Stücke, all die aufbewahrten Dinge, sogar nach einem obskuren System abgelegt, das kein anderer je verstehen würde. Wenn ich meine eigene Ablage betrachte, die zweifelsohne weitaus besser organisiert ist, als Lesters jemals war, erschaudere ich bei dem Gedanken an all die unkorrigierten Rezensionen, vergrabenen Malapropismen und Fehler, die dort auf jemanden warten, der versuchen könnte, etwas aus ihnen zu machen. Lester muss dieselben Gedanken gehabt haben, und all das, was ich getan habe, ist etwas anderes als das, was er getan hätte, hätte er gewusst, dass er am 30. April 1982 sterben würde.

    Was ich getan habe, ist der Versuch, die Arbeit zu finden, die sofort für sich allein steht und eine Geschichte erzählt. Man kann dieses Buch als Anthologie lesen, hin- und her- und dann wieder zurückspringen, aber für mich ist es eine Geschichte. Die Geschichte von dem Versuch eines Mannes, seinem Hass auf die Welt und seiner Liebe zu ihr gegenüber zu treten und einen Sinn in dem zu finden, was er in der Welt und in sich selbst entdeckte. Dass diese Geschichte abgeschnitten wurde, schmälert sie nicht; macht sie nicht zu einer verarmten Fabel. Dass die Geschichte abgeschnitten wurde, bedeutet, dass sie schmerzhaft ist. Während ich mich durch die geschriebenen Worte meines Freundes arbeitete, war ich so von dem Leben in dieser Arbeit gefangen, dass sein Tod für mich gar nicht real war. Während ich mich dem Ende des Buchs näherte, Formulierungen drehte und wendete und bei der Wahl zwischen dem einen oder anderen Stück schwankte, war das Bedürfnis ihn anzurufen und um Rat zu bitten, physisch. In diesen Momenten war er weniger tot als jemals zuvor und zugleich doch viel mehr, als er je sein wird.

    Berkeley, 7. Juni 1986

    Teil Eins

    Zwei Testamente

    Psychotische Reaktionen und heiße Luft

    Eine Geschichte unserer Zeit (1971)

    Astral Weeks (1979)

    Psychotische

    Reaktionen

    und heiße Luft

    Eine Geschichte unserer Zeit

    »Kommt her, meine flachsköpfigen Enkelkinder, und lasst euch von mir altem Knaben auf den Knien wiegen. Solange ihr mich noch erkennt, ihr kleinen Verrückten. Ihr wisst, die Glocke hat geschlagen, es ist an der Zeit. So verfällt mein altes Hirn ins Grübeln, ah, welche erbauliche Geschichte aus vergangenen Zeiten soll ich heute erzählen?«

    »Was sollte eigentlich die ganze Aufregung um die Yardbirds?«

    »Ah, die Yardbirds. Genau. In der Tat, das waren Zeiten. 1965, ich war ein ungestümer junger Draufgänger, gerade zum ersten Mal verliebt, und sie schob fortwährend meine Hand weg und rümpfte die Nase: ›Ich würde gerne, aber ich bin doch kein Flittchen.‹ Die Mädchen waren tatsächlich so zu meiner Zeit ...«

    »Ach, hör mit dem senilen Gewäsch auf und mach mit deiner Scheiß Altertumsforschung weiter oder wir hüpfen dir vom Knie und machen Action! Alter!«

    »Schon gut, Kinder, schon gut, bleibt nur bei mir, kein Grund zur Aufregung ... also, wie ich schon sagte, wir schrieben das glorreiche Jahr 1965 und ich verzehrte mich nach Klängen, die mein Gehirn ein wenig verzerren würden. Versteht ihr, es passierte nicht viel außer vielleicht ›I’m Henry VIII, I am‹ – nein, ich will das nicht ausführen, ich weiß, es klingt gut, aber glaubt mir ... wir steckten mitten in einer musikalischen Rezession, die damals, als es noch keine Pauschalreisen zwischen den Sonnensystemen gab, von Zeit zu Zeit einfach auftrat ... ich kann mich noch an einen weiteren äußerst traurigen Durchhänger erinnern, der bis weit in die Anfänge der Siebziger anhielt ... außer, dass dieser so lange dauerte, dass wir verdammt kurz davor waren, völlig auszutrocknen und Platten komplett zu boykottieren, bis Barky Dildo and the Bozo Huns auftauchten, um unsere Seelen zu retten ...«

    »Oh Mann, wie konntest du nur auf die Typen abfahren? Das war der reaktionärste, verkackteste Trend der ganzen Geschichte. Was ist denn so toll daran, Geige wie eine Kreissäge zu spielen und den Katzendarm hektisch kläffen zu lassen? Jammen ist klasse, aber diese Typen haben sogar im Viervierteltakt gespielt und Tonarten gewechselt! Deswegen fragen wir dich, Opa, was für eine Scheiße ist das denn?«

    »Schon gut, schon gut, ich weiß, ich schweife schon wieder ab. Ab jetzt halte ich mich ausschließlich an die nackten Tatsachen, und wenn einer von euch neunmalklugen Zwergen mich noch einmal unterbricht, klebe ich einem von euch den Mund zu.«

    »Wem denn?«

    »Zufallsprinzip, ihr Sprösse meiner Lenden, zufällig wie alles andere auch in dieser Scheiß Irrenanstalt von Welt, die ihr Typen da habt, und von der ich mich bald in Dankbarkeit verabschieden werde.«

    »Na gut, dann schramm dir doch die Fingerknöchel auf, damit du sie wieder in warmes Bier tauchen kannst, aber sag nicht, wir hätten dich nicht gewarnt. Du solltest wissen, dass du der einzige alte Sack hier bist, dessen Schrott sich Skewey, Ruey und Blooie überhaupt anhören ... und was soll diese Verabschiedungsscheiße überhaupt? Wer ist denn schon dankbar dafür, tot zu sein?«

    »Nun, tatsächlich gab es mal eine Zeit, wo eine Menge Betrogener das waren, aber das ist eine andere Geschichte. Ich beschränke mich jetzt auf die Yardbirds-Saga, anderenfalls schweifen wir noch in die Ozonschicht ab. Also hört jetzt zu und hört gut zu und wartet mit euren Fragen bis ich fertig bin.

    Wie ich bereits sagte, waren die Yardbirds einfach unglaublich. Sie kamen angestürmt und schmissen alle und jeden ganz entspannt aus der Spur. Sie waren einfach so verdammt gut, dass die Leute sie noch ein Jahrzehnt später imitierten und, wie ich hinzufügen möchte, reich dabei wurden, weil die Originalbesetzung der Genies nicht so lange zusammen geblieben war. Natürlich war keines ihrer Stiefkinder auch nur halb so genial, und im Laufe der Zeit wurden sie immer gekünstelter und gestelzter, bis 1973 eine Horde von abgemagerten Fatzkes namens Led Zeppelin ihr Abschlusskonzert gab und der Leadgitarrist von einem wütenden Strychninfreak aus dem Publikum mit einer selbst gebastelten Waffe ermordet wurde, und das in der achtundfünfzigsten Minute seines virtuosen, weltberühmten zweieinhalbstündigen Solos auf einem Basston. Dann haben sie sich den Leadsänger gegriffen, der so dermaßen auf Stechapfel war, dass er praktisch nichts mehr tun konnte, außer »Gleep gleep gug jargaroona fizzlefuck«-artige Texte zu keuchen, und ihm die Haare abgeschnitten, seine Mundharmonika zertreten, ihm bürgerliche Kleidung verpasst (ich glaube, es handelte sich um ein Paar übergroße lebenslängliche Ganzkörperkettenjeans) und ihn als Frachtgut aus der Stadt geschafft. Das letzte, was man von ihm gehört hat, war, dass er versuchte vor ein paar sentimentalen alten Kiffern »Whole Lotta Love« in irgendeinem Klub in Posemuckel zu singen. Zum Umfallen rührselig.

    Aber wisst ihr, obwohl die Yardbirds alles auf den Kopf stellten, haben sie nur ein paar Jahre existiert. Und einige der Trittbrettfahrer, die sie hatten! Mann, es hat mich schon geekelt, die Platten nur anzusehen! Als sie beispielsweise ›I’m a Man‹ rausgebracht und die Top Ten gestürmt haben, mit einer Mischung aus Bo Diddley (ah, das war der alte fette Kater, der mit diesem berühmten Shuffle Beat groß rauskam ... Ich glaube, der war schon wieder passé, bevor ihr geboren wurdet. Tja, als also das Konzept eines regelmäßigen Bassrhythmus komplett verschrottet wurde, wart ihr immer noch zu jung, um euch an den kulturellen Bürgerkrieg zu erinnern, der dann losbrach, als Jagger auf offener Straße Zagnose in einen Hinterhalt lockte und Beefheart in die Berge von Costa Rica abzischte, um sich dort zu verstecken, bis sich die Stimmung etwas abgekühlt hatte ...) und Feedback, sind allen die Wattebäusche aus den Ohren geflogen, bevor sie tot umfielen, weil dieses ganze verzerrte Elektrozeug, das euch in den Schlaf geschaukelt hat, als ihr noch in der Wiege gelegen habt, damals noch nicht gehört wurde, ein echtes Gehirnbeben. Manche Leute fanden das leicht anstößig, wie der blanke Nerv in einem Draht, der sie wie verrückt anblinkt, aber wir steilen Senkrechtstarter sind von Anfang an tierisch auf diese kulturelle Veränderung abgegangen. Wir haben nur auf jemanden gewartet, der vorbeikommt und die Weicheier platt macht, kick out the jams ... ach, diese Phrase! Tja, das ist auch so eine Geschichte. Hat einen netten messerwetzenden Klang. Ihr werdet bestimmt wieder lachen, aber wir hatten einen ziemlich kritischen Sprachstil, als ich noch ein Zwerg war, harte Riffe wie ›Right on!‹ und ›Peace, brother!‹, nicht diese einfältige telegrafische Scheiße, die bei euch banalen Bälgern heutzutage als Kommunikation durchgeht. Ich kann mich erinnern, als ich auf der High School war (ach, hab ich euch doch schon erzählt: das war das, wo sie dich hinschickten, wenn sie nicht wussten, was sie mit dir machen sollten, also wenn man schon zu groß für den Kinderbunker war, aber noch zu jung, um so zu tun, als würde man in die Männerwelt eintreten, was bedeutete, jeden Tag zur gleichen Zeit zu einem komischen Gebäude zu gehen, um dort stundenlang irgendwelche sinnlose Scheiße zu machen, damit man sich Brot kaufen konnte und alle einen respektierten), also, als ich zur High School ging, hatten wir ein paar ziemlich heftige Sprüche drauf. Wenn beispielsweise einer etwas echt Dämliches machte, hieß es immer ›Hast du Scheiße im Hirn?‹ Auch gut war, wenn man echt angepisst von jemandem war,

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